Kapitel 64

Pater Emanuele war verärgert. Nichts lief, wie er es wollte. Er hatte Fräulein Grotian nicht vor den Folgen ihrer Begegnung mit dem Dämon schützen können. Statt dessen war ihm nichts anderes übriggeblieben, als mit den Eltern um die Genesung und das Wohlergehen der Tochter zu beten, deren Seele er um das Opfer ihrer körperlichen Existenz hätte retten mögen. Viel hatte nicht gefehlt, und es wäre ihm gelungen. Das Beten um ein Ergebnis, das er gar nicht ersehnte, hatte ihn fast zwei Stunden gekostet.

So nutzte er die Momente stillen Gebets dafür, sich um die Folgen seiner Entdeckung Gedanken zu machen. Ein Wiatruschod und ein Blutsauger. So gefährlich und ekelhaft ersterer mit seiner dämonischen Fähigkeit, Menschen als Hüllen zu übernehmen und in ihren Leichen einherzuspazieren, war, so war dieses Wesen doch so selten und durch Gottes Willen so sehr an arkane Regeln von Raum und Zeit gebunden, daß es dem Pater im Vergleich zu einem Vampir fast angenehmer war. Ein berechenbarer Feind – egal wie mächtig.

Anders war das mit den Blutsaugern. Sie waren schleichendes Gift. Nichts hinderte sie, alle und jeden anzugreifen und zu verderben, Männer wie Frauen, sie waren da nicht wählerisch. Sie verkörperten unentwegte Hinterlist, wandelnde Lüge und lockende Sünde. Sie waren ein Teil der Schlange aus dem Paradies, und zusammen gaben die Fähigkeiten der beiden Sí einen Schierlingsbecher an süßer Verderbtheit, dem kein menschliches Wesen gewachsen war.

Die junge Dame war mit Hilfe des Arztes schnell zu sich gekommen und hatte nicht gewußt, was ihr geschehen war. Ohnmächtig war sie geworden. Mehr wußte sie nicht. Sie war schwach und sehr durstig, es ging ihr jedoch oberflächlich gesehen gut, wenn man nicht wußte, welchen Schaden sie tatsächlich genommen hatte, und natürlich hatte der Arzt es nicht gewußt, sondern war der übliche fortschrittsgläubige Materialist, der unter Lebensrettung allein den Körper und nicht auch die Seele verstand.

Als der Pater endlich in sein Zimmer zurückkehren konnte, war Giuseppe noch nicht dort. Doch die drei Glaubensbrüder aus St. Anna waren angekommen und warteten schon geraume Zeit auf ihn. Er entschuldigte sich nicht für sein Zuspätkommen. Die Dinge waren eben so, und zudem war er der Ranghöhere, hatte sich in der Hierarchie der Bruderschaft sehr weit nach oben gearbeitet.

Einer der Mönche war ein Akolyth des Arkanen. Ein Anfänger in der Wissenschaft der Magie. Er konnte Bruder Michael nicht wecken, hoffte aber, im Refugium bessere Aussichten darauf zu haben. Er konnte die Kraftlinien nicht nach Machtverschiebungen untersuchen, konnte nicht erfassen, ob das Manuskript schon gefunden worden war oder nicht, glaubte aber, er werde es möglicherweise schon spüren, wenn ein so mächtiges Artefakt in greifbarer Nähe wäre. Eventuell. Vielleicht. Nach Fey-Signaturen zu suchen war ihm auch nicht möglich. Er versuchte es, erzielte aber kein Ergebnis. Seinen Bemühungen nach gab es keine Fey im Hotel, und das war unwahrscheinlich.

Der junge Klosterbruder war ein Nervenbündel. Pater Emanueles beißende Kommentare über seine mangelnden Fähigkeiten halfen ihm nicht, sich zu entspannen. Er konnte nichts von dem, was Emanuele von ihm verlangte. Er könne Menschen ein wenig beeinflussen, sagte er, und wenn eine dunkle Kreatur in wirklich greifbarer Nähe war, vermochte er sie als solche zu erkennen, und vielleicht konnte er sich auch ein wenig vor ihr schützen.

„Ein wenig?“ fragte der Pater. Immer würde es nicht funktionieren, meinte er. Er habe keine Erfahrung. Das war es, was ihm fehlte. Erfahrung, und man sammelte nur Erfahrung, wenn man geheimnisvolle Kreaturen hatte, an denen man üben konnte. Doch in München hatte es seit vielen Jahren keine vergleichbaren Vorkommnisse gegeben. Das letzte war Jahrzehnte her.

Letztlich hatte Pater Emanuele die beiden anderen Klosterbrüder mit Bruder Michael nach St. Anna geschickt. Sie trugen ihren Mitbruder zur Hintertür hinaus. Den Akolythen hatte er dabehalten.

„Wer bildet Sie aus?“ fragte er den unscheinbaren jungen Mann, der ihm noch kein einziges Mal direkt in die Augen gesehen hatte.

Niemand. Man hatte ihm in Rom eine Grundausbildung gegeben und ihn dann nach München versetzt. Er hatte natürlich Bücher. Es war auch nicht so, daß er faul sei. Doch ohne Mentor, ohne Ausbilder konnte man wenig tun. Es war zu gefährlich. Er konnte nicht einfach zur Probe ein paar große Zauber versuchen. Dazu brauchte man einen Meister, der einen sicherte und berichtigte, und da war kein Meister weit und breit. Es tat ihm sehr leid, daß er all das nicht konnte, was der Pater von ihm erwartete. Aber es war wirklich nicht seine Schuld. Sein magisches Talent war nie groß gewesen, und seine Ausbildung war eben nicht abgeschlossen.

Eventuell konnte ja Hochwürden seinen Einfluß geltend machen, damit man ihn zurück nach Rom versetzte? Oder damit man ihn in einem Betätigungsfeld einsetzte, das seiner Eignung besser entsprach? Dem Archiv zum Beispiel? Das Archiv war ein wunderbarer Ort. Er liebte Bücher und besaß einen ausgeprägten Ordnungssinn. Tatsächlich war er in aller Bescheidenheit der Meinung, im Archiv weitaus nützlichere Arbeit verrichten zu können.

Natürlich wußte er, daß alles, was sie taten, zu einem guten Zweck geschah. Aber welchen guten Zweck konnte es haben, daß er mit einer ungenügenden Ausbildung hier in München saß? Es war eine schöne Stadt, doch immerhin war er Mönch und verließ das Refugium nur selten. Das Weltliche interessierte ihn nicht. Darauf konnte sich Hochwürden verlassen.

„Nun“, sagte Pater Emanuele, nachdem er den wehleidigen Entschuldigungen des jungen Mannes eine Weile gelauscht hatte, „wenn Sie keine Zauber beherrschen, können Sie ja vielleicht auf andere Weise behilflich sein.“

Er öffnete den Schrank in Bruder Michels Schlafraum und entnahm ihm einen Satz ziviler Kleidung.

„Probieren Sie das an. Ich will, daß Sie durchs Hotel gehen und Informationen und Eindrücke für mich sammeln. Versuchen Sie es mit Klatsch. Schwatzen scheint Ihnen zu liegen. Finden Sie eine Ausrede, um in die Hotelküche zu kommen, reden Sie mit den Pagen und Mädchen. Ich will wissen, was los ist, und einem Priester werden sie weniger erzählen als Ihnen. Wenn Sie eine geheimnisvolle Kreatur wahrnehmen – falls zufällig eine direkt neben Ihnen stehen sollte –, dann folgen Sie ihr sehr vorsichtig. Tun Sie nichts. Lassen Sie sich nicht erwischen. Finden Sie nur heraus, wohin sie geht.“

Bruder Michaels Kleidung sah an dem Zauberlehrling nicht wirklich überzeugend aus, doch es würde gehen. Der junge Mann begann seine Patrouille mit einem hoffnungsvollen Lächeln und dem Versprechen, sofort zurückzukommen, wenn er etwas herausfand. Dann schloß er die Tür hinter sich, und Pater Emanuele dankte dem Herrn für die plötzliche erholsame Stille.

Der Akolyth war noch nicht zurück, als sich die Tür wieder öffnete und ein recht zerzauster, niedergeschlagener Giuseppe eintrat. Er hatte blaue Flecken im Gesicht und an den Händen. Er war wütend, aber auch zutiefst beschämt. Man hatte ihn erwischt.

„Erwischt? Wobei?“ fragte der Pater frostig. „Raus damit, sofort, und zwar alles!“

„Ich habe versucht, die Kreatur der Finsternis zu erreichen“, sagte er schuldbewußt.

„Mit ,Kreatur der Finsternis ist, so nehme ich an, Miss Jarrencourt gemeint?“ Pater Emanueles Stimme war sanft und höflich. Menschen, die ihn gut kannten, suchten gemeinhin das Weite, wenn er so besonders gefaßt und freundlich wirkte. Für diese Art von Subtilität fehlte Giuseppe jedoch das Einfühlungsvermögen.

Ja, das Dämonenweib habe er gesucht. Er war sicher, daß man ihr nicht noch eine einzige Nacht in ihrem Bett gönnen durfte, ihr stand kein friedlicher Schlaf zu und nicht der Luxus von Freiheit. Man mußte sie fangen, man mußte sie verhören, man mußte sie aufhalten – und er war der Mann, es zu tun.

Fast hatte er sie erreicht. Er wußte ihre Zimmernummer, und sicher hätte er sie gefangensetzen können, ohne daß man ihn gesehen hätte. Er war ganz allein auf dem Flur gewesen. Niemand war da außer ihm. Doch dann war ein Schuß gefallen. Zwei Türen entfernt von Miss Jarrencourts Suite knallte ein Schuß und schlug ein großes, splittriges Loch in die Tür, und zwar aus Richtung des Zimmers. Der Herr hatte ihn beschützt. Er war schon an dieser Tür vorbei gewesen, als es geschah. Sekunden vorher hatte er sie gerade erst passiert.

Er hatte noch mehr wahrgenommen. In einem der Räume weiter den Gang hinunter hatte er eine Frau schreien hören, und hinter ihm kam aus der Richtung der explodierenden Tür ein qualvolles Aufzischen. Blut troff aus dem Nichts auf den Boden, und dann sah er ihn, nur kurz, nur Sekunden, einen Mann. Einen Augenblick lang war er vollständig sichtbar, zu kurz, um ihn beschreiben zu können. Eine kaum wahrnehmbare Gestalt. Doch wenn er sich anstrengte, konnte er weiter den Umriß eines Mannes erkennen. Groß? Vermutlich.

Wer immer er war, er war nicht ganz sichtbar geworden, blieb der schemenhafte Eindruck einer männlichen Gestalt. Giuseppe war sicher, daß es seinem besonderen Talent zu verdanken war, daß er ihn überhaupt wahrgenommen hatte. Gott war auf seiner Seite, schärfte seine Sinne und schenkte ihm Einsicht.

Er hatte leise Schritte auf dem Teppich gehört, die sich von der Tür entfernten. Er stand bereits an Miss Jarrencourts Tür, da entschied er sich, ihre Bestrafung zu verschieben und zunächst dem unnatürlichen Phänomen zu folgen, das sich mit kaum hörbaren Schritten entfernte.

Da flog die Tür gegenüber auf, und Delacroix und einer seiner Offiziere stürzten aus dem Raum.

Sie hatten gekämpft, und er hatte versagt, hatte den Kampf verloren. Die Schuld darüber drückte ihn nieder. Erst später war er erwacht, wieviel später wußte er nicht. Er hatte einige Zeit gefangen in einem leeren Raum gelegen. Lange hatte er um Gottes Hilfe gebetet.

Er streckte die blutigen Handgelenke vor, sie waren zerscheuert und zerschunden. Magie hatte er gespürt, doch sie hatte ihn nicht behindert. Der Herr war auf seiner Seite gewesen.

Pater Emanuele musterte die verletzten Handgelenke.

„Interessant“, sagte er. „Recht interessant. Das Ergebnis rechtfertigt fast schon den Ungehorsam. Aber nur beinahe. Du erinnerst dich an meine Anordnung? Oder hast du sie vergessen?“

Der Klosterbruder nickte.

„Dann wiederhole sie!“

„Ich sollte die Dämonin nicht ohne Ihre ausdrückliche Anweisung angehen.“

„Die Anordnung steht noch. Genau so. Wiederhole!“

„Ich darf ohne Ihre ausdrückliche Anweisung Miss Jarrencourt nicht angehen.“

Der Diener Gottes nickte.

„Verstehst du, was du da sagst?“ fragte er sanft.

„Ja, Pater“, entgegnete der Mönch.

„Hast du es das erst Mal auch verstanden?“

„Ja. Ich dachte nur ...“

„Du bist nicht hier, um zu denken. Ich bin hier, um zu denken, du bist hier, um zu gehorchen. So ist die Aufteilung, die göttliche Ordnung der Dinge. Verstanden?“

„Ja, Pater.“

„Hattest du das bereits verstanden, als du diesen Raum verließest?“

„Ja, Pater.“

„Dann weißt du um deine Sünde und wirst Buße tun.“

„Ja, Pater.“

„Die Buße werde ich dir auferlegen, wenn dies vorüber ist. Du mußt geduldig darauf harren. Erstklassige Hotels haben eine unchristliche Einstellung zu Blutflecken und Flagellantenspuren.“

„Ja, Pater.“

„Gut“, sagte Pater Emanuele. „Du wirst Miss Jarrencourt in Frieden lassen, bis ich dir sage, daß du sie holen darfst.“

„Ja, Pater.“

„Gut“, sagte Pater Emanuele. „Dann kann ich dir in christlicher Nächstenliebe versichern, daß dir demnächst verziehen werden wird. Nach deiner Sühne.“

„Danke, Pater.“

Die Tür öffnete sich wieder, und der Akolyth kam zurück. Er strahlte vor Begeisterung.

„Pater“, sagte er und ignorierte den Bruder vollständig. „Ich habe etwas herausgefunden. Ich glaube, es ist wichtig!“

Er lächelte fröhlich und machte eine kleine Pause, um die Spannung zu erhöhen.

„Nämlich?“ fragte Pater Emanuele, süße Geduld in der Stimme.

„Ein Mann ihres Teams ist tot. Ihr Magier, denke ich. Erstochen. Niemand weiß wie, aber die Polizei hat heute die Leiche abgeholt. Das heißt, sie sind ohne magische Unterstützung.“

Der Priester lächelte.

„Gut gemacht“, sagte er. „Ausgezeichnet, Bruder. Ihre Talente liegen in der Informationsbeschaffung. Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann. Nun möchte ich, daß Sie Ihr Talent dahingehend verwenden, herauszufinden, was mit den Offizieren ist und ob sie das Manuskript bereits haben. Ich bin sicher, daß Sie mich auch hierin nicht enttäuschen möchten.“

„Danke, Hochwürden“, sagte Bruder Ignatius und wußte nicht so recht, warum seine beiden Münchner Brüder so nervös wurden bei dem Gedanken an diesen großherzigen, netten Pfarrer.

Das Obsidianherz
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