Kapitel 95
Zum Osten hin begann der Himmel sich rot zu färben. Der Sonnenaufgang war nicht mehr weit. Delacroix konnte die Pfade im Park ohne seine Laterne ausmachen. Es blieb ihm auch nichts anderes übrig, denn er hätte keinen Arm freigehabt, um sie zu halten. Er hatte sie am See zurückgelassen.
Die ersten Vögel begannen zu singen und klangen ein wenig unglücklich über den plötzlichen Wintereinbruch zu einer Zeit, die schon dem Frühling gehörte. Der Tritt seines Pferdes war nur gedämpft zu hören in dem Schneematsch, der die Spazierwege in Schlammbäder verwandelt hatte. Die Hufe des Tieres schleuderten bei jedem Schritt nassen Dreck hoch, der seine Stiefel und Hosenbeine bespritzte und auch ihre Beine in den zerrissenen Strümpfen.
Er wußte ziemlich genau, in welche Richtung er mußte. Zwar kannte er München nicht besonders gut, aber doch gut genug, um sich nicht zu verirren. Die Residenz und die Innenstadt lagen südwestlich von ihm. Es war nicht allzuweit, oder wäre nicht weit, wenn er nicht ein erfrierendes Mädchen bei sich hätte, das irgendwo zwischen Leben und Tod schwebte. Jede Minute zählte.
Er sprach unablässig zu ihr, selbst wenn er kein Lebenszeichen wahrnahm. Er versuchte die Möglichkeit zu ignorieren, daß sie auf dem Nachhauseweg in seinen Armen sterben würde. Das würde nicht geschehen, versprach er sich. Er würde es nicht erlauben. Er würde sie nach Hause bringen.
„Corrisande, aufwachen! Augen auf! Sprechen Sie mit mir. Sagen Sie mir, wieso das Refugium abgebrannt ist.“
Er stellte ihr immer wieder Fragen. Meistens reagierte sie nicht darauf. Manchmal stöhnte und murmelte sie etwas, das er nicht verstehen konnte. Doch das war nicht wichtig.
Ihre Atmung ging nun etwas regelmäßiger und hörte sich nicht mehr gar so rasselnd an. Sie atmete wieder Luft. Er konnte kaum fassen, daß sie Wasser geatmet hatte. Ihr Wärter war ertrunken, und sie hatte Wasser geatmet. Er fragte sich, ob sie gewußt hatte, daß sie das konnte, und begriff, daß sie das keinesfalls hatte wissen können. Sie hatte vermutlich Wasser eingeatmet, als sie im Tunnel ihre Luft nicht mehr anhalten konnte.
„Lampe geworf...“ murmelte sie.
„Man hat eine Lampe nach Ihnen geworfen? Eine Petroleumlampe?“
„Ich ...“
„Sie haben die Lampe geworfen?“
Wieder antwortete sie nicht gleich. Plötzlich, ein paar Minuten später:
„Zwei.“
„Zwei Lampen? Wer hat noch eine geworfen?“
Sie schwieg, und er begann zu begreifen, daß sie zwei Lampen geworfen hatte. Petroleumlampen waren gefährliche Dinge. In einem Haus mit viel Holz, Papier und Stoffvorhängen, würden zwei solche Lampen ein Feuer entfachen, das schnell außer Kontrolle geriet. Es wunderte ihn, daß die Bruderschaft noch mit so alter Ausrüstung lebte. Doch vermutlich hatten sie lieber ihre Ressourcen für eine eigene Telegraphenstation verwendet und wie immer – noch mehr teures Kalteisen.
Sie hatte das Refugium abgebrannt. Sie mußte ihnen dazu irgendwie entwischt sein, sonst hätte sie auch das Dach nie erreicht. Der große Mönch, der vermutlich Pater Emanuele ermordet hatte, hatte die falschen Prioritäten gehabt. Er hätte das Feuer bekämpfen müssen. Statt dessen war er dem Mädchen hinterhergejagt. Da der Pater schon tot und der junge Mönch von dem bayerischen Offizier erschossen worden war, blieb nur der alte Mann, um allein zu löschen. Zwei Feuer.
„Das haben Sie gut gemacht“, sagte er ihr. „Die Fey-Population dieser Erde wird Ihnen gewiß einen Orden verleihen wollen. Graf Arpad wird begeistert sein. Aber vielleicht behalten wir es doch lieber für uns und sagen es niemandem. Es wird unser kleines Geheimnis sein. Ich hoffe, daß man da jetzt etwas Hübscheres hinbauen wird. Etwas Nützliches vielleicht, ein Krankenhaus oder eine Schule für erfinderische Mädchen wie Sie.“
Wieder antwortete sie nicht.
