Kapitel 43

Von Orven war wütend. Er stürmte die Treppen in einer Geschwindigkeit hinunter, die schon an Unhöflichkeit grenzte, und zwang Gäste, ihm aus dem Weg zu gehen. Gott sei Dank waren nicht viele Menschen im Treppenhaus, ein Großteil der Gäste hatte das Hotel inzwischen verlassen. Leutnant von Görenczy hatte Mühe, seinem Sturmschritt zu folgen.

„Asko“, rief er. „Es ist verdammt noch mal nicht nötig, die Treppen runterzufliegen. Wir haben laut dem Magier noch genug Zeit.“

Von Orven drehte sich nicht einmal nach ihm um.

„Asko! Denk an den Eindruck, den du machst. Du wirkst, als wären alle Teufel der Hölle hinter dir her.“

Diesmal wurde Asko langsamer, wandte sich sogar zu seinem Freund um. Seine hellblauen Augen funkelten, und von seiner üblicherweise besonnenen Ausstrahlung war nicht viel übrig.

„Das hat er mit Absicht gemacht!“ zischte er, und seine Stimme klang erbost.

„Was hat wer mit Absicht gemacht?“ fragte von Görenczy.

„Daß er Miss Jarrencourt allein die Dienertreppe hinunterführt. Er hat ihr nicht einmal Zeit gegeben, darüber nachzudenken. Er hat keine Ahnung, was in ihr vorgeht. Er ist eiskalt, ohne jedes Mitgefühl. Man kann doch so ein wohlanständiges Mädchen nicht einfach über die Hintertreppe schleppen. Das tut man nicht. Es ist unmöglich.“

Außerdem war er mit ihr allein, und Asko war sicher, daß er das nicht sein sollte. Er wollte nicht, daß sie mit einem solchen Mann allein war.

„Asko, sie kennt die Hintertreppe. Sie war doch selbst schon da, und sie ist dort heute morgen ganz allein hochgestiegen, war sogar so frei, meinen Begleitschutz abzulehnen.“

Asko blieb abrupt stehen.

„Wirklich? Wie befremdlich. Ich frage mich, was sie da wollte.“

„Nun, sie sagte, sie wolle nicht, daß man denkt, sie würde sich heimlich mit Herren vom Militär treffen.“

„Wie bitte? Wovon redest du überhaupt?“

„Davon, daß sie nicht von mir eskortiert werden wollte!“

Asko sah ihn böse an. Dann nahm er seinen Weg nach unten wieder auf, diesmal in etwas maßvollerem Schritt.

„Udolf“, sagte er, „sie ist eine ehrbare junge Dame aus den besten Kreisen. Natürlich will sie sich nicht von dir begleiten lassen. Höchstwahrscheinlich hat sie sich auch ein bißchen vor dir gefürchtet. Immerhin sind deine Manieren ja etwas forsch zu nennen.“

Von Görenczy schnaufte abfällig und zwirbelte seinen Schnurrbart.

„Angst vor mir hatte sie ganz sicher nicht. Warum auch, verdammt noch mal? Ein Mädchen, das genug Mut hat, sich zum zweiten Mal einem Monster zu stellen, das sie beinahe vergewaltigt hat, hat bestimmt keine Angst vor dem braven Udolf. Sie war wirklich so keck, mir zu sagen, sie wisse schließlich, daß ich ihre Zofe hübscher fände als sie.“

„Was?“ Von Orven hielt zum zweiten Mal an. Er starrte Udolf mit offenem Mund an und war dunkelrot angelaufen.

„Na, stimmt doch. Ich finde ihre Zofe hübscher als sie. Jeder fände ihre Zofe hübscher als sie. Hast du das Dekolleté gesehen? Und diese entzückenden grünen Augen, und diese süßen Unterschenk... hörst du jetzt auf damit!“

Asko hatte ihn an seinem prächtigen Uniformrock gepackt und schüttelte ihn.

„Was hast du da gesagt?“

„Ihre Zofe, Marie-Jeannette, ist ...“

„Nein. Vorher!“

Von Görenczy mußte feststellen, daß er einen Fehler gemacht hatte.

„Oh. Ah. Nichts“, brummte er und verfluchte sich dafür, daß er die Kunst, erst zu denken und dann zu handeln, noch immer nicht beherrschte.

„Du sagst, das Ding hätte sie ... entehrt?“

„Nein. Hat es nicht. Ich meine, sie sagte, es hätte nicht. Nicht wirklich. Sie hätte gewiß ganz anders reagiert, wenn es hätte, oder? Schließlich hat Delacroix sie gefragt, ob es ...“

„Delacroix hat das gewußt? Du – hast das gewußt?“

„Asko – verdammt noch mal! Hör auf, mich zu schütteln, oder ich sehe mich genötigt, dir eins aufs Kinn zu verpassen. Laß mich los. Du weißt, ich habe Leute schon für weniger gefordert.“

Asko von Orven trat einen Schritt von ihm zurück und starrte ihn fassungslos an.

„Du hast das gewußt?“ fragte er erneut, steif vor mühsamer Selbstbeherrschung.

„Ja natürlich. Ich war doch dabei. Du im übrigen auch. Hast du nicht gesehen, wie das Ding ihr in die Kleider gefahren ist?“

Asko starrte ihn voller Bestürzung an.

„Nein“, sagte er, „das habe ich nicht gesehen. Ich bin gestürzt und habe mir den Kopf gestoßen. Ich war leicht benommen.“ Er schluckte schwer. „Du hast das gewußt und mir nicht gesagt? Du hast das gewußt und erlaubt, daß sie sich dem nochmals aussetzt? Wenn dir deine eigene Ehre schon nichts gilt, sollte dir nicht wenigstens ihre etwas gelten? Von ihrer Sicherheit und ihrem Leben einmal abgesehen?“

„Das ist nicht fair!“ klagte Udolf. „Sie hat sich aus eigenem Antrieb zur Verfügung gestellt. Du hast es doch gehört! Du warst dabei.“

„Delacroix hat sie da hineinmanövriert. Großer Gott! Ich fange an zu begreifen!“ Er war zornig auf sich selbst. „Ich muß blind gewesen sein! Das hat sie gemeint, als sie sagte, sie hätte diesen Teufel auf der Haut gespürt. Heilige Maria, Mutter Gottes! Bei dem Gedanken allein kann einem schlecht werden. Jedes Gefühl wird entwürdigt! Wenn wir das Wesen diesmal nicht aufhalten können – ich will mir die Folgen nicht einmal vorstellen. Ich werde mir nie verzeihen, wenn ihr etwas passiert. Ich meine, wie kann man einen gottverdammten Schatten davon abhalten, eine Frau zu ... man darf sich gar nicht vorstellen, daß so eine teuflische Kreatur sich ein Mädchen zur Kopula...“ Er schaffte es nicht, seine Sätze zu vollenden.

Udolf schlug seinem Freund aufmunternd auf die Schulter.

„Asko, du machst viel zuviel Gewese darum. Wenn die Dame den Mut hat, dieser Gefahr erneut gegenüberzutreten, dann sollten wir die Standhaftigkeit haben, sie heil da durchzubringen. Ich wünschte, ich hätte nichts gesagt. Hoffentlich kannst du dich trotzdem konzentrieren. Wir müssen uns wirklich zusammenreißen. Ganz besonders, weil wir wissen, worum es geht.“

„Natürlich, und der edelmütige Delacroix hat uns ja gesagt, worum es geht. Daß wir Verluste haben werden. Jetzt weiß ich, was er meinte.“ Er zischte vor Empörung. „Mir bleibt nur, hier meine Pflicht zu tun. Aber wenn das vorbei ist, werde ich Delacroix fordern. Er braucht dringend eine Lektion. Wirst du mir sekundieren?“

Sie liefen weiter, durch die Hotelhalle und die Küche. Von dort führte eine schmale Stiege in den Keller.

„Wenn du darauf bestehst, werde ich das“, erwiderte von Görenczy. „Ich hoffe aber, du überlegst es dir noch mal. Zum einen tut der Mann nur seine Pflicht. Zum anderen, selbst wenn du das nicht gern hörst, bin ich mir nicht sicher, ob du ein Recht hast, ihn für sein Benehmen bezüglich einer Dame zu fordern, mit der du nicht verwandt und für die du auch in keiner Weise verantwortlich bist. Du könntest dein Leben für eine Sache geben, die dich gar nichts angeht, und weder dein noch Delacroix’ verfrühtes Dahinscheiden würden Miss Jarrencourt in irgendeiner Weise helfen. Aber laß uns nicht daran denken. Wir müssen uns auf andere Dinge konzentrieren.“

Er fügte nicht hinzu, daß Duelle verboten waren. Sie wußten es beide, und zumindest Udolf hatte das Gesetz längst gebrochen. Manche Gesetze ließen sich im Militär schlichtweg nicht durchsetzen. Solche Übertretungen pflegte man innerhalb des Regiments zu behandeln.

Aber da war noch etwas. Udolf wußte nicht, welche etwaigen Erfahrungen sein Freund auf dem Gebiet hatte, aber selbst wenn sie größer waren als er annahm, glaubte er nicht, daß es leicht sein würde, einen Kampf gegen Delacroix zu gewinnen. Das war jedoch kein Beweggrund, der einem Offizier von Rang und Stand etwas gelten durfte.

Sie erreichten den Fuß der Treppe. Die Kellertür war offen. Sie traten ein. Ein großer Raum führte zu einem Flur und der wieder tief in die Eingeweide des Hotels. In einigen Laternen brannten Kerzen, doch sie schienen mehr Schatten als Licht zu verbreiten. Asko gefiel das ganz und gar nicht.

Delacroix stand mit Corrisande im ersten Raum. Er schaute finster und grimmig, sein Kinn war entschlossen vorgereckt, sein Gesicht hart und verschlossen. Corrisande stand nur wenige Schritte von ihm entfernt. Irgend etwas war mit ihren Augen, bemerkte von Orven. Sie glitzerten. Dann wurde ihm klar, daß sie geweint haben mußte.

Pistolen oder Schwerter, fragte er sich, schießen oder fechten? Er war ein guter Schütze. Bei einem Fechtkampf würde er wahrscheinlich gegen den kräftigeren Mann verlieren. Der Colonel hatte die größere Reichweite und war trotz seiner Wuchtigkeit erstaunlich behende und flink auf den Füßen. Ein Ehrenmann würde genau aus diesem Grund nicht das Schwert wählen. Aber Asko war sich nicht sicher, ob Delacroix ein Ehrenmann war. Im Gegenteil.

Er lächelte Corrisande an.

„Geht es Ihnen gut?“ fragte er und suchte verzweifelt nach etwas, das er zu ihrer Aufmunterung sagen konnte. Ihm fiel nichts ein. Er hätte sie gerne in die Arme genommen, um sie zu trösten. Das war allerdings undenkbar.

„Danke, Herr Leutnant, mir geht es gut“, antwortete sie, erwiderte aber sein Lächeln nicht. Er sehnte sich nach ihrem Lächeln und nach den Grübchen, die sich dann in ihren Wangen bildeten. Doch er wußte, daß sie keinen Anlaß hatte zu lächeln.

Die Tür öffnete sich erneut, und Delacroix hatte sein Messer wurfbereit in der Hand, noch ehe ein Eindringling zu sehen war.

Es war jedoch nur Cérise.

„Sei so gut und erstich mich nicht gleich!“ sagte sie. „Ich bin gekommen, um zu helfen und nicht, um mich von dir aufspießen zu lassen.“

„Du solltest nicht hiersein“, antwortete Delacroix und senkte die Waffe. „Du kannst uns nicht helfen. Du wirst dich nur gefährden. Ich habe dir doch gesagt, wir können dich nicht schützen.“

Sie lächelte so süß, daß von Görenczy es sich nicht verkneifen konnte, etwas Gift zu versprühen.

„Sie werden nur im Weg sein. Warum gehen Sie nicht ein paar Tonleitern üben oder so was? Wir sind beschäftigt.“

Ihr Lächeln erlosch keine Sekunde lang.

„Das sehe ich. Furchtbar damit beschäftigt, Miss Jarrencourt zu bewachen. Aber wer, wenn ich fragen darf, schützt Miss Jarrencourt vor Ihnen? Drei Junggesellen zusammen mit einem unbegleiteten jungen Mädchen – Miss Jarrencourt wird gewiß dankbar sein, wenn wenigstens ich auf ihren Ruf achte. Nicht wahr, meine Liebe?“

Ein zynisches Lächeln kroch über Delacroix’ Züge.

„Das ist einmalig“, schnaubte er. „Sag nicht, du hast dich hier herunterbemüht, um ihr deine Dienste als Anstandsdame anzutragen. La fille mal gardée, und der Bock wird zum Gärtner. Wie selbstlos von dir, uns zu Hilfe zu kommen.“

„Laß uns nicht streiten“, antwortete Cérise. „Sollten Sie alle sich nicht besser um irgendwelche übersinnlichen Phänomene kümmern?“ Sie stellte sich an die Wand neben der Tür und fegte ein Stäubchen von ihrem cremefarbenen Kleid mit zartgrüner Stickerei, das keinesfalls so aussah, als sei es für Einsätze im Keller gedacht. „Ich stelle mich einfach hier hin und komme Ihnen nicht in die Quere. So haben Sie genug Platz für das heroische Gekämpfe, auf das Sie sich schon freuen. Ich bin sicher, es wird spannend sein. Wir vom schwachen Geschlecht werden voller Bewunderung und Staunen zusehen, nicht wahr, Miss Jarrencourt?“

Das Obsidianherz
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