KAPITEL 4

Habende und Habenichtse der Geschichte

Unterschiedliche geographische Voraussetzungen für den Beginn der Landwirtschaft

Ein großer Teil der Menschheitsgeschichte bestand aus ungleichen Auseinandersetzungen zwischen den Habenden und den Habenichtsen: zwischen Völ­kern mit und ohne Landwirtschaft beziehungsweise zwi­schen solchen, die zu verschiedenen Zeitpunkten mit ihr begannen. Es überrascht nicht, daß der Übergang zur Landwirtschaft in weiten Teilen der Erde, in denen die Nahrungsgewinnung auch heute noch ein schwieriges oder gar unmögliches Unterfangen ist, aus ökologischen Gründen nie stattfand. So kam in der nordamerikani­schen Arktis in vorgeschichtlicher Zeit weder Ackerbau noch Viehzucht auf, und auch in der eurasischen Ark­tis bestand das einzige landwirtschaftliche Element, das sich entwickelte, in der Haltung von Rentierherden. In Wüstengebieten ohne Möglichkeit zur Bewässerung war die spontane Entstehung einer Landwirtschaft ebenfalls ausgeschlossen, wofür das australische Landesinnere und einige Gebiete des amerikanischen Westens Bei­spiele darstellen. Was nach einer Erklärung schreit, ist dagegen das Aus­bleiben der Entstehung landwirtschaftlicher Produkti­onsformen in einigen Regionen der Welt, die sich von den Umweltbedingungen her ausgezeichnet geeignet hät­ten und die heute zu den fruchtbarsten Zentren der Land­wirtschaftgehören. Derart rätselhafte Gebiete, deren Be­wohner beim Eintreffen der Europäer noch als Jäger und Sammler lebten, waren insbesondere Kalifornien und die anderen Pazifikstaaten der USA, die argentinische Pampa, der Südwesten und Südosten Australiens sowie ein Groß­teil der südafrikanischen Kapregion. Hätten wir die Welt im Jahr 4000 v. Chr. inspiziert, also Tausende von Jahren nach dem Aufkommen der Landwirtschaft an ihren älte­sten Stätten, würde uns noch mehr überraschen, daß ei­nige Gebiete, die damals keine Landwirtschaft kannten, heute zu den größten Kornkammern der Erde zählen. In diese Kategorie fallen die übrigen Gebiete der USA, Eng­land und ein großer Teil Frankreichs, Indonesien und ganz Afrika südlich des Äquators. Verfolgt man die Land­wirtschaft sodann zu ihren Anfängen zurück, sorgen die Entstehungsorte für noch mehr Verwunderung. Unter ih­nen findet man nämlich Gebiete, die heutzutage alles an­dere als Kornkammern sind, sondern eher trockene öko­logische Problemgebiete wie Irak und Iran, Mexiko, die Anden, Teile Chinas und die afrikanische Sahelzone. Wa­rum entwickelte sich die Landwirtschaft zuerst dort und erst später oder gar nicht in den fruchtbarsten Anbau­und Weidegebieten der Gegenwart?

Rätsel geben auch die geographischen Unterschiede in der Art und Weise der Entstehung der Landwirtschaft auf. An nur wenigen Orten wurde sie eigenständig aus der Taufe gehoben, indem örtlich vorkommende Pflan­zen und Tiere durch die Bewohner der jeweiligen Gebie­te domestiziert wurden. An den meisten Orten wurde sie vielmehr in Form von Nutzpflanzen und Haustieren, die anderswo domestiziert worden waren, importiert. Da sich jene Gebiete, in denen die Landwirtschaft nicht von allein entstand, als für diese bestens geeignet erwiesen, sobald domestizierte Pflanzen und Tiere eintrafen, stellt sich die Frage, warum ihre Bewohner nicht ohne fremde Hilfe Pflanzen und Tiere ihrer Umgebung domestizier­ten und zu Ackerbauern und Viehzüchtern wurden.

Und wie ist zu erklären, daß die Landwirtschaft in je­nen Regionen, in denen sie von alleine aufkam, zu so un­terschiedlichen Zeitpunkten auf den Plan trat – etwa in Ostasien Tausende von Jahren früher als im Osten der USA? Warum galt das gleiche für Regionen, in denen die Landwirtschaft in prähistorischer Zeit importiert wurde – beispielsweise in Südwesteuropa Tausende von Jahren früher als im Südwesten der USA? Und warum wieder­um übernahmen Jäger und Sammler in einigen Gebie­ten mit importierter Landwirtschaft (zum Beispiel im Südwesten der USA) Nutzpflanzen und Vieh von ihren Nachbarn, um dann selbst zur bäuerlichen Lebensweise überzugehen, während in anderen Gebieten (wie in Indo­nesien und einem großen Teil Afrikas südlich des Äqua­tors) der Import der Landwirtschaft mit dramatischen Umwälzungen verbunden war, in deren Verlauf die ur­sprüngliche Jäger- und Sammlerbevölkerung durch ge­waltsam vordringende Ackerbauern ersetzt wurde? All diese Gegensätze und Entwicklungen entschieden mit darüber, welche Völker zu den Habenichtsen und wel­che zu den Habenden der Geschichte wurden.

Bevor wir Antworten auf diese Fragen erhoffen können, muß zunächst ermittelt werden, in welchen Regionen die Landwirtschaft entstand, wann dies geschah und welches die Zeitpunkte der Domestikation der verschiedenen Kulturpflanzen und Haustiere waren. Die eindeutigsten Hinweise liefert die Analyse pflanzlicher und tierischer Überreste an archäologischen Fundstätten. Die meisten domestizierten Pflanzen- und Tierarten unterscheiden sich morphologisch von ihren wildlebenden Vorfahren. Beispiele sind die kleinere Gestalt domestizierter Rin­der und Schafe, die größere Gestalt domestizierter Hüh­ner und Äpfel, die dünneren und glatteren Samenhül­len domestizierter Erbsen und die korkenzieher- statt krummsäbelartig geformten Hörner domestizierter Zie­gen. Überreste domestizierter Pflanzen und Tiere an da­tierten arch äologischen Fundstätten sind somit als sol­che erkennbar und weisen daraufhin, daß am jeweili­gen Ort und zum jeweiligen Zeitpunkt Landwirtschaft getrieben wurde. Werden dagegen ausschließlich Über­reste von Pflanzen und Tieren wilder Arten gefunden, spricht das dafür, daß es sich um eine Lagerstätte von Jä­gern und Sammlern handelte. Natürlich hörten – insbe­sondere die frühesten – Ackerbauern nicht schlagartig auf, Wildpflanzen zu sammeln und auf die Jagd zu ge­hen, was erklärt, daß an ihren Wohnstätten häufig Nah­rungsreste sowohl von wilden als auch von domestizier­ten Arten gefunden wurden.

Das Alter von Nahrungsresten kann mit Hilfe der Ra­diokarbon-Datierung bestimmt werden. Diese Methode beruht auf der langsamen Umwandlung des radioakti­ven Kohlenstoffisotops C 14, das in sehr geringen Men­gen im natürlichen Kohlenstoff, dem allgegenwärtigen Baustein des Lebens, vorkommt, in das nichtradioakti­ve Stickstoffisotop N 14. Kohlenstoff 14 wird in der At­mosphäre ständig durch kosmische Strahlung gebildet. Pflanzen nehmen aus der Luft den Kohlenstoff auf, in dem Kohlenstoff 14 in einem bekannten und in etwa konstanten Verhältnis zu dem vorherrschenden Kohlen­stoffisotop C 12 (etwa eins zu einer Million) enthalten ist. Über die Nahrungskette dient der pflanzliche Koh­lenstoff dem Aufbau der Körper pflanzenfressender Tie­re und dann dem Aufbau der Körper von Fleischfres­sern, die sich von Pflanzenfressern ernähren. Stirbt die Pflanze beziehungsweise das Tier, zerfällt alle 5700 Jahre die Hälfte des enthaltenen Kohlenstoff 14, bis der C–14-Gehalt nach etwa 40 000 Jahren extrem niedrig und nur noch schwer zu messen oder von Verunreinigungen mit kleineren Stoffmengen jüngeren Datums, die ebenfalls C 14 enthalten, zu unterscheiden ist. So läßt sich das Al­ter von Material aus einer archäologischen Fundstätte durch Berechnungen ermitteln, die auf dem Verhältnis von Kohlenstoff 14 zu Kohlenstoff 12 basieren.

Die Radiokarbon-Datierung ist mit diversen techni­schen Problemen behaftet. Eins besteht darin, daß bis in die achtziger Jahre hinein zur Durchführung der Analy­se relativ große Mengen Kohlenstoff (mehrere Gramm) benötigt wurden, also viel mehr, als in kleinen Samen­körnern oder Knochen enthalten ist. Deshalb mußte oft behelfsweise Material datiert werden, das am gleichen Ort in unmittelbarer Nähe gefunden wurde und bei dem man einen »Zusammenhang« mit den Nahrungs­resten vermutete – das heißt, daß es zur gleichen Zeit von den gleichen Menschen, von denen auch die Nah­rung stammte, hinterlassen worden war. Ein typisches Beispiel für eine solche Hinterlassenschaft wäre Holz­kohle von Feuern.

Nun gleichen archäologische Fundstätten aber nicht immer fein säuberlich verschlossenen Zeitkapseln, de­ren gesamter Inhalt jeweils an einem einzigen Tag de­poniert wurde. Material aus verschiedenen Zeiträumen kann durch wühlende Würmer, Nagetiere und ande­res Getier vermischt werden. Holzkohlereste von einem Feuer landen auf diese Weise nicht selten direkt neben den Überresten von Pflanzen und Tieren, die Tausen­de von Jahren früher oder später starben und verspeist wurden. In der Archäologie wird dieses Problem heu­te zunehmend mit Hilfe der sogenannten Akzelerator-Massenspektrometrie umgangen, die es erlaubt, auch winzige Stoffmengen mit der Radiokarbon-Methode zu datieren. Mit diesem Verfahren können auch einzelne Samenkörner, kleine Knochen oder andere Nahrungsre­ste direkt datiert werden. In einigen Fällen wurden gro­ße Unterschiede zwischen jüngeren Radiokarbon-Datie­rungen mit Hilfe der neuen direkten Methoden (die wie­derum mit eigenen Problemen behaftet sind) und den älteren indirekten Methoden festgestellt. Die für uns vielleicht wichtigste der noch ungelösten Kontroversen betrifft die Anfänge der Landwirtschaft in Nord- und Südamerika. Während dafür mit den indirekten Metho­den in den sechziger und siebziger Jahren Zeitpunkte bis 7000 v. Chr. ermittelt worden waren, kommen jün­gere Datierungen auf höchstens 3500 v. Chr.

Ein anderes Problem der Radiokarbon-Datierung, das ich hier ansprechen möchte, hängt damit zusammen, daß das Verhältnis von Kohlenstoff 14 zu Kohlenstoff 12 in der Atmosphäre in Wirklichkeit nicht völlig kon­stant ist, sondern im Laufe der Zeit leichten Schwan­kungen unterliegt, so daß Radiokarbon-Datierungen, die von einer konstanten Relation ausgehen, mit klei­nen systematischen Fehlern behaftet sind. Welche Grö­ßenordnung dieser Fehler hat, läßt sich prinzipiell für jeden Zeitpunkt der Vergangenheit anhand der Jahres­ringe sehr alter Bäume bestimmen, da jeder Ring ei­nem absoluten Kalenderjahr zugeordnet werden kann, so daß dann eine Kohlenstoffprobe aus Holz, das auf diese Weise datiert wurde, auf das in ihr vorhandene Verhältnis von Kohlenstoff 14 zu Kohlenstoff 12 analy­siert werden kann. Auf diese Weise können Radiokar­bon-Datierungen unter Berücksichtigung von Schwan­kungen in der Zusammensetzung des atmosphärischen Kohlenstoffs »kalibriert« werden. Ein solches Verfahren ergibt für Material mit einem scheinbaren (unkalibrier­ten) Entstehungsdatum zwischen etwa 1000 und 6000 v. Chr. eine um einige Jahrhunderte bis tausend Jahre ältere tatsächliche (kalibrierte) Datierung. Ältere Pro­ben werden seit kurzem mit Hilfe eines alternativen Ver­fahrens kalibriert, das auf einem anderen radioaktiven Zerfallsprozeß beruht und für Proben mit einer schein­baren Datierung auf etwa 9000 v. Chr. eine tatsächliche Datierung auf etwa 11 000 v. Chr. ergibt.

Archäologen unterscheiden in englischsprachigen Pu­blikationen oft zwischen kalibrierten und unkalibrierten Daten, indem sie erstere durch Groß- und letztere durch Kleinschreibung markieren, also zum Beispiel 3000 B. C. oder 3000 b. c. (v. Chr.). Allerdings ist die Fachlitera­tur in dieser Hinsicht widersprüchlich, da in vielen Bü­chern und Aufsätzen unkalibrierte Daten mit »B. C.« be­zeichnet werden ohne einen Hinweis, daß diese Daten in Wirklichkeit unkalibriert sind. Bei den Daten, die ich in diesem Buch für Ereignisse innerhalb der letzten 15 000 Jahre angebe, handelt es sich durchgehend um kalibrier­te Daten. Das erklärt vielleicht einige der Unterschiede, auf die der eine oder andere Leser beim Vergleichen der Daten, die ich für die Anfänge der Landwirtschaft an­gebe, mit denen in einigen Standard-Nachschlagewer­ken stoßen mag.

Sind Überreste domestizierter Pflanzen oder Tiere einmal erkannt und datiert, stellt sich als nächstes die Frage, ob die Domestikation tatsächlich in der Nähe der Fundstätte oder in Wirklichkeit an einem ganz anderen Ort erfolgte, um sich von dort auszubreiten. Ein Ansatz zur Beantwortung dieser Frage ist die Untersuchung der geographischen Verbreitung der wildlebenden Vorfah­ren der betreffenden Kulturpflanzen oder Haustiere. Die­ser Ansatz legt den Schluß nahe, daß die Domestikation dort erfolgt sein muß, wo die wilden Vorfahren heimisch sind. So werden Kichererbsen von Kleinbauern im Mittel­meerraum, in Äthiopien und weiter östlich bis nach Indi­en angebaut, wobei auf den indischen Subkontinent heu­te 80 Prozent der Weltproduktion dieser Frucht entfallen. Man könnte daraus den irrtümlichen Schluß ziehen, daß die Kichererbse wohl in Indien domestiziert wurde. Nun kommen aber die wildwachsenden Vorfahren der Ki­chererbse nirgendwo außer im Südosten der Türkei vor. Die Interpretation, daß Kichererbsen tatsächlich dort do­mestiziert wurden, wird noch gestützt durch die Tatsa­che, daß die ältesten Funde möglicherweise domestizier­ter Kichererbsen aus neolithischen Ausgrabungsstätten im Südosten der Türkei und im benachbarten Syrien aus der Zeit um 8000 v. Chr. stammen, während die Kicher­erbse in Indien erst mehr als 5000 Jahre später archäo­logisch in Erscheinung trat.

Bei einer zweiten Methode zur Ermittlung des Domestikations gebiets von Pflanzen­oder Tierarten werden die Zeitpunkte, an denen die domestizierte Form an verschiedenen Orten zum erstenmal auftrat, in eine Karte eingezeichnet. Der jeweils früheste Ort kommt da­bei als Stätte der ursprünglichen Domestikation in Be­tracht – vor allem, wenn die wilden Ahnen dort eben­falls vorkamen und die Daten des ersten Auftretens an anderen Orten mit zunehmender Entfernung vom mut­maßlichen Ort der Erstdomestikation immer jünger wer­den, was auf einen entsprechenden Ausbreitungsverlauf hindeutet. Zum Beispiel tauchte Emmerweizen erstmals um 8500 v. Chr. im Bereich des Fruchtbaren Halbmonds auf. Bald darauf breitete sich die Pflanze immer weiter nach Westen aus, bis sie um 6500 v. Chr. Griechenland und um 5000 v. Chr. das Gebiet des heutigen Deutsch­land erreichte. Diese Daten lassen darauf schließen, daß Emmerweizen in Vorderasien domestiziert wurde, wo­für auch spricht, daß wilder Emmer heute nur in dem Gebiet zwischen Israel, dem westlichen Iran und der Türkei vorkommt.

Kompliziert wird es jedoch, wie wir sehen werden, in vielen Fällen, in denen die gleichen Pflanzen­oder Tierarten an verschiedenen Orten unabhängig vonein­ander domestiziert wurden. Entdeckt werden derarti­ge Fälle oft anhand von morphologischen, genetischen oder chromosomalen Unterschieden zwischen Vertre­tern der gleichen Kulturpflanzen oder Haustiere in ver­schiedenen Gebieten. So besitzt beispielsweise das in­dische Zeburind im Unterschied zu den Rinderrassen des westlichen Eurasien einen Höcker. Erbgutanalysen zeigen, daß sich der gemeinsame Stammbaum der heu­tigen Rinderrassen Indiens und Westeurasiens bereits vor Hunderttausenden von Jahren gabelte, also lange bevor die Domestikation von Tieren irgendwo auf der Welt begann. Das bedeutet aber, daß Rinder in Indi­en und Westeurasien innerhalb der letzten 10 000 Jah­re unabhängig voneinander aus wilden indischen und westeurasischen Rinderrassen, die vor Hunderttausen­den von Jahren den gemeinsamen Stammbaum verlie­ßen, domestiziert wurden.

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Abbildung 4.1. Unabhängige Entstehungszentren der Land­wirtschaft. Bei den mit Fragezeichen markierten Regionen besteht Ungewißheit, ob die Landwirtschaft tatsächlich unbeein­flußt von anderen Zentren entstand beziehungsweise (im Fall Neuguineas) welches die ersten Kulturpflanzen waren.

Kommen wir nun zurück auf die bereits erwähnten Wi­dersprüche im Zusammenhang mit der Entstehung der Landwirtschaft. Wo, wann und wie entwickelte sie sich in verschiedenen Teilen der Erde?

Der eine Extremfall sind Gebiete, in denen die Land­wirtschaft völlig unabhängig entstand und wo etliche heimische Pflanzen (und in manchen Fällen auch Tiere) domestiziert wurden, lange bevor Kulturpflanzen oder Haustiere aus anderen Regionen hinzukamen. Es gibt nur fünf solcher Gebiete, für die nach heutigem For­schungsstand überzeugende, detaillierte Anhaltspunk­te vorliegen: Vorderasien, auch bekannt als Naher Osten oder Fruchtbarer Halbmond, China, Mesoamerika (Zen­tral- und Südmexiko mit südlich angrenzenden Regio­nen), die südamerikanischen Anden und eventuell auch das benachbarte Amazonasbecken sowie der Osten der heutigen USA (Abbildung 4.1). Einige oder vielleicht auch alle diese Gebiete umfaßten möglicherweise meh­rere benachbarte Zentren, in denen die Landwirtschaft mehr oder weniger unabhängig erfunden wurde, wie beispielsweise im Tal des Gelben Flusses in Nordchina und im Jangtsetal in Südchina.

Neben den fünf genannten Gebieten, in denen die Landwirtschaft definitiv neu entstand, sind vier weite­re Gebiete – die afrikanische Sahelzone, das tropische Westafrika, Äthiopien und Neuguinea – ebenfalls Kan­didaten für diese Ehrung. Jedoch gibt es bei jedem von ihnen Zweifel. Während unumstritten ist, daß in der Sa­helzone südlich der Sahara heimische Wildpflanzen do­mestiziert wurden, könnte die Viehzucht dort älter sein als die Landwirtschaft, wobei nicht sicher ist, ob es sich um eigenständig domestizierte Sahel-Rinder oder nicht doch um Rinder aus Vorderasien handelte, deren An­kunft den Anstoß zur Domestikation örtlicher Pflanzen gab. Ungewiß bleibt auch, ob das Eintreffen dieser Sa­hel-Pflanzen Auslöser der unbestrittenen Domestikation heimischer Wildpflanzen im tropischen Westafrika war und ob Kulturpflanzen aus Vorderasien auch die Dome­stikation heimischer Wildpflanzen in Äthiopien in Gang setzten. Für Neuguinea lieferten archäologische Unter­suchungen Belege für die Existenz der Landwirtschaft, lange bevor sie in benachbarten Regionen Einzug hielt; es steht allerdings noch nicht eindeutig fest, welche Kul­turpflanzen angebaut wurden.

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Tabelle 4.1. Beispiele von in verschiedenen Regionen domesti­zierten Arten

Tabelle 4.1 gibt für diese und andere Gebiete mit lo­kaler Domestikation einen Überblick über die bekann­testen Kulturpflanzen und Haustiere samt den ältesten bekannten Zeitpunkten der Domestikation. Unter den neun Kandidaten für eine unabhängige Evolution der Landwirtschaft steht der Fruchtbare Halbmond in Vor­derasien mit den ältesten definitiv bekannten Zeitpunk­ten der Domestikation von Pflanzen (rund 8500 v. Chr.) und Tieren (rund 8000 v. Chr.) an der Spitze. Für diese Region liegen auch mit Abstand die meisten präzisen Ra­diokarbon-Datierungen für die Anfänge der Landwirt­schaft vor. Die Datierungen für China sind fast genauso alt, während die für den Osten der heutigen USA eindeu­tig etwa 6000 Jahre jünger sind. Bei den sechs anderen Kandidaten stellen die ältesten vorliegenden Datierun­gen, die allgemein anerkannt werden, keine Konkurrenz für Vorderasien dar, aber es wurden auch noch zu we­nige Fundstätten in diesen Regionen zuverlässig datiert, um sichergehen zu können, daß sie tatsächlich sehr viel jünger sind als die in Vorderasien, und wenn ja, wieviel jünger.

Die nächste Gruppe von Regionen umfaßt solche, in denen wenigstens einige örtliche Pflanzen oder Tiere domestiziert wurden, aber deren Landwirtschaft haupt­sächlich auf Pflanzen und Tieren fußte, deren Domesti­kation woanders erfolgt war. Jene Importe waren sozu­sagen die »Gründer« einer örtlichen Landwirtschaft. Mit ihrer Ankunft wurden die örtlichen Bewohner in die Lage versetzt, seßhaft zu werden, was wiederum die Wahrscheinlichkeit erhöhte, daß sich örtliche Nutz­pflanzen aus Wildformen entwickelten, die gesammelt, heimgebracht und zunächst zufällig und erst im Laufe der Zeit planvoll ausgesät wurden.

In drei oder vier dieser Regionen kam das »Gründer­paket« aus Vorderasien. Dies trifft zum Beispiel auf West­und Mitteleuropa zu, wo die Landwirtschaft mit der An­kunft von Kulturpflanzen und Haustieren aus dem Na­hen Osten zwischen 6000 und 3500 v. Chr. Einzug hielt; mindestens eine Pflanze (Mohn, daneben wahrschein­lich auch Hafer und einige andere) wurde dort jedoch örtlich domestiziert. Wilder Mohn kommt nur in den Küstengebieten des westlichen Mittelmeerraumes vor. In Ausgrabungsstätten der ältesten bäuerlichen Siedlun­gen in Osteuropa und Vorderasien wurden keine Mohn­samen gefunden; sie tauchten erstmals in den ältesten bäuerlichen Siedlungen Westeuropas auf. Im Gegensatz dazu fehlten die Wildvorfahren der meisten vorderasia­tischen Kulturpflanzen und Tiere in Westeuropa. Daran wird erkennbar, daß sich die Landwirtschaft in Westeu­ropa offenbar nicht eigenständig entwickelte. Sie wur­de vielmehr durch die Ankunft domestizierter Pflanzen und Tiere aus Vorderasien in Gang gesetzt. Die darauf­hin in Europa entstehenden bäuerlichen Gesellschaften domestizierten den Mohn, der sich in der Folge als Kul­turpflanze nach Osten ausbreitete.

Ein weiteres Gebiet, in dem die Domestikation offen­bar nach Ankunft von »Gründerpflanzen« aus Vorderasi­en begann, war das Industal des indischen Subkontinents.

Dort bauten die ältesten bäuerlichen Gemeinschaften im 7. Jahrtausend v. Chr. Weizen, Gerste und andere zuvor im Bereich des Fruchtbaren Halbmonds domestizierte Pflanzen an, die offenbar über Persien den Weg ins In­dustal gefunden hatten. Erst später tauchten in den Dör­fern des Industals domestizierte Pflanzen und Tiere auf, die, wie Buckelrinder und Sesam, von heimischen Ar­ten des indischen Subkontinents abstammten. Auch in Ägypten begann die Landwirtschaft im 6. Jahrtausend v. Chr. mit der Ankunft von Kulturpflanzen aus Vor­derasien. Später domestizierten die Ägypter dann den Maulbeerfeigenbaum und die Erdmandel.

Nach dem gleichen Muster verlief die Entwicklung vielleicht auch in Äthiopien, wo Weizen, Gerste und an­dere Kulturpflanzen aus Vorderasien seit Jahrtausenden angebaut werden. Die Äthiopier domestizierten zahlrei­che örtliche Wildpflanzen, deren heutige Varianten im wesentlichen immer noch auf Äthiopien beschränkt sind; eine aber, die Kaffeebohne, trat einen Siegeszug um den Erdball an. Noch nicht bekannt ist, ob die Äthiopier ihre heimischen Gewächse vor oder erst nach Ankunft des »Gründerpakets« aus Vorderasien anbauten.

In diesen und anderen Regionen, wo die Entstehung der Landwirtschaft von der Ankunft von Kulturpflan­zen aus anderen Gebieten abhing, stellt sich die Frage, ob die jeweilige lokale Jäger- und Sammlerbevölkerung die »Gründerpflanzen« von benachbarten bäuerlichen Völkern übernahm und auf diese Weise selbst bäuerlich wurde oder ob das »Gründerpaket« von eindringenden Bauernvölkern mitgebracht wurde, die durch seinen Be­sitz in der Lage waren, sich schneller zu vermehren als die örtlichen Jäger und Sammler, und diese dann töte­ten, vertrieben oder zur Minderheit machten.

In Ägypten war wahrscheinlich ersteres der Fall: Ört­liche Jäger und Sammler ergänzten ihren Speiseplan, auf dem zuvor nur Wildpflanzen und -tiere gestanden hat­ten, um die aus Vorderasien importierten Kulturpflanzen und Haustiere und führten Ackerbau- und Viehzucht­techniken ein, um dann nach und nach auf wildwachsen­de Nahrung zu verzichten. In Ägypten kam demnach die Landwirtschaft in Gestalt fremder Pflanzen und Tiere auf, nicht aber in Gestalt fremder Völker. Ähnlich könn­te es an der europäischen Atlantikküste gewesen sein, wo örtliche Jäger und Sammler offenbar im Laufe vie­ler Jahrhunderte anfingen, Schafe zu halten und Getrei­de aus Vorderasien anzubauen. In der südafrikanischen Kapregion wurden die Jäger und Sammler vom Volk der Khoi zu Viehzüchtern (aber nicht zu Bauern), indem sie Schafe und Kühe von weiter nördlich lebenden Völkern (und letztendlich aus Vorderasien) übernahmen. Ähnlich wurden indianische Jäger und Sammler im Südwesten der heutigen USA nach und nach zu Bauern, nachdem sie in den Besitz von Kulturpflanzen aus Mexiko gelangt wa­ren. Für diese vier Regionen gibt es keine oder nur weni­ge Hinweise auf eine Domestikation heimischer Pflanzen und Tiere in der Entstehungsphase der Landwirtschaft; für die Verdrängung einer Bevölkerung durch eine ande­re spricht allerdings ebenfalls nichts oder nur wenig.

Der entgegengesetzte Extremfall sind Regionen, bei denen wir sicher sein können, daß die Landwirtschaft mit der Ankunft von Angehörigen fremder Völker, die Nutzpflanzen und Haustiere mitbrachten, abrupt in Er­scheinung trat. Unsere Sicherheit rührt daher, daß es sich um Ereignisse der jüngeren Geschichte handelt und die Ankömmlinge Europäer waren, die in zahllosen Büchern festhielten, was geschah. Zu den Schauplätzen zählten Kalifornien, der pazifische Nordwesten Nordamerikas, die argentinische Pampa, Australien und Sibirien. Noch vor wenigen Jahrhunderten lebten dort ausschließlich Jä­ger und Sammler, genauer gesagt: Indianer in den ersten drei genannten Regionen und australische Aborigines beziehungsweise Sibirjaken in den beiden letztgenann­ten. Die Urbevölkerungen wurden von einwandernden europäischen Ackerbauern und Viehzüchtern, die eige­ne Kulturpflanzen mitbrachten und in ihrer neuen Hei­mat keine lokalen Arten domestizierten (mit Ausnah­me der Macadamianuß in Australien), umgebracht, mit Krankheiten angesteckt, vertrieben oder an den Rand gedrängt. In der südafrikanischen Kapregion fanden die anrückenden Europäer nicht nur Jäger und Sammler vom Volk der Khoi vor, sondern auch Khoi-Viehzüchter, die bereits domestizierte Tiere, jedoch keine Nutzpflan­zen besaßen. Das Resultat war, wie schon so oft zuvor, der Beginn der Landwirtschaft auf der Basis importier­ter Pflanzen ohne Domestikation heimischer Arten und unter massiver Verdrängung einer Bevölkerungsgruppe durch eine andere.

Das gleiche Schema eines abrupten Beginns der Land­wirtschaft, ausgelöst durch das Eintreffen von Kultur­pflanzen und Haustieren fremder Herkunft und verbun­den mit einer ebenso abrupten und massiven Bevölke­rungsverdrängung, scheint sich in prähistorischer Zeit vielerorts wiederholt zu haben. In Ermangelung schrift­licher Aufzeichnungen sind wir bei der Spurensuche auf archäologische und linguistische Indizien angewiesen. Die am besten belegten Fälle sind jene, bei denen zweifels­frei feststeht, daß es zu einer Bevölkerungsverdrängung kam, da die Neuankömmlinge, die im Besitz der Landwirtschaftwaren, einen deutlich anderen Knochenbau hatten als die ihnen unterlegenen Jäger und Sammler und sie neben Kulturpflanzen und Haustieren auch die Töpferei mitbrachten. In späteren Kapiteln werde ich auf zwei besonders deutliche Beispiele für solche Gescheh­nisse eingehen: die austronesische Expansion von Süd­china zu den Philippinen und nach Indonesien (Kapitel 16) und die Ausbreitung der Bantu-Völker über die Äqua­torzone hinaus bis ins südliche Afrika (Kapitel 18).

Für Südost- und Mitteleuropa ergibt sich ein ähnliches Bild einer plötzlich auftauchenden Landwirtschaft (ba­sierend auf Kulturpflanzen und Haustieren aus Vordera­sien) und Töpferei. Im Zuge dieser Entwicklung kam es wahrscheinlich auch dort, wo heute Griechenland und Deutschland liegen, zur Verdrängung von Jägern und Sammlern durch bäuerliche Zuwanderer – ganz ähn­lich wie auf den Philippinen, in Indonesien und Äqua­torialafrika, wo ebenfalls Alt- durch Jungvölker ersetzt wurden. Die Skelettunterschiede zwischen den frühen Jägern und Sammlern und den Bauern, die an ihre Stel­le traten, sind in Europa jedoch weniger ausgeprägt als auf den Philippinen, in Indonesien und Äquatorialafri­ka, so daß in Europa weniger für einen Prozeß der Be­völkerungsverdrängung spricht.

Wir können zusammenfassen, daß die Landwirtschafteigenständig und zu sehr unterschiedlichen Zeitpunk­ten in nur wenigen Gebieten der Welt entstand. Von diesen Kerngebieten übernahmen Jäger und Samm­ler in einigen benachbarten Regionen landwirtschaftli­che Methoden, während die Bewohner anderer angren­zender Regionen durch eindringende Ackerbauern ver­drängt wurden – wiederum zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten. Weiter haben wir festgestellt, daß man­che Völker in Gebieten, deren Umweltbedingungen gute Voraussetzungen für Ackerbau und Viehzucht bo­ten, in prähistorischer Zeit weder selbst die Landwirt­schaft erfanden noch von außen importierten, sondern die Jagd- und Sammelwirtschaft beibehielten, bis die moderne Welt schließlich über sie hereinbrach. Die Be­wohner von Gebieten, die einen Vorsprung in der Land­wirtschaft besaßen, erlangten zugleich auch einen Vor­sprung auf dem Weg zur modernen technischen Zivi­lisation. Das bekannte Resultat ist eine lange Kette von Kollisionen zwischen den Habenden und den Habenichtsen der Geschichte.

Wie erklären sich diese geographischen Unterschiede im Zeitpunkt und in der Art und Weise, wie die Land­wirtschaft auf den Plan trat? Diese Frage, die zu den wichtigsten der Vorgeschichte zählt, ist Gegenstand der nächsten fünf Kapitel.