Kapitel 30

Als Corrisande in den Salon trat, wirkte sie eisern gefaßt.

Die beiden Leutnants sprangen auf, und Asko kam ihr entgegen und bot ihr seinen Arm. Sie nahm ihn und ließ sich zu einem der Sessel führen, auf dem sie sich dann niederließ. Nun sah sie auch, warum Delacroix nicht ebenfalls aufgestanden war. Er lehnte schlafend in seinem Sessel. Sein Kopf hing nach hinten gegen die Lehne, sein Mund war leicht geöffnet und gab den Blick auf eine beeindruckende Reihe weißer Zähne frei. Er schnarchte leise. Friedlich sah er aus ...

Sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Von Orven jedoch schien die Situation nicht lustig zu finden. Seine Miene zeigte, wie unangenehm sie ihm war.

„Verzeihen Sie“, bat er und klang äußerst peinlich berührt. „Wir hatten wenig Schlaf, und der Colonel ist bei dem Zusammenstoß heute morgen verwundet worden.“

„Er muß sehr müde sein“, erwiderte sie mitfühlend.

„Nicht nur er“, brummte von Görenczy.

Von Orven schüttelte den Colonel an seiner rechten Schulter. Er erwachte sofort.

„Verzeihen Sie“, sagte er, stand auf und verneigte sich. „Ich muß kurz eingenickt sein. Furchtbares Benehmen.“ Seine bernsteinfarbenen Augen funkelten amüsiert.

Corrisande mußte lächeln.

„Nun, Sir“, entgegnete sie taktvoll, „wir haben beide heute einiges durchlitten. Ich habe vollstes Verständnis für Ihre Müdigkeit.“

„Das freut mich“, entgegnete er. „Wie geht es Ihnen, Miss Jarrencourt? Haben Sie sich etwas erholen können von Ihrem ... Abenteuer?“

Sie errötete und haßte ihn dafür.

„Etwas“, gab sie zurück. Sie fühlte die Blicke aller drei Herren auf sich gerichtet und konnte deren Gefühle so klar lesen, als sprächen sie sie aus. Keiner von ihnen war im Moment besonders gut darin, seine Gefühle zu verbergen, und sie hatte von jeher einen guten Instinkt für Männer gehabt.

Von Görenczy war nicht sonderlich von ihr fasziniert, machte jedoch einen beunruhigten Eindruck. Von Orven war damit beschäftigt festzustellen, wie schön ihr offenes Haar aussah, das ihr in ungezügelter Pracht den Rücken hinunterfiel, und Delacroix stellte kritisch fest, daß sie älter wirkte als das junge Mädchen von zuvor.

Sie hätte auf Marie-Jeannette hören sollen, schließlich bezahlte sie das Mädchen für Ratschläge, was Wirkung und Stil anging.

Sie setzte sich tugendhaft in ihrem Sessel zurecht und gab den Herren ein Zeichen, ebenfalls Platz zu nehmen.

„Sie sehen anders aus“, sagte Delacroix, und sie wußte nicht, ob er ihr Kleid oder ihren Gesamteindruck meinte. „Sie werden mich für unverschämt halten, Miss Jarrencourt, aber sind sie ... hat es Sie ...“

„Ich bin unversehrt, danke der Nachfrage“, unterbrach sie ihn kurz. Sie hatte keine Absicht, über die verzweifelte Hektik zu sprechen, mit der sie ihren Körper begutachtet hatte, oder auch nur daran zu denken.

„Gott sei Dank“, sagte von Orven. „Es hätte auch anders ausgehen können. Sie hätten ...“

„Ich will nicht darüber reden“, unterbrach sie ihn, wußte jedoch, daß er hatte sagen wollen, sie hätte getötet werden können und nicht – etwas anderes.

Er errötete und verbeugte sich. Sie begriff, daß er die Gefahr, die Delacroix so deutlich erfaßt hatte, selbst nie wahrgenommen hatte. Um ihr Leben hatte er sich Sorgen gemacht, nicht um ihre Tugend. In seiner prononcierten Wohlanständigkeit war ihm ein anderer Gedanke wahrscheinlich gar nicht gekommen, und vermutlich hatte er das Ganze auch nicht so deutlich gesehen.

„Miss Jarrencourt“, begann Delacroix wieder, „wir wußten nicht, daß Sie noch hier sind. Mlle. Denglot berichtete uns, Sie wollten das Hotel verlassen. Wir dachten, Sie seien längst fort.“

Das wäre sie auch allzu gerne gewesen. Doch sie konnte nicht weg. Sie war sich sicher, daß die in ihrem Salon anwesenden Herren von dem Feyon-Bann wußten, also mußte sie aufpassen, was sie sagte.

„Wir haben uns umentschieden“, erklärte sie. „Meine Tante hat erfahren, daß die ‚Sonne ausgebucht ist, und ich war auch noch sehr müde von den Ereignissen der letzten Nacht. Also entschlossen wir uns zu bleiben, bis wir eine angemessene Ersatzunterbringung finden.“

Das klang einleuchtend, aber dennoch glaubte Delacroix es nicht. Er wußte nicht warum, doch es klang wie eine Ausflucht.

Nur – weshalb sollte sie lügen? Nun, es ging ihn nichts an. Sie mochte private Gründe haben, die sie zum Bleiben bewegten, und die hatten höchstwahrscheinlich nichts mit alldem hier zu tun. Familienangelegenheiten? Ein Verehrer? Sie war ein putziges kleines Ding. Wirklich süß.

„Diese Entscheidung hat uns einigermaßen erstaunt“, sagte von Orven. „Nach allem, was Mlle. Denglot uns erzählte, schienen Sie doch sehr erpicht darauf, sofort abzureisen. Verständlich und – wie ich meine – auch richtig. Sie sollten es immer noch tun.“

„Wie auch immer“, wandte Delacroix ein. „Wo ist sie jetzt? Mrs. Parslow, meine ich?“

„Sie ist spazierengegangen und wollte sich das eine oder andere Geschäft ansehen.“

„Sie hat Sie alleingelassen?“ fragte von Orven. „Ich hätte nie gedacht, daß sie ihre Pflichten Ihnen gegenüber so vernachlässigen würde. Natürlich“, er errötete, „steht es mir nicht an, sie zu kritisieren.“

„In der Tat“, pflichtete Corrisande ihm bei. „Mir war nicht nach einem Spaziergang. Also blieb ich hier. Das ist alles. Außerdem war ich ja nicht allein. Meine Zofe war bei mir. Sie ist auch jetzt noch da, auch wenn ich gerne gestehen will, daß sie natürlich kein ausreichender Schutz ist. Doch man erwartet ja auch nicht, daß man in seinem eigenen Zimmer angegriffen wird.“

„Aber ...“, begann von Orven wieder, der ihr zwar glaubte, dem es aber offenbar widerstrebte, eine so zarte, junge Dame schutzlos allein zu lassen.

„Du hast’s doch gehört“, unterbrach ihn Udolf. „Ihr war nicht nach einem Spaziergang. Also ist sie hier geblieben. Das ist alles.“

„Danke, Herr Leutnant“, sagte Delacroix. „Es ist außerdem im Moment egal.“ Er beugte sich vor, stützte seinen rechten Ellenbogen auf dem Knie ab. Sein linker Arm hing immer noch in der Schlinge. „Wir haben es wieder nicht geschafft, das Wesen zu fangen, doch wir waren diesmal näher dran als je zuvor. Leutnant von Orven, Mlle. Denglots kleines Geschenk ist offenbar echt. Kalteisen.“

Corrisande erinnerte sich an das Messer. Was die Minuten nach dem Kampf anging, so konnte sie sich nur an das Messer erinnern. Es hatte hell geglüht, ganz so wie das Delacroix’, und hatte ihr in seiner unerklärlichen Bedrohlichkeit fast den Atem genommen. Sie hatte maßlose Angst davor, war sich unwillkürlich bewußt, daß es tödlicher war als alles andere.

„Kalteisen“, erklärte er, „besitzt die Fähigkeit, einen Feyon zu töten. Es kann ihm schaden, wo normale Waffen versagen.“ Er wandte sich wieder den Männern zu. „Wir haben jetzt zwei solcher Klingen. Drei wären besser, aber ich bezweifle, daß es im ganzen Königreich Bayern noch eine dritte gibt, die wir bekommen könnten. Ich kann kaum glauben, daß Cérise diese Klinge ergattert hat. Ich frage mich, was sie dafür hingelegt hat.“

„Das fragt man besser nicht“, brummte von Görenczy, und von Orven funkelte ihn strafend an, sagte aber nichts.

„Wir müssen mit Vonderbrück reden“, konstatierte Delacroix. „Er wird wissen, wann der Feyon wieder umgeht, und diesmal werden wir ihn zur Strecke bringen.“

Er sah sie an.

„Sie wissen, was das heißt, Miss Jarrencourt?“

Sie nickte nur, schluckte und verstand nicht, wie seine Stimme so ruhig und beiläufig klingen konnte, während er ein solches Opfer von ihr verlangte.

Es war Asko, der empört auffuhr.

„Sie können Miss Jarrencourt nicht einer solchen Gefahr aussetzen!“ rief er. „Das nächste Mal bringt die Bestie sie vielleicht um. Das hat sie diesmal schon beinahe getan.“

Nein, dachte Corrisande. Sie zu ermorden war nicht ihr Ziel.

„Es hat sie aber nicht getötet“, widersprach der Colonel, „und wir werden bei ihr sein, wenn es kommt. Sie wird uns sagen können, wo genau es sich materialisiert.“

„Reisen Sie ab!“ bat von Orven, ging vor ihr in die Hocke und sah ihr ernst ins Gesicht. „Weder der Colonel noch Leutnant von Görenczy oder ich selbst können für Ihre Sicherheit garantieren. Wir haben kein Recht, das von Ihnen zu verlangen. Ich kann nicht erlauben, daß Sie sich so in Gefahr bringen.“

„Sie haben auch nicht das Recht, mir etwas zu erlauben oder zu verbieten, Herr Leutnant“, sagte sie und lächelte müde. „Aber ich danke Ihnen für Ihre Fürsorge. Ich weiß zu schätzen, daß Sie mich beschützen möchten. Doch ich habe diesen Teufel auf meiner Haut gespürt“, sie sah, daß den artigen jungen Mann diese allzu physische Aussage etwas konsternierte, „und ich will, daß er vernichtet wird. Colonel Delacroix“, sie löste ihren Blick von dem des Leutnants vor ihr und sah in die seltsam gelblichen Augen seines Kameraden, „ich werde für Sie den Lockvogel spielen.“

„Oh Gott“, murmelte von Orven und sprang auf.

„Wackeres Mädchen“, lobte Delacroix und lächelte, etwas, das er nicht oft tat. Sein Antlitz veränderte sich für einen Augenblick, und sie lächelte unwillkürlich zurück, bevor sie auch nur darüber nachdenken konnte.

„Gratuliere“, sagte Udolf. „Sie haben Mut.“

„Nun aber, meine Herren“, sprach sie, erhob sich so majestätisch wie möglich und zwang somit die Herren, auch aufzustehen, „würde ich mich gerne zurückziehen und ausruhen. Ich gehe davon aus, daß Sie mich informieren, wenn Sie mich brauchen.“

Sie verbeugten sich und wandten sich zum Gehen. Sie warf Delacroix einen Blick zu, der ihn zurückhielt, als die anderen beiden den Raum verließen.

„Colonel“, flüsterte sie, trat dicht an ihn heran und blickte in sein südländisch-dunkles Gesicht. „Ich will, daß Sie mir etwas versprechen. Sie dürfen nicht zulassen, daß es mich ... daß es ...“ Sie verhaspelte sich und bebte ein wenig. Er umfing sie mit einem Arm, hielt sie.

„Ich werde es nicht zulassen“, versprach er. Dann ging er.

Corrisande schloß die Tür hinter ihm. Der Zettel war jetzt in seiner Tasche. Das war aber auch das einzige, worüber sie sich freuen konnte. Ihr Können als Taschendiebin war immer noch so gut wie früher.

Auf dem Korridor stand der Colonel und zerbrach sich den Kopf. Er griff in die Tasche und holte einen Zettel hervor. Warum hatte sie das getan – und wie? Er hatte es kaum gespürt. Nur ein professioneller Langfinger, wie er einer gewesen war, konnte so etwas bemerken. Sie war geschickter und unauffälliger als eine Reihe berufsmäßiger Beutelschneider, die er persönlich gekannt hatte.

Mit einer Hand faltete er das Papier auf und las die Warnung.

Miss Jarrencourt war weitaus interessanter, als man meinen mochte, dachte er grimmig.

Das Obsidianherz
titlepage.xhtml
Cover.html
Copyright.html
Danksagung.html
Europa_1865.html
Handelnde_Personen.html
Einleitung.html
Kapitel_1.html
Kapitel_2.html
Kapitel_3.html
Kapitel_4.html
Kapitel_5.html
Kapitel_6.html
Kapitel_7.html
Kapitel_8.html
Kapitel_9.html
Kapitel_10.html
Kapitel_11.html
Kapitel_12.html
Kapitel_13.html
Kapitel_14.html
Kapitel_15.html
Kapitel_16.html
Kapitel_17.html
Kapitel_18.html
Kapitel_19.html
Kapitel_20.html
Kapitel_21.html
Kapitel_22.html
Kapitel_23.html
Kapitel_24.html
Kapitel_25.html
Kapitel_26.html
Kapitel_27.html
Kapitel_28.html
Kapitel_29.html
Kapitel_30.html
Kapitel_31.html
Kapitel_32.html
Kapitel_33.html
Kapitel_34.html
Kapitel_35.html
Kapitel_36.html
Kapitel_37.html
Kapitel_38.html
Kapitel_39.html
Kapitel_40.html
Kapitel_41.html
Kapitel_42.html
Kapitel_43.html
Kapitel_44.html
Kapitel_45.html
Kapitel_46.html
Kapitel_47.html
Kapitel_48.html
Kapitel_49.html
Kapitel_50.html
Kapitel_51.html
Kapitel_52.html
Kapitel_53.html
Kapitel_54.html
Kapitel_55.html
Kapitel_56.html
Kapitel_57.html
Kapitel_58.html
Kapitel_59.html
Kapitel_60.html
Kapitel_61.html
Kapitel_62.html
Kapitel_63.html
Kapitel_64.html
Kapitel_65.html
Kapitel_66.html
Kapitel_67.html
Kapitel_68.html
Kapitel_69.html
Kapitel_70.html
Kapitel_71.html
Kapitel_72.html
Kapitel_73.html
Kapitel_74.html
Kapitel_75.html
Kapitel_76.html
Kapitel_77.html
Kapitel_78.html
Kapitel_79.html
Kapitel_80.html
Kapitel_81.html
Kapitel_82.html
Kapitel_83.html
Kapitel_84.html
Kapitel_85.html
Kapitel_86.html
Kapitel_87.html
Kapitel_88.html
Kapitel_89.html
Kapitel_90.html
Kapitel_91.html
Kapitel_92.html
Kapitel_93.html
Kapitel_94.html
Kapitel_95.html
Kapitel_96.html
Epilog.html
Glossar.html