KAPITEL 11

Blaupausen und Lehnlettern

Die Evolution der Schrift

Die meisten Autoren des 19. Jahrhunderts sahen in der Geschichte einen Prozeß, der von der Barbarei zur Zivilisation hinführte. Als Meilensteine des Über­gangs galten das Aufkommen der Landwirtschaft, der Metallverarbeitung, komplizierter Techniken, zentra­listischer Herrschaftsformen und der Schrift. Hiervon war die Schrift traditionell auf den geographisch klein­sten Raum beschränkt: Vor der Expansion des Islam und Europas seit Beginn des Kolonialzeitalters fehlte sie in Australien, in der pazifischen Inselwelt, in Afrika südlich des Äquators und in der gesamten Neuen Welt mit Ausnahme eines kleinen Teils von Mesoamerika. Als Folge dieser begrenzten Verbreitung sahen Völker, die sich selbst als zivilisiert priesen, in der Schrift stets eines der schärfsten Unterscheidungsmerkmale zwi­schen sich und den »Barbaren« oder »Wilden«.

Wissen ist Macht, wie ein altes Sprichwort sagt. Mo­dernen Gesellschaften verleiht die Schrift Macht, indem sie ihnen die Möglichkeit gibt, Wissen mit weitaus grö­ßerer Genauigkeit und in viel größerer Quantität und Detailliertheit weiterzugeben, auch solches aus fernen Gegenden und ferner Vergangenheit. Zwar gelang es ei­nigen Völkern (insbesondere den Inkas), große Reiche auch ohne Schrift zu verwalten, und »zivilisierte« Völ­ker trugen keineswegs immer den Sieg über »Barbaren« davon, wie die römischen Heere erfahren mußten, als sie auf die Hunnen trafen. Die Eroberung Nord- und Südamerikas, Sibiriens und Australiens durch Europä­er verkörpert jedoch den typischen Ausgang von Be­gegnungen zwischen Schriftbesitzern und Schriftlosen in der jüngeren Vergangenheit.

Neben Waffen, Krankheitserregern und politischem Zentralismus spielte die Schrift bei Eroberungszügen eine wichtige Rolle. Die Befehle von Monarchen und Kauf­leuten, die Flotten aufstellten und in die Ferne schick­ten, ergingen in schriftlicher Form. Die Schiffe segelten nach Land- und Seekarten sowie Aufzeichnungen vor­heriger Expeditionen. Durch Schilderung der Reichtü­mer und fruchtbaren Länder, die darauf warteten, von den Eroberern in Besitz genommen zu werden, gaben Berichte früherer Expeditionen den Anstoß zu weiteren Fahrten. Die Aufzeichnungen von diesen Reisen vermit­telten späteren Expeditionen wertvolle Informationen über die zu erwartenden Bedingungen und halfen bei der Vorbereitung. Schließlich wurden auch die so ent­stehenden Reiche mit Hilfe der Schrift verwaltet. Zwar konnten alle genannten Arten von Informationen auch in schriftlosen Gesellschaften auf verschiedene andere Weise übermittelt werden, doch ermöglichte die Schrift eine einfachere, detailliertere und genauere Wiederga­be mit größerer Überzeugungskraft.

Wie kam es angesichts dieser überragenden Vorteile, daß nur einige Völker die Schrift erfanden und alle an­deren nicht? Warum wurde beispielsweise von keiner einzigen traditionellen Jäger- und Sammlerkultur die Schrift erfunden oder übernommen? Warum entstand die Schrift im minoischen Kreta, aber nicht im poly­nesischen Tonga? Wie viele Male wurde die Schrift in der Menschheitsgeschichte unabhängig entwickelt, un­ter welchen Umständen und zu welchem Zweck? Wa­rum entstand sie in manchen ihrer Ursprungsgebiete sehr viel früher als in anderen? Heute können zum Bei­spiel fast alle Japaner und Skandinavier lesen und schrei­ben, die meisten Iraker jedoch nicht: Wie kam es, daß die Schrift im Irak dennoch fast 4000 Jahre früher er­funden wurde?

Auch die Ausbreitung der Schrift von ihren Ursprungs­stätten wirft eine Reihe wichtiger Fragen auf: Warum breitete sie sich beispielsweise vom Bereich des Fruchtba­ren Halbmonds nach Äthiopien und Ägypten aus, nicht aber von Mexiko zu den Anden? Erfolgte die Ausbrei­tung von Schriftsystemen durch einfache Nachahmung, oder ließen sich benachbarte Völker durch vorhandene Systeme lediglich inspirieren, um dann eigene zu erfin­den? Wenn ein Schriftsystem für eine Sprache gut ge­eignet ist, wie geht man dann vor, um eins für eine an­dere Sprache zu entwickeln?

Ähnliche Fragen stellen sich, wenn man versucht, Ur­sprung und Ausbreitung zahlreicher anderer Aspekte der menschlichen Kultur zu verstehen – wie etwa Technik, Religion und Landwirtschaft. Dem an solchen Fragen interessierten Historiker bietet die Schrift den Vorteil, daß sich ihre Herkunft und Ausbreitung oft anhand der schriftlichen Aufzeichnungen selbst präzise rekonstruie­ren läßt. Wir werden deshalb der Entstehung und Ent­wicklung der Schrift nicht nur wegen ihrer eigenen Be­deutung nachgehen, sondern auch wegen der allgemei­nen kulturgeschichtlichen Erkenntnisse, die sich daraus gewinnen lassen.

Die drei Grundstrategien, auf denen Schriftsysteme basieren, unterscheiden sich nach der Größe der sprach­lichen Einheiten, die von einzelnen Zeichen dargestellt werden: Laute, Silben oder Wörter. Am stärksten ver­breitet sind heute Alphabetschriften, die im Idealfall für jede kleinste sprachliche Einheit (Phonem) ein eigenes Zeichen (Buchstabe) besitzen. In Wirklichkeit umfassen die meisten Alphabete jedoch nur 20 bis 30 Buchstaben, denen in den meisten Sprachen eine größere Zahl von Phonemen gegenübersteht. So werden die rund 40 Pho­neme der englischen Sprache von lediglich 26 Buchsta­ben dargestellt. Das bedeutet, daß die meisten Sprachen mit Alphabetschriften gezwungen sind, dem gleichen Buchstaben verschiedene Phoneme zuzuordnen und ei­nige Phoneme durch Buchstabenkombinationen darzu­stellen, wie beispielsweise sh und th im Englischen (im griechischen Alphabet gibt es für jeden der beiden Lau­te einen eigenen Buchstaben).

Die zweite Strategie verwendet statt dessen sogenann­te Logogramme, das heißt Zeichen, die ein ganzes Wort darstellen. Diese Funktion haben viele chinesische Zei­chen und auch die in der japanischen Schrift dominie­renden »Kanjis«. Vor dem Siegeszug der Alphabetschrif­ten in vielen Teilen der Welt waren Schriftsysteme auf der Basis von Logogrammen am weitesten verbreitet. Hierzu zählten zum Beispiel die ägyptischen Hierogly­phen, die sumerische Keilschrift und die Schriftzeichen der Mayas.

Bei der dritten Strategie, die den meisten Lesern am wenigsten vertraut sein dürfte, steht ein Zeichen jeweils für eine Silbe. In den bekannten Silbenschriften gibt es allerdings nur Zeichen für Silben, die aus einem Konso­nanten und einem nachfolgenden Vokal bestehen (wie in Ka­ka­du), während andere Silbentypen unter Zuhil­fenahme verschiedener Tricks dargestellt werden. Ein Beispiel für Silbenschriften, die in der Antike weit ver­breitet waren, ist die Linear-B-Schrift aus dem mykeni­schen Griechenland. Aber auch heute noch gibt es Silben­schriften. Am bekanntesten sind wohl die Kana-Silben­schriften, die in Japan unter anderem für Telegramme, Bankauszüge und Blindentexte verwendet werden.

Ich habe bewußt von drei Strategien und nicht Schrift­systemen gesprochen, da keines der heutigen Schriftsy­steme eine dieser Strategien in Reinkultur verwirklicht. Weder ist die chinesische Schrift rein logographisch noch die englische rein alphabetisch. Wie alle Alphabetschrif­ten weist auch das Englische zahlreiche Logogramme auf, wie beispielsweise $, % und +, also arbiträre Zei­chen, die jeweils ein ganzes Wort darstellen und nicht aus phonetischen Elementen zusammengesetzt sind. Die »syllabische« Linear-B-Schrift enthielt eine große Zahl von Logogrammen, während die »logographische« Hie­roglyphenschrift der Ägypter eine Vielzahl von Silben­zeichen sowie praktisch ein komplettes Alphabet von Buchstaben für jeden Konsonanten aufwies.

Wer bei Null anfangen mußte, hatte es bei der Erfin­dung einer Schrift ungleich schwerer als derjenige, der ein vorhandenes System übernehmen und an die Be­dürfnisse seiner Sprache anpassen konnte. Die ersten Schreiber mußten sich über Grundregeln den Kopf zer­brechen, die uns heute als selbstverständlich erscheinen. So mußten sie Methoden finden, wie der natürliche Re­defluß in sprachliche Einheiten zerlegt werden kann, ob nun in Wörter, Silben oder Phoneme. Der gleiche Laut beziehungsweise die gleiche sprachliche Einheit muß­te trotz aller Unterschiede in der Lautstärke, Stimm­lage, Sprechgeschwindigkeit, Betonung, Satzteilanord­nung und Aussprache erkannt werden. Und es mußte beschlossen werden, daß ein Schriftsystem alle derarti­gen Unterschiede ignorieren sollte. Danach galt es Mög­lichkeiten zu ersinnen, wie Laute durch Symbole dargestellt werden konnten.

Auf die eine oder andere Weise meisterten die ersten Schreiber all diese Probleme, ohne sich am Beispiel einer existierenden Schrift orientieren zu können. Offensicht­lich war die Aufgabe, die sie vollbrachten, so schwierig, daß in der Geschichte der Menschheit nur wenige Male eine Schrift ohne Vorbild neu erfunden wurde. Die zwei Fälle, in denen keine Zweifel bestehen, sind die Schrift der Sumerer, die etwas vor 3000 v. Chr. in Mesopotami­en entwickelt wurde, und die der mexikanischen India­ner aus der Zeit um 600 v. Chr. (Abbildung 11.1). Auch die ägyptische Schrift (um 3000 v. Chr.) und die chinesi­sche Schrift (um 1300 v. Chr.) entstanden möglicherweise ohne äußere Vorbilder, aber ganz sicher wissen wir das nicht. Alle anderen Völker, die seither in den Besitz ei­ner Schrift gelangten, haben diese wahrscheinlich über­nommen und an die eigenen Bedürfnisse angepaßt oder ließen sich zumindest von bestehenden Schriftsystemen anregen.

Von den eigenständig entwickelten Schriften läßt sich die Geschichte der ältesten, der sumerischen Keilschrift (Abbildung 11.1), am genauesten zurückverfolgen. Schon bevor sie Gestalt annahm, verwendeten die Bewohner bäuerlicher Siedlungen in einem Teil des Fruchtbaren Halbmonds Zeichen aus Ton in verschiedenen einfa­chen Formen, um damit über Schafherden oder Getrei­demengen Buch zu führen. In den letzten Jahrhunderten vor 3000 v. Chr. beschleunigte sich die Entwicklung der Buchhaltungstechnik, Formate und Zeichendarstellung und führte zur Entstehung des ersten Schriftsystems. Eine der Neuerungen jener Zeit waren flache Tontafeln, die sich als praktische Schreibflächen eigneten. Anfangs wurden die Zeichen noch mit spitzen Gegenständen in den Ton geritzt, doch allmählich setzten sich Rohrgrif­fel durch, mit denen saubere Eindrücke in dem weichen Ton der Schreibtafeln erzeugt werden konnten. Zu den Innovationen im Bereich Format gehörte die allmähliche Durchsetzung von Konventionen, deren Sinn heute nie­mand im Traum hinterfragen würde. Hierzu gehört bei­spielsweise, daß Buchstaben oder Schriftzeichen waage­recht in Zeilen oder senkrecht in Kolonnen angeordnet werden (Zeilen bei den Sumerern wie bei den modernen Europäern), daß Zeilen/Kolonnen stets in der gleichen Richtung gelesen werden (von links nach rechts bei Su­merern wie Europäern) und daß von oben nach unten und nicht umgekehrt gelesen wird.

Doch der entscheidende Wandel kam mit der Lösung des Problems, das für praktisch alle Schriftsysteme von grundlegender Bedeutung ist: Wie kommt man zu Zei­chen, die gesprochene Laute und nicht bloß Ideen oder Wörter unabhängig von der Aussprache repräsentie­ren? Frühe Stadien auf dem Weg zur Lösung dieses Pro­blems fand man insbesondere in Tausenden von Tonta­feln, die in den Ruinen der einstigen sumerischen Stadt Uruk am Euphrat rund 300 Kilometer südöstlich des heu­tigen Bagdad bei Ausgrabungen ans Tageslicht kamen. Die ersten sumerischen Schriftzeichen stellten erkenn­bare Abbildungen von Objekten dar (z. B. Fisch, Vogel). Naturgemäß bestanden diese sogenannten Piktogram­me überwiegend aus Ziffern und Substantiven für dingli­che Gegenstände, da es sich lediglich um buchhalterische Aufzeichnungen im Telegrammstil ohne jegliche grammatischen Elemente handelte. Mit der Zeit wurden die Formen der Zeichen abstrakter, was sich insbesondere ab dem Zeitpunkt beobachten läßt, als der Rohrgriffel die spitzen Schreibwerkzeuge ablöste. Neue Zeichen entstan­den durch Kombination bestehender Zeichen. So ergab die Kombination des Zeichens für Kopf mit dem Zeichen für Brot ein neues Zeichen mit der Bedeutung essen.

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Abbildung 11.1 Die Fragezeichen vor China und Ägypten signa­lisieren Zweifel, ob die Schrift in diesen Gebieten völlig unabhän­gig entstand oder auf Anregungen von Schriftsystemen basierte, die zu früheren Zeitpunkten an anderen Orten entwickelt wor­den waren. »Sonstige« bezieht sich auf Schriften, bei denen es sich weder um Alphabete noch um Silbenschriften handelte und die wahrscheinlich unter dem Einfluß älterer Schriften entstanden.

Die älteste sumerische Schrift bestand aus nichtpho­netischen Logogrammen. Das bedeutet, daß sie nicht auf den spezifischen Lauten der sumerischen Sprache basier­te, sondern daß ihre Zeichen in jeder anderen Sprache bei völlig unterschiedlicher Aussprache die gleiche Be­deutung gehabt hätten – so wie beispielsweise die Ziffer 4 im Englischen, Russischen, Finnischen und Indonesi­schen jeweils ganz unterschiedlich ausgesprochen wird, nämlich als four, četyre, neljä und empat. Der vielleicht wichtigste Schritt in der Geschichte der Schrift war die Einführung der phonetischen Abbildung durch die Su­merer, wobei anfangs ein abstraktes Substantiv (das sich nur schwer durch ein Bild repräsentieren ließ) mit Hil­fe des Zeichens für ein darstellbares, gleich ausgespro­chenes Substantiv abgebildet wurde. So ist es leicht, ein Bild für Pfeil zu zeichnen, aber schwer, den Begriff Le­ben als Piktogramm darzustellen – beide werden in der sumerischen Sprache wie ti ausgesprochen. Nach Ein­führung der phonetischen Abbildung konnte das Bild eines Pfeils entweder Pfeil oder Leben bedeuten. Die daraus erwachsende Mehrdeutigkeit wurde durch Hin­zufügung von stummen Zeichen aufgelöst, sogenannten Determinativen, die Auskunft über die Klasse des von dem betreffenden Logogramm dargestellten Objekts ga­ben. Linguisten sprechen bei dieser entscheidenden In­novation, die auch Bilderrätseln zugrunde liegt, vom Rebusprinzip.

Nachdem die Sumerer dieses phonetische Prinzip ein­mal entdeckt hatten, wandten sie es bald nicht mehr nur auf abstrakte Substantive an, sondern benutzten es auch zur Darstellung von Silben oder Buchstaben, die als grammatische Endungen fungierten. Im Englischen würde man vor einem ziemlichen Problem stehen, soll­te man ein Bild der häufig vorkommenden Silbe -tion zeichnen; man könnte aber statt dessen mit einem Bild das Verb shun (meiden) darstellen, das ganz ähnlich klingt. Phonetisch interpretierte Zeichen dienten auch dazu, die Laute der einzelnen Silben längerer Wörter in Form einer Serie von Bildern wiederzugeben. Das ist ungefähr so, als ob ein Engländer das Wort belie­ve (glauben) durch das Bild einer Biene (bee) und eines Blattes (leaf) darstellen würde. Phonetische Zeichen er­möglichten es den Schriftgelehrten darüber hinaus, das gleiche Piktogramm für eine Reihe verwandter Wör­ter (wie tooth, speech und speaker) zu verwenden, wo­bei die Mehrdeutigkeit durch Hinzufügung einer soge­nannten phonetischen Ergänzung aufgelöst wurde (um beispielsweise zu signalisieren, ob ein Zeichen als two, each oder peak gelesen werden soll).

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Babylonische Keilschrift, abgeleitet von der Keilschrift der Su­merer

  Auf diese Weise entwickelte sich die sumerische Schrift zu einem komplizierten System aus drei Zeichentypen: Logogrammen, die ein ganzes Wort oder einen Namen abbildeten, phonetischen Zeichen, die quasi zum Buch­stabieren von Silben, grammatischen Elementen oder Wortteilen dienten, und Determinativen, die keinen ei­genen Lautwert besaßen, aber zur Auflösung von Mehr­deutigkeiten benötigt wurden. Dennoch handelte es sich bei den phonetischen Zeichen der Sumerer noch nicht um eine vollständige Silben- oder Alphabetschrift. Für manche Silben gab es überhaupt kein Schriftzeichen, und manche Zeichen konnten ganz unterschiedlich ausge­sprochen werden. Zudem kam es vor, daß ein Zeichen einmal als Wort und einmal als Silbe oder Buchstabe gelesen werden konnte.

Der andere Ort neben Mesopotamien, an dem die Schrift mit Sicherheit unabhängig entwickelt wurde, war Mesoamerika und dort wahrscheinlich das südli­che Mexiko. Es wird davon ausgegangen, daß die Schrif­ten der indianischen Kulturen dieser Region unbeein­flußt von der Alten Welt entstanden, da für die Zeit vor den Atlantiküberquerungen der Wikinger keine über­zeugenden Beweise für Kontakte zwischen Neuer Welt und schriftbesitzenden Gesellschaften der Alten Welt vorliegen. Hinzu kommt, daß sich die Formen der me­soamerikanischen Schriftzeichen radikal von allen un­terschieden, die wir aus der Alten Welt kennen. Rund ein Dutzend mesoamerikanischer Schriften sind heute bekannt, wobei zwischen den meisten oder sogar allen eine offenkundige Verwandtschaft besteht (etwa im Zah­len- und Kalendersystem). Nur ein kleiner Teil konnte bisher weitgehend entziffert werden. Momentan stammt die älteste erhaltene mesoamerikanische Schrift aus dem Gebiet von Zapotec im Süden Mexikos und wurde auf etwa 600 v. Chr. datiert. Am weitesten entziffert ist dage­gen eine Schrift aus dem Maya-Tiefland; das älteste dar­in gefundene Datum entspricht dem Jahr 292 n. Chr.

Trotz des unabhängigen Ursprungs und der charak­teristischen Formen der verwendeten Zeichen kommen in der Maya-Schrift grundsätzlich ähnliche Regeln zum Tragen wie in der sumerischen Schrift und in anderen westeurasischen Schriftsystemen, die sich von den Sume­rern inspirieren ließen. Ebenso wie in der sumerischen Schrift wurden auch bei den Mayas sowohl Logogramme als auch phonetische Zeichen verwendet. Logogramme zur Darstellung abstrakter Begriffe wurden häufig nach dem Rebusprinzip abgeleitet. Das heißt, ein abstrakter Begriff wurde mit dem Zeichen für ein anderes, gleich ausgesprochenes Wort mit unterschiedlicher Bedeutung dargestellt, das sich leicht durch ein Bild repräsentieren ließ. Wie bei der mykenischen Linear-B- und den japa­nischen Kana-Silbenschriften standen die phonetischen Zeichen der Mayas zumeist für Silben, die sich aus ei­nem Konsonanten und einem Vokal zusammensetzten (z. B. ta, te, ti, to, tu). Ähnlich wie die Buchstaben des alten semitischen Alphabets wurden die Silbenzeichen der Mayas aus Bildern des Objekts abgeleitet, dessen Aussprache mit der betreffenden Silbe anfing (z. B. äh­nelt das Silbenzeichen »ne« einem Schwanz, für den das Maya-Wort neh lautet).

All diese Parallelen zwischen mesoamerikanischer und früher westeurasischer Schriftzeugen von der Univer­salität der menschlichen Kreativität. Obgleich zwischen der Sprache der Sumerer und jener der mesoamerika­nischen Indianer keine Verwandtschaft besteht, stellten sich in beiden Fällen ähnliche Grundprobleme bei der Umsetzung von Gesprochenem in Geschriebenes. Und so wurden die von den Sumerern um 3000 v. Chr. ge­fundenen Lösungen um 600 v. Chr. von mesoamerika­nischen Indianern auf der anderen Seite des Erdballs neu entdeckt.

Vielleicht mit Ausnahme der Schrift der Ägypter, der Chinesen und der Osterinsulaner, auf die wir noch ein­gehen werden, stammten anscheinend alle Schriftsyste­me, die jemals entwickelt wurden, von Systemen ab, die Abwandlungen der sumerischen oder mesoamerikani­schen Schrift darstellten oder zumindest von diesen an­geregt waren. Ein Grund, warum die Schrift nur so we­nige Male unabhängig entstand, war der, daß es sich, wie schon erwähnt, um eine äußerst schwierige Erfin­dung handelte. Ein zweiter Grund lag darin, daß die sumerische beziehungsweise frühe mesoamerikanische Schrift und deren Derivate möglichen weiteren unab­hängigen Erfindungen der Schrift zuvorkamen.

Wir wissen, daß die Entwicklung der sumerischen Schrift mindestens Hunderte, vielleicht sogar Tausende von Jahren dauerte. Wie wir sehen werden, setzte dieser Prozeß einige kulturelle Merkmale voraus, von denen es abhing, ob eine Gesellschaft die Schrift als nützlich an­sehen würde und ob sie in der Lage war, eine Zunft von Schreibern mitzuernähren. Neben den Sumerern und den frühen Mexikanern erfüllten eine Vielzahl weite­rer Gesellschaften – etwa in Indien, auf Kreta und in Äthiopien – diese Voraussetzungen. Sumerer und Mexi­kaner waren aber nun einmal die ersten, die in der Al­ten beziehungsweise Neuen Welt an diesem Punkt an­kamen. Nachdem sie die Schrift erfunden hatten, brei­teten sich Informationen über Einzelheiten und Regeln schnell aus und gelangten anderen Kulturen zur Kennt­nis, bevor diese ihrerseits jahrhunderte- oder jahrtau­sendelang, wie es erforderlich gewesen wäre, unabhängig mit der Schrift experimentieren konnten. Damit wur­de das Potential für weitere unabhängige Experimente im Keim erstickt.

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In Stein gehauene Maya-Schriftzeichen aus dem 6. Jahrhundert n. Chr. bei Yaxchilan, Mexiko

Die Ausbreitung der Schrift geschah auf zwei ganz un­terschiedliche Weisen, für die es in der Technik- und Ide­engeschichte zahlreiche Parallelen gibt. Jemand macht eine Erfindung und nutzt sie. Wie erfindet man darauf­hin als interessierter potentieller Nutzer etwas Ähnliches für den eigenen Gebrauch, wenn man weiß, daß eine funktionierende Version bereits existiert?

Die Weitergabe von Erfindungen nimmt sehr vielfäl­tige Formen an. Das eine Ende des Spektrums bildet das Kopieren von »Blaupausen«, wobei ein vorhandenes, de­tailliertes Muster genau nachgeahmt oder modifiziert wird. Am anderen Ende des Spektrums steht die »Ide­endiffusion«, bei der kaum mehr als der Grundgedanke bekannt ist, die Details aber neu erfunden werden müs­sen. Das Wissen, daß etwas machbar ist, dient dabei als Ansporn für eigene Bemühungen, doch die Lösung, die am Ende herauskommt, muß nicht unbedingt mit der des ursprünglichen Erfinders übereinstimmen.

Nehmen wir dazu ein Beispiel aus der jüngsten Ver­gangenheit. Historiker streiten noch immer darüber, ob Blaupausen-Kopie oder Ideendiffusion mehr zum Bau der russischen Atombombe beigetragen hat. Waren für die sowjetischen Anstrengungen technische Unterlagen über die bereits vorhandene amerikanische Bombe, von Spionen gestohlen und in die Sowjetunion geschafft, von entscheidender Bedeutung? Oder war es eher so, daß der Abwurf einer amerikanischen Atombombe auf Hiroshi­ma Stalin davon überzeugte, daß der Bau einer solchen Waffe möglich war, woraufhin russische Wissenschaftler die erforderlichen Prinzipien im Schnellverfahren neu erfanden, ohne auf detaillierten Ergebnissen der vor­angegangenen amerikanischen Forschung aufbauen zu können? Ähnliche Fragen stellen sich, wenn wir nach der Erfindung des Rads, der Pyramiden und des Schießpul­vers fragen. Im folgenden wollen wir untersuchen, wel­che Rolle Blaupausen-Kopie und Ideendiffusion bei der Ausbreitung der Schrift spielten.

Heute wird die Methode der Blaupausen-Kopie von studierten Linguisten angewandt, um Schrift systeme für bislang ungeschriebene Sprachen zu entwickeln. Bei den meisten derart maßgeschneiderten Systemen han­delt es sich um Abwandlungen existierender Alpha­bete, in einigen Fällen jedoch auch um Silbenschrif­ten. So arbeiten linguistisch geschulte Missionare an abgewandelten Formen des lateinischen Alphabets für Hunderte neuguineischer und indianischer Sprachen. Linguisten im Staatsdienst entwickelten das abgewan­delte lateinische Alphabet, das 1928 in der Türkei als Schrift übernommen wurde, sowie das abgewandelte kyrillische Alphabet, das für viele Sprachen ethnischer Gruppen auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion benutzt wird.

In einigen Fällen wissen wir sogar etwas über die Per­sonen, die einst Schriftsysteme durch Blaupausen-Kopie schufen. So basiert das in Rußland gebräuchliche kyril­lische Alphabet auf einer Bearbeitung griechischer und hebräischer Buchstaben durch den heiligen Kyrill, ei­nen griechischen Slawen-Missionar des 9. Jahrhunderts. Die ältesten schriftlichen Zeugnisse einer germanischen Sprache wurden im gotischen Alphabet abgefaßt. Es geht auf Bischof Wulfila zurück, einen Missionar, der im 4. Jahrhundert im Gebiet des heutigen Bulgarien bei den Westgoten lebte. Wie die Erfindung des heiligen Kyrill war auch Wulfilas Alphabet eine bunte Mischung aus Buchstaben, die verschiedenen Quellen entlehnt waren. Es enthielt an die 20 griechische Buchstaben, etwa fünf lateinische und zwei, die er entweder aus dem Runenal­phabet übernommen oder selbst kreiert hatte. In den al­lermeisten Fällen wissen wir jedoch nichts über die Er­finder berühmter Alphabete der Vergangenheit. Immer­hin bleibt uns aber die Möglichkeit, neuere Alphabete mit älteren zu vergleichen und aus den Buchstabenfor­men auf eventuelle Vorbilder zu schließen. So können wir mit Sicherheit sagen, daß die Linear-B-Silbenschrift aus dem mykenischen Griechenland um 1400 v. Chr. durch Abwandlung der Linear-A-Silbenschrift des minoischen Kreta entstand.

Immer wenn ein vorhandenes Schriftsystem für eine andere Sprache abgewandelt werden sollte, und das ge­schah wohl einige hundert Male in der Geschichte, tra­ten Probleme auf, da keine zwei Sprachen einen identi­schen Lautvorrat besitzen. Einige Buchstaben oder Zei­chen wurden einfach ausgelassen, wenn die Laute, die sie in der ursprünglichen Sprache darstellten, in der über­nehmenden Sprache nicht existierten. So fehlen im Fin­nischen die Laute, die viele andere europäische Sprachen mit den Buchstaben b, c, f, g, w, x und z ausdrücken, wes­halb die Finnen diese Buchstaben aus ihrer Version des lateinischen Alphabets strichen. Auch das umgekehrte Problem trat häufig auf, nämlich das Fehlen von Buch­staben für Laute, die in der übernehmenden, nicht aber in der ursprünglichen Sprache vorkamen. Dieses Pro­blem wurde auf unterschiedliche Weise gelöst, beispiels­weise durch Verwendung einer Kombination aus zwei oder mehreren Buchstaben (wie des th im Englischen, das einen Laut darstellt, für den das griechische und das runische Alphabet einen einzelnen Buchstaben be­saßen); durch ein diakritisches (unterscheidendes) Zei­chen, das einem bestehenden Buchstaben hinzugefügt wurde (wie beim deutschen Umlaut ö, dem spanischen ñ und den vielen Zeichen, die sich von allen Seiten an polnische und türkische Buchstaben schmiegen); durch Umfunktionierung vorhandener Buchstaben, für welche die übernehmende Sprache keine Verwendung hatte (wie die »Zweckentfremdung« des lateinischen Buchstabens c durch die moderne tschechische Schrift zur Darstel­lung des tschechischen Lauts ts); oder einfach durch Er­findung neuer Buchstaben (wie es unsere Vorfahren im Mittelalter taten, als sie die Buchstaben j, u und w schu­fen). – Das lateinische Alphabet selbst war ebenfalls das Ergebnis einer langen Kette von Nachahmungen. Offen­bar wurden Alphabete nur einmal in der Geschichte der Menschheit eigenständig hervorgebracht, und zwar im zweiten Jahrtausend vor unserer Zeit von Sprechern se­mitischer Sprachen im Gebiet zwischen dem heutigen Syrien und dem Sinai. All die Hunderte vergangener und heute noch verwendeter Alphabete gingen letztlich auf jenes semitische Uralphabet zurück – in einigen Fällen durch Ideendiffusion (z. B. die altirische Oghamschrift ), in der Regel aber durch Nachahmung und Veränderung der Buchstabenformen.

Diese Evolution des Alphabets läßt sich bis zur ägyp­tischen Hieroglyphenschrift zurückverfolgen, die für je­den der 24 ägyptischen Konsonanten ein eigenes Zeichen besaß. Die Ägypter taten jedoch nie den (aus unserer Sicht) logischen nächsten Schritt und gaben all ihre Lo­gogramme, Determinative und Zeichen für Konsonan­tenpaare und -trios auf, um nur noch ihr Konsonanten­alphabet zu verwenden. Ab etwa 1700 v. Chr. begannen Semiten, die mit den ägyptischen Hieroglyphen vertraut waren, Experimente in dieser Richtung.

Die Beschränkung von Zeichen auf die Darstellung einzelner Konsonanten war nur die erste von drei we­sentlichen Innovationen, durch die sich Alphabete von anderen Schriftsystemen unterschieden. Die zweite be­stand in der Anordnung der Buchstaben in einer festen Reihenfolge und in der Vergabe von Namen, die man sich leicht merken konnte. Im Englischen verwenden wir zum Buchstabieren unseres Alphabets weitgehend bedeutungslose Silben (»a«, »bee«, »cee«, »dee« usw.). Die semitischen Namen hatten dagegen in semitischen Sprachen eine Bedeutung: Es handelte sich um Wörter für Dinge des täglichen Lebens ( wie aleph = Ochse, beth = Haus, gimel = Kamel, daleth = Tür usw.). Die­se semitischen Bezeichnungen standen in »akrophoni­scher« Verwandtschaft zu den entsprechenden semiti­schen Konsonanten, was bedeutet, daß die Buchstaben nach Objekten benannt wurden, deren Bezeichnung mit dem entsprechenden Laut begann (also a, b, g, d usw.). Überdies handelte es sich bei den ältesten Formen vie­ler semitischer Buchstaben um bildliche Darstellungen der besagten Objekte. Aus all diesen Gründen waren die Formen, Namen und die Reihenfolge der Buchsta­ben des semitischen Alphabets leicht zu behalten. In vie­len modernen Alphabeten, so auch in unserem, ist die ursprüngliche Reihenfolge mit kleinen Änderungen bis heute, über 3000 Jahre später, im wesentlichen erhalten geblieben (das griechische Alphabet behielt sogar die ur­sprünglichen Namen der Buchstaben bei: Alpha, Beta, Gamma, Delta usw.). Eine Änderung, die Ihnen viel­leicht schon aufgefallen ist, bestand darin, daß aus dem semitischen und griechischen g der lateinische Buchsta­be c wurde; dafür erfanden die Römer ein neues g und gaben ihm seine jetzige Position im Alphabet.

Die dritte und letzte Innovation auf dem Weg zu mo­dernen Alpha beten war die Einführung von Vokalen. Schon in der Frühphase des semitischen Alphabets wur­de mit Methoden zur Darstellung von Vokalen experi­mentiert, indem man kleine Vokalzeichen erfand oder Punkte, Linien oder Haken über die Konsonanten setz­te. Im 8. Jahrhundert v. Chr. gingen die Griechen als er­ste dazu über, alle Vokale systematisch mit Zeichen des gleichen Typs wie Konsonanten zu schreiben. Ihre Vo­kale α – ε – η – ο gewannen sie durch »Umfunktionie­rung« von fünf Buchstaben des phönizischen Alphabets, die sie nicht benötigten, da es die entsprechenden Laute in ihrer Sprache nicht gab.

Von jenen ältesten semitischen Alphabeten führte eine Evolutionslinie über die frühen arabischen Alphabete zum modernen äthiopischen Alphabet. Eine weitaus be­deutendere Linie führte zum aramäischen Alphabet, in dem offizielle Dokumente des Persischen Reichs verfaßt waren, und von dort zu den modernen arabischen, he­bräischen, indischen und südostasiatischen Alphabeten. Die für die meisten europäischen und amerikanischen Leser wichtigste Entwicklungslinie führte jedoch über die Phönizier im 8. Jahrhundert zu den Griechen, von dort im gleichen Jahrhundert zu den Etruskern und ein Jahrhundert später zu den Römern, deren unwesentlich modifiziertes Alphabet Sie gerade vor sich haben. Dank ihrer potentiellen Überlegenheit, die in der Kombinati­on von Genauigkeit und Einfachheit liegt, konnten sich Alphabete mittlerweile in den meisten Regionen der Welt durchsetzen.

Das Kopieren und Abwandeln von »Blaupausen« ist zwar die einfachste Methode, um sich neue Techniken anzueignen, doch diese Option ist nicht immer vorhan­den. Vielleicht wird die ursprüngliche Erfindung geheim­gehalten, oder ihre Details sind nur denen verständlich, die in ihre Geheimnisse bereits eingeweiht sind. Viel­leicht spricht sich auch nur herum, daß an irgendeinem fernen Ort eine Erfindung gemacht wurde, ohne daß nä­here Einzelheiten durchsickern. Oder es wird lediglich die Grundidee bekannt: Jemand hat es irgendwie ge­schafft, etwas Bestimmtes zu erreichen. Doch auch sol­che knappen Informationen könnten andere inspirieren, eigene Wege zum gleichen Ziel zu suchen. In dem Fall würden wir von Ideendiffusion sprechen. Eine bemer­kenswerte Episode in der Geschichte der Schrift war die Entstehung der Silbenschrift, die um 1820 auf dem Ge­biet des heutigen US-Bundesstaats Arkansas von einem Cherokee-Indianer namens Sequoyah für die Sprache der Cherokee entwickelt wurde. Sequoyah hatte beobachtet, daß die Weißen Zeichen auf Papier malten und daraus großen Vorteil zogen, wenn sie lange Reden hielten, die sie nur abzulesen brauchten. Was es genau mit diesen Zeichen auf sich hatte, blieb ihm jedoch verborgen, da Sequoyah (wie die meisten Cherokee vor 1820) Analpha­bet war und Englisch weder sprechen noch lesen konnte. Von Beruf Schmied, entwickelte er ein Verfahren, um über die Schulden seiner Kunden Buch zu führen. Dazu fertigte er ein Bild von jedem seiner Kunden an; dann zeichnete er verschieden große Kreise und Linien, die den geschuldeten Geldbetrag symbolisierten.

Um 1810 beschloß Sequoyah, auf dem eingeschlage­nen Weg weiterzugehen und ein Schriftsystem für die Cherokee-Sprache zu schaffen. Wieder begann er mit dem Zeichnen von Bildern, gab diesen Ansatz jedoch bald als zu kompliziert und künstlerisch anspruchsvoll auf. Als nächstes fing er an, für jedes Wort ein eigenes Zeichen zu erfinden, doch erneut wuchs sein Mißmut, als er Tausende von Zeichen geschaffen hatte und fest­stellte, daß er immer noch mehr brauchte.

Schließlich kam Sequoyah darauf, daß sich Worte aus einer relativ kleinen Zahl unterschiedlicher Laute zu­sammensetzen, die immer wieder auftauchen – den Sil­ben. Daraufhin entwickelte er zunächst 200 Silbenzei­chen, verringerte die Zahl aber nach und nach auf 85, von denen die meisten aus einem Konsonanten und ei­nem Vokal bestanden.

Auf der Suche nach geeigneten Zeichen übte er sich im Abschreiben von Buchstaben aus einer Englischfibel, die er von einem Schullehrer bekommen hatte. Etwa zwei Dutzend von Sequoyahs Cherokee-Silbenzeichen basierten auf den Buchstaben, deren Bekanntschaft er auf diese Weise machte. Natürlich erhielt jeder eine völ­lig andere Bedeutung, da Sequoyah den Laut, den sie in der englischen Sprache repräsentierten, gar nicht kannte. Zum Beispiel wählte er die Formen der Buchstaben D, R, b und h für die Cherokee-Silben a, e, si und ni, wäh­rend er der Form der Ziffer 4 die Silbe se zuordnete. An­dere Zeichen gewann er durch Abwandlung englischer Buchstaben, beispielsweise glyph_G, glyph_U und glyph_O für die Silben yu, sa und na. Wieder andere Zeichen waren vollstän­dige Neuerfindungen, wie glyph_F,glyph_r und glyph_q für ho, li und nu. In linguistischen Fachkreisen genießt die von Sequoyah entwickelte Silbenschrift hohe Anerkennung wegen ihrer genauen Abbildung der Cherokee-Laute und ihrer rela­tiv leichten Erlernbarkeit. Binnen kurzer Zeit erreichten die Cherokee eine Alphabetisierungsrate von annähernd 100 Prozent, schafften sich eine Druckmaschine an, ließen Sequoyahs Zeichen in Drucktypen gießen und begannen mit der Herstellung eigener Bücher und Zeitschriften.

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Von Sequoyah entwickelter Zeichensatz zur Darstellung der Sil­ben der Cherokee-Sprache

Die Cherokee-Silbenschrift ist eines der besten Bei­spiele für eine durch Ideendiffusion entstandene Schrift.

Wir wissen, daß Sequoyah Papier und anderes Schreibma­terial, den Grundgedanken eines Schriftsystems, die Idee zur Verwendung einzelner Zeichen sowie die Formen ei­niger Dutzend Zeichen übernahm. Da er jedoch des Eng­lischen nicht mächtig war, erfuhr er weder die Details an­derer Schriften noch die Regeln, die ihnen zugrunde lagen. Umgeben von Alphabeten, die er nicht verstehen konnte, erfand er deshalb eine neue Silbenschrift und tat es da­mit den Minoern gleich, nur 3500 Jahre später.

Sequoyas Beispiel verdeutlicht, wie etliche Schrift sy­steme der Antike durch Ideendiffusion entstanden sein dürften. Das Han’gul-Alphabet, das der korea­nische König Sejong im Jahr 1446 n. Chr. für die ko­reanische Schrift entwickelte, war offensichtlich vom Blockformat der chinesischen Zeichen und dem Alpha­betsprinzip der mongolischen oder tibetisch­buddhisti­schen Schrift angeregt worden. König Sejong erfand je­doch selbständig die Formen der Han’gul-Buchstaben sowie eine Reihe von Besonderheiten seines Alphabets, wie die Anordnung von Buchstaben nach Silben in ei­nem quadratischen Block, die Verwendung verwandter Buchstabenformen zur Darstellung verwandter Vokal­und Konsonantlaute sowie die Verwendung von Kon­sonantenformen, welche die Position von Lippen oder Zunge beim Aussprechen des betreffenden Lauts bild­lich darstellen. Das in Irland und Teilen des keltischen Britannien ab dem 4. Jahrhundert n. Chr. verwendete Ogham-Alphabet übernahm auf ähnliche Weise das Alphabetsprinzip (in diesem Fall von bestehenden europäischen Alphabeten), bestand jedoch ebenfalls aus völlig neuen Buchstabenformen, offenbar abgeleitet von einem Fünffinger-Handzeichensystem.

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Das koreanische Gedicht »Blumen auf den Hügeln« von So-Wol Kim als Beispiel des bemerkenswerten Han’gul-Schrift systems. Jeder quadratische Block stellt eine Silbe dar, während jedes der Zeichen, aus denen die einzelnen Blöcke bestehen, einen Buch­staben repräsentiert.

Han’gul- und Ogham-Alphabet können mit großer Si­cherheit auf Ideendiffusion im Gegensatz zu unabhän­giger Entstehung zurückgeführt werden, da bekannt ist, daß beide Gesellschaften in engem Kontakt mit ande­ren Gesellschaften standen, die bereits im Besitz einer Schrift waren, und weil auch offensichtlich ist, welche anderen Schriften Pate standen. Dagegen können wir bei der sumerischen Keilschrift und der ältesten me­sopotamischen Schrift bedenkenlos von unabhängiger Entstehung sprechen, da zu den Zeitpunkten, an denen sie erstmals in Erscheinung traten, weit und breit keine anderen Schriften existierten, die als Vorbild hätten die­nen können. Noch umstritten ist indes die Herkunft der Schrift auf der Osterinsel, in China und Ägypten.

Die polynesischen Bewohner der vor Chile im Pazi­fik gelegenen Osterinsel besaßen eine eigene Schrift, de­ren älteste Zeugnisse aus dem Jahr 1851 stammen, lange nach dem ersten Besuch von Europäern im Jahr 1722. Mag sein, daß die Schrift auf der Osterinsel schon vor der Ankunft der Europäer unabhängig erfunden wur­de und daß dafür nur aus irgendeinem Grund alle Be­weise verschwunden sind. Die naheliegendste Interpre­tation der Fakten lautet jedoch, daß die Osterinsulaner zur Entwicklung einer eigenen Schrift inspiriert wur­den, nachdem ihnen eine spanische Expedition im Jahr 1770 eine schriftliche Proklamation überreicht hatte, in der die Annexion der Insel verkündet wurde.

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Chinesische Handschrift von Wu Li aus dem Jahr 1679 n. Chr.

Die ältesten Texte in chinesischer Schrift stammen aus der Zeit um 1300 v. Chr., was nicht heißt, daß es keine älteren Vorläufer gegeben haben könnte. Auch die chi­nesische Schrift besitzt Zeichen und Regeln, die sie von allen anderen Schriften unterscheiden, so daß Wissen­schaftler von einer unabhängigen Entstehung ausgehen. Die Schrift war vor 3000 v. Chr. in Mesopotamien erfun­den worden, über 6000 Kilometer westlich der ältesten städtischen Siedlungen Chinas, und hatte um 2200 v. Chr. das immer noch rund 4000 Kilometer entfernte Indu­stal erreicht. Für den gesamten Raum zwischen China und dem Industal ist jedoch kein einziges Schriftsystem aus jener frühen Zeit bekannt. Somit deutet nichts dar­auf hin, daß die ersten chinesischen Schrift gelehrten die Möglichkeit hatten, sich von einem anderen Schriftsy­stem anregen zu lassen.

Die ägyptischen Hieroglyphen, das bekannteste aller antiken Schriftsysteme, werden gemeinhin ebenfalls als Produkt unabhängiger Erfindung angesehen, doch die alternative Interpretation, sprich Entstehung durch Ide­endiffusion, liegt hier näher als im Fall der chinesischen Schrift. Die Hieroglyphenschrift trat um 3000 v. Chr. re­lativ plötzlich in nahezu ausgereifter Form auf. Ägyp­ten liegt nur etwa 1300 Kilometer westlich von Mesopo­tamien und unterhielt damals Handelsbeziehungen zu jener Region. Mir erscheint es merkwürdig, daß keine Dokumente einer schrittweisen Entwicklung von Hiero­glyphen vorliegen, wo doch das trockene Klima Ägyptens die Konservierung älterer Schreibexperimente be­günstigt hätte – ähnlich wie in Mesopotamien mit sei­nen zahlreichen erhaltenen Dokumenten, die Aufschluß über die Entwicklung der sumerischen Keilschrift in den Jahrhunderten vor 3000 v. Chr. geben. Ebenso suspekt ist mir das Auftauchen einiger anderer scheinbar un­abhängig entstandener Schriftsysteme im Iran (proto­elamitische Schrift), auf Kreta (kretische Piktographie) und in der Türkei (hethitische Keilschrift) nach dem Aufkommen der sumerischen und ägyptischen Schrift.

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Ägyptische Hieroglyphen: Trauerschrift zum Tode der Prinzes­sin Entiu­ny

Auch wenn jedes dieser Systeme aus eigenen charakte­ristischen Zeichen bestand, die nicht aus Ägypten oder Mesopotamien entlehnt waren, ist kaum vorstellbar, daß die Erschaffer nichts von den Schriften ihrer Nachbarn und Handelspartner gewußt haben sollen.

Es wäre schon ein sehr großer Zufall, wenn all diese mediterranen und nahöstlichen Kulturen die Schrift im Abstand von wenigen Jahrhunderten unabhängig von­einander erfunden hätten, nachdem die Menschheit Jahrmillionen ohne sie existiert hatte. Deshalb halte ich Ideendiffusion, wie bei Sequoyahs Silbenschrift, für eine denkbare Interpretation. Demnach wurden die Ägypter und andere Völker von den Sumerern auf die Idee der Schrift gebracht und lernten vielleicht auch einige Re­geln der sumerischen Schrift kennen, entwickelten dann aber eigene Regeln und Buchstabenformen.

Kehren wir nun zu der am Anfang dieses Kapitels ge­stellten Frage zurück: Warum entstand und verbreite­te sich die Schrift in einigen Gesellschaften, in vielen anderen aber nicht? Als Ausgangspunkt für die Erör­terung dieser Frage bieten sich die Beschränkungen an, die mit den Möglichkeiten der frühen Schrift systeme, ihres Anwendungsbereichs und ihrer Anwender zu­sammenhingen.

Die ältesten Schriften waren unvollständig, mehrdeu­tig oder kompliziert – oft auch alles zugleich. So konnte die früheste sumerische Keilschrift nicht zur Wieder­gabe normaler Prosa verwendet werden, sondern dien­te lediglich für Aufzeichnungen im Telegrammstil, de­ren Vokabular sich auf Namen, Zahlen, Maßeinheiten, Wörter für zu zählende Objekte und eine kleine Zahl von Adjektiven beschränkte. Auf unsere Zeit übertra­gen wäre das so, als müßte ein Justizangestellter »Müller 27 fett Schaf« schreiben, weil es der deutschen Sprache an den benötigten Wörtern und grammatischen Ele­menten mangelte, um zu formulieren: »Hiermit wird verfügt, daß Herr Müller die 27 von ihm dem Staat ge­schuldeten fetten Schafe abzuliefern hat.« Die späte­re sumerische Keilschrift ermöglichte zwar Prosa, aber nur in der oben geschilderten komplizierten Mischung aus Hunderten von Logogrammen, phonetischen Zei­chen und stummen Determinativen. Verglichen da­mit war die Linear-B-Schrift des mykenischen Grie­chenlands mit ihren rund 90 Silbenzeichen plus Logo­grammen wenigstens leichter zu erlernen. Dafür war sie recht mehrdeutig. Konsonanten am Wortende wurden grundsätzlich ausgelassen, und ein und dasselbe Zei­chen diente zur Abbildung mehrerer verwandter Kon­sonanten (z. B. gab es nur ein Zeichen für l und r, eins für p, b und ph und eins für g, k und kh). Sicher haben Sie schon einmal die Verwirrung erlebt, die entstehen kann, wenn ein Japaner beim Sprechen einer Fremd­sprache nicht zwischen l und r unterscheidet. Stellen Sie sich das Chaos vor, das entstünde, wenn unser Alphabet mit den anderen erwähnten Konsonanten ebenso gleichmacherisch verfahren würde! Das wäre ungefähr so, als buchstabierte man die englischen Worte »rap« (klopfen), »lap« (Schoß), »lab« (Labor) und »laugh« (la­chen) alle genau gleich.

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1 Frau mit Kind, nördliches Küstentiefland Neuguineas (Insel Siar).

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33 Sprecher einer zu den Bantu-Sprachen gehörenden Niger-Kongo-Sprache: Nelson Mandela, Präsident von Südafrika.

Ein Nachteil bestand auch darin, daß nur wenige Men­schen diese frühen Schriften erlernten. Die Kunst des Schreibens blieb ausgebildeten Schreibern vorbehalten, die im Dienst von König oder Kirche standen. So gibt es keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß Mykener außer­halb der Palastbürokratie die Linear-B-Schrift lesen, ge­schweige denn schreiben konnten. Da sich bei der Ana­lyse erhaltener Texte einzelne Schreiber aufgrund ihrer Handschrift unterscheiden lassen, können wir feststel­len, daß sämtliche erhaltenen Linear-B-Dokumente aus den Palästen von Knossos und Pylos das Werk von nur 75 beziehungsweise 40 Schreibern sind.

Der Anwendungsbereich dieser telegrammartigen, plumpen, mehrdeutigen Schriften war ebenso begrenzt wie die Zahl ihrer Anwender. Wer hofft, anhand alter Schriften Aufschluß darüber zu erhalten, wie die Su­merer um 3000 v. Chr. dachten und fühlten, sieht sich schnell enttäuscht. Bei den ersten sumerischen Texten handelt es sich um nüchtern­kühle Aufstellungen aus der Hand von Palast- und Tempelbürokraten. Etwa 90 Pro­zent der Schrift tafeln in den ältesten bekannten sume­rischen Archiven, die in der Stadt Uruk entdeckt wur­den, sind buchhalterische Auflistungen von abgelieferten Gütern, ausgegebenen Nahrungsrationen und verteilten Landwirtschaftsprodukten. Erst später, als die Sumerer den Schritt über Logogramme hinaus zur phonetischen Abbildung getan hatten, begannen sie mit dem Verfassen narrativer Prosa, etwa von Propaganda und Legenden.

Die Mykener erreichten nicht einmal dieses Stadium. Ein Drittel aller Linear-B-Tafeln aus dem Palast von Knossos enthält Aufstellungen über Schafe und Wol­le, während ein großer Teil der Schrifttafeln im Palast von Pylos Auskunft über Flachsmengen gibt. Die Line­ar-B-Schrift war so mehrdeutig angelegt, daß ihre Ver­wendung auf die Palastbürokratie beschränkt blieb, de­ren begrenztes Vokabular eindeutige Interpretationen zuließ. Für eine literarische Verwendung der Linear-B-Schrift fehlt jeder Hinweis. Ilias und Odyssee wurden von Barden, die keiner Schrift mächtig waren, ersonnen und mündlich tradiert; erst Hunderte von Jahren später wurden diese Epen nach der Entwicklung des griechi­schen Alphabets auch in Schrift form festgehalten.

Ein ähnlich begrenzter Anwendungsbereich kenn­zeichnet die frühe ägyptische, mesoamerikanische und chinesische Schrift. Die ältesten ägyptischen Hierogly­phen dienten zum Festhalten buchhalterischer Auf­stellungen sowie religiöser und staatlicher Propaganda. Nicht viel anders war es bei den Mayas, deren erhaltene Schriften neben Propaganda vor allem Geburten, Thron­besteigungen und Siege der Herrscher sowie astrono­mische Beobachtungen von Priestern zum Gegenstand haben. Die ältesten Zeugnisse der chinesischen Schrift stammen aus der Spätzeit der Shang-Dynastie und ge­ben religiöse Weissagungen über dynastische Angele­genheiten wieder, die in sogenannte Orakelknochen ein­geritzt wurden. Einer dieser Texte lautet so: »Der König las die Bedeutung des Sprungs [in einem vor Hitze ge­sprungenen Knochen] und sagte: ›Wird das Kind an ei­nem Regententag geboren, so steht es unter einem sehr guten Stern.‹«

Heute ist man versucht zu fragen, warum denn Gesell­schaften, die früh in den Besitz einer Schrift gelangten, die Mehrdeutigkeit in Kauf nahmen, die das Schreiben auf eine kleine Zahl von Funktionen und Schreibern be­schränkte. Doch schon diese Frage verdeutlicht die Kluft zwischen der antiken Sichtweise und unserer heutigen, die von der Erwartung einer Alphabetisierung breiter Bevölkerungsschichten geprägt ist. Gerade die gewoll­te eingeschränkte Anwendung früher Schrift en wider­setzte sich der Entwicklung eindeutigerer Schriftsysteme. Nach dem Willen mesopotamischer Könige und Prie­ster sollte die Schrift dazu dienen, daß amtliche Schrei­ber Aufstellungen über Schafe anfertigen konnten, die dem Staat als Abgabe geschuldet wurden, nicht aber zum Verfassen von Gedichten oder gar zum Schmieden von Komplotten durch die Untertanen. Wie der Anthropolo­ge Claude Lévi-Strauss einmal formulierte, bestand die Hauptfunktion der frühen Schrift darin, »die Knechtung von Mitmenschen zu erleichtern«. Bis auch nichtamtli­che Personen zu schreiben begannen, verging noch viel Zeit, in der die Schriftsysteme einfacher wurden und ihre Ausdrucksmöglichkeiten wuchsen.

So verschwand die Linear-B-Schrift mit dem Unter­gang der mykenischen Kultur um 1200 v. Chr., und Grie­chenland fiel wieder zurück in die Schrift losigkeit. Als die Schrift im 8. Jahrhundert v. Chr. erneut in Griechen­land Einzug hielt, war sie ebenso wie ihre Anwender und Anwendungen gänzlich verändert. Das neue Schrift sy­stem war keine mehrdeutige, mit Logogrammen ver­mischte Silbenschrift, sondern ein Alphabet, abgeleitet von dem der Phönizier und verbessert durch die getrenn­te Darstellung von Vokalen. Statt zum Erstellen von Li­sten über Schafe, die nur von Palastschreibern gelesen werden konnten, diente die neue alphabetische Schrift von Anfang an zum Verfassen von Poesie und heite­ren Texten, die zur privaten Lektüre bestimmt waren. Das älteste Zeugnis dieser Schrift stammt etwa aus dem Jahr 740 v. Chr. und wurde in einen athenischen Wein­krug geritzt. Es handelte sich um einen Vers, der einen Tanzwettbewerb ankündigte: »Wer von allen Tänzern am flinkesten tanzt, soll diese Vase als Preis gewinnen.« Das nächste Beispiel besteht aus drei Versen im dakty­lischen Hexameter, die in eine Tasse gekratzt wurden: »Ich bin des Nestors köstlich Trinkgefäß. Wer aus mir trinkt, den werden geschwind hinforttragen aphrodisi­sche Gelüste.« Die ältesten Zeugnisse des etruskischen und römischen Alphabets sind ebenfalls Inschrift en auf Tassen und Weingefäßen. Erst später wurde die Schrift als leicht erlernbares Instrument der privaten Kommu­nikation auch für Zwecke von Staat und Verwaltung um­funktioniert. Die Abfolge der Entwicklung war insofern bei der alphabetischen Schrift genau umgekehrt wie bei den älteren Bilder- und Silbenschriften.

Die beschränkten Anwendungsbereiche und Anwen­derkreise früher Schriften lassen ahnen, warum die Schrift in der menschlichen Evolution erst so spät auf­tauchte. Alle mit hoher oder gewisser Wahrscheinlichkeit eigenständigen Erfindungen der Schrift (in Mesopo­tamien, Mexiko, China und Ägypten) sowie alle frü­hen Adaptationen jener Systeme (z. B. auf Kreta, im Iran, in der Türkei, im Industal und in der Maya-Region) wa­ren eingebettet in Gesellschaften mit sozialer Schich­tung und komplexen zentralistischen politischen Insti­tutionen (deren notwendigem Zusammenhang mit der Landwirtschaft in einem späteren Kapitel nachgegan­gen wird). Die ältesten Schriftsysteme waren ganz auf den Bedarf jener politischen Institutionen zugeschnit­ten (z. B. Buchhaltung, Lobpreisung des Herrschers), und die Schreiber waren hauptamtliche Bürokraten, die von Nahrungsüberschüssen miternährt wurden, die bäuerli­che Untertanen erarbeiteten. Von Jäger-Sammler-Kultu­ren wurde die Schrift dagegen niemals entwickelt oder auch nur übernommen, da bei ihnen weder der institu­tionelle Bedarf noch die sozialen und landwirtschaft li­chen Mechanismen zur Erzeugung von Nahrungsüber­schüssen, deren es zum »Durchfüttern« von Schreibern bedurfte, vorhanden waren.

Die Einführung der Landwirtschaft und sodann eine jahrtausende lange gesellschaftliche Evolution waren demnach ebenso grundlegende Voraussetzungen für die Evolution der Schrift wie für die Evolution von Mi­kroben, den Auslösern unserer epidemischen Krankhei­ten. Unabhängig entstand die Schrift nur im Bereich des Fruchtbaren Halbmonds, in Mexiko und wahrscheinlich in China, also jenen Regionen, in denen die Landwirt­schaft in der jeweiligen Hemisphäre am frühesten auf­tauchte. Einmal aus der Taufe gehoben, fand die Schrift durch Handel, Eroberung und Religion den Weg von die­sen wenigen Kulturen zu anderen mit ähnlichen wirt­schaftlichen und politischen Bedingungen.

Die Landwirtschaft war mit anderen Worten eine not­wendige, aber noch keine hinreichende Bedingung für die Evolution beziehungsweise frühe Übernahme der Schrift. Am Anfang dieses Kapitels erwähnte ich, daß einige Gesellschaften mit Landwirtschaft und komplexer politischer Ordnung bis zum Beginn der Neuzeit noch keine Schrift entwickelt oder übernommen hatten. Für uns Zeitgenossen des 20. Jahrhunderts, die es gewohnt sind, Lesen und Schreiben als unentbehrlichen Bestand­teil einer komplexen Gesellschaft zu betrachten, ist das kaum vorstellbar, und doch war unter diesen Nachzüg­lern eines der größten Reiche der Welt von 1520 n. Chr., das südamerikanische Inka-Reich. Weiter gehörten dazu das mächtige Inselreich Tonga, das im späten 18. Jahr­hundert entstandene hawaiianische Reich, sämtliche Staaten und Reiche in Afrika südlich der Sahara und im tropischen Westafrika vor der Ankunft des Islams sowie die größten indianischen Gesellschaft en Norda­merikas im Tal des Mississippi und an dessen Nebenflüs­sen. Wie kam es, daß all diese Kulturen schrift los blie­ben, obwohl sie die gleichen Voraussetzungen besaßen wie andere, die dieses Stadium hinter sich ließen?

An dieser Stelle muß daran erinnert werden, daß die große Mehrzahl der schrift besitzenden Gesellschaft en diese von anderen, benachbarten Gesellschaft en über­nommen hatte oder sich von ihnen zur Entwicklung ei­ner eigenen Schrift hatte anregen lassen, während eine unabhängige Erfindung die große Ausnahme war. Die gerade aufgezählten schrift losen Gesellschaft en waren solche, in denen die Landwirtschaft später aufkam als in Mesopotamien, Mexiko und China (nicht ganz sicher ist dies bei Mexiko und der Andenregion, dem Ort der späteren Entstehung des Inka-Reichs). Mit genügend Zeit hätten schrift lose Gesellschaften früher oder später viel­leicht auch von selbst eine Schrift entwickelt. Wären sie nicht so weit von Mesopotamien, Mexiko und China ent­fernt gewesen, hätten sie die Schrift oder jedenfalls die Idee dazu vielleicht von diesen Zentren übernommen, wie es Inder, Mayas und die meisten anderen schrift -besitzenden Gesellschaften taten. Doch die Entfernung war nun einmal zu groß, und so blieb ihnen die Schrift bis in die jüngere Vergangenheit vorenthalten.

Besonders offenkundig ist die Bedeutung der Geogra­phie am Beispiel von Hawaii und Tonga. Beide trennten über 6000 Kilometer Ozean von den nächstgelegenen Schriftkulturen. Die anderen erwähnten Gesellschaft en veranschaulichen dagegen, daß Entfernungen, per Luft -linie gemessen, kein geeignetes Maß für den Grad der Abgeschiedenheit menschlicher Kulturen darstellen. Die Anden, die westafrikanischen Königreiche und die Mis­sissippimündung lagen nur rund 2000, 2500 und 1100 Kilometer von den jeweils nächstgelegenen Schrift kultu­ren entfernt (Mexiko, Nordafrika, Mexiko). Das sind viel geringere Distanzen als die, welche das Alphabet über­winden mußte, um von seinem Geburtsort am Ostrand des Mittelmeers innerhalb von 2000 Jahren nach Irland, Äthiopien und Südostasien zu gelangen. Menschen kön­nen ökologische Barrieren und Wasserflächen nun ein­mal nicht wie Vögel überfliegen – sie werden von ihnen zumindest gebremst. Zwischen den Staaten Nordafrikas (mit Schrift) und Westafrikas (ohne Schrift) lag die für Landwirtschaft und städtische Siedlungen gänzlich un­geeignete Sahara. Ähnlich trennten die Wüsten im Nor­den Mexikos die städtischen Zentren Südmexikos von den Reichen im Tal des Mississippi. Kontakte zwischen Südmexiko und den Anden erforderten entweder eine Seereise oder eine lange Kette von Landkontakten über die enge, bewaldete und nie für größere Siedlungen er­schlossene Landenge von Darién. So waren die Anden, Westafrika und das Mississippital von schriftkundigen Gesellschaften relativ stark isoliert.

Das soll nicht heißen, daß jene schriftlosen Gesell­schaften völlig isoliert waren. Haustiere aus Vordera­sien fanden am Ende den Weg durch die Sahara nach Westafrika, und auch islamische Einflüsse sowie die ara­bische Schrift drangen später dorthin vor. Mais breite­te sich von Mexiko in die Anden und später auch zum Mississippi aus. Wir sahen jedoch schon in Kapitel 9, daß die Nord-Süd-Achsen und die ökologischen Barrieren in­nerhalb Afrikas und Amerikas die Ausbreitung von An­baupflanzen und Haustieren verzögerten. Die Geschich­te der Schrift illustriert auf verblüffende Weise, welchen Einfluß Geographie und Ökologie auch auf die Ausbrei­tung menschlicher Erfindungen nahmen.