Sie verließen den Park. Eine schmale, kopfsteingepflasterte Gasse führte zwischen Gebäuden hindurch; sie waren zurück in der Stadt. Die Pflastersteine waren eisig überfroren im frühmorgendlichen Frost, und sein Pferd tat sich schwer damit, auf dem unregelmäßigen, glatten Grund nicht zu rutschen.
„Wir sind wieder in der Stadt. Fast zu Hause. Jetzt müssen Sie nicht mehr lange durchhalten. Sprechen Sie mit mir. Es sind nur noch ein paar Minuten“
Das war eine Lüge. Die schmale Straße führte zwischen den Gebäuden der Universität hindurch und endete auf einem weitläufigen Platz mit architektonisch beinahe gleichen Strukturen zu beiden Seiten der Prachtstraße. Er hatte die Ludwigstraße erreicht, die Hauptader nach Norden, wenn man von der Residenz kam. Er mußte nun nur noch in südliche Richtung reiten.
Er war nicht mehr allein. In den frühen Morgenstunden waren Arbeiter und Handwerker auf der Straße, vielleicht auf dem Weg zur Arbeit. Er überlegte sich kurz, einen davon anzuhalten und nach einem Ort zum Aufwärmen oder einer Decke zu fragen. Doch das wäre aussichtslos. An dieser Straße wohnte niemand, sie war von öffentlichen Prachtbauten flankiert. Er kannte die Universität, die königliche Bibliothek, das Kriegsministerium, einige Kasernen. Hier würde er keine Hilfe bekommen.
So ritt er einfach weiter und ignorierte die neugierigen Blicke, die ihm die Passanten zuwarfen. Sie boten vermutlich ein seltsames Bild. Ein dunkler, rußverschmierter Mann, der eine bewußtlose, in einen Herrenmantel gewickelte Frau festhielt. Ihre Kleiderfetzen hingen herunter, und ihre zerrissene Unterkleidung gab den Blick frei auf ihre Beine. Durch ihre löchrigen Strümpfe lugten die Zehen vor. Sie waren bläulich vor Kälte.
Es war nicht mehr weit. Er passierte den Hofgarten und ritt nun die engere Schwabinger Straße entlang. Er kam am Museum vorbei und wandte sich nach rechts.
„Wir sind fast da, mein Mädchen“, sagte er. „Wir sind schon fast zu Hause.“
„So kalt“, murmelte sie.
„Ihnen wird gleich warm werden. Das verspreche ich. Wir sind beinahe da.“
Er ritt direkt zum Hinterhof des Hotels und brüllte nach einem Stallburschen. Er glitt vom Pferd und zog sie dabei mit sich. Sie hatte das Bewußtsein wieder verloren. Ein Hotelangestellter kam zur Hintertür heraus und starrte ihn ungläubig an, als er das Mädchen schulterte. So war sie leichter zu tragen, und er hatte keine Zeit zu verlieren.
„Kümmern Sie sich um mein Pferd“, befahl er kurz und stürmte durch die Hintertür in das Hotel. Der Mann starrte ihm nach. Wahrscheinlich hatte er ihn aufhalten wollen, ihn nicht als Gast des Hauses erkannt. Gäste sahen gemeinhin nicht so aus, mit Dreck beschmiert, rußig, naß und ziemlich angesengt. Und Gäste hatten sich vermutlich auch keine bewußtlosen Frauen in zerfetzter Kleidung über die Schulter geworfen. Und schon gar nicht um eine solche Zeit. Doch niemand hielt Delacroix auf. Der Mann hatte Angst vor ihm gehabt.
Schon erklomm er die Hintertreppe im Laufschritt, keuchte unter der Last. So leicht sie auch war, sie drei Stockwerke hochzutragen, und das noch schnell, war harte Arbeit. Jemand hatte die Gesindetür im dritten Stock abgeschlossen. Er machte sich nicht die Mühe, sein Schlüsselbund hervorzuziehen, trat nur mit voller Wucht gegen die Tür, und sie sprang auf, krachte gegen die Wand. Er rannte in den Korridor.
„Marie-Jeannette! Hierher! Sofort!“ brüllte er in seiner besten Kasernenhofstimme. Die Tür seines eigenen Zimmers öffnete sich vorsichtig, und Leutnant von Görenczy lugte heraus, die Waffe schußbereit in der Hand.
„Ich bin’s. Schicken Sie mir Marie-Jeannette! Gleich.“
Er ließ Corrisande von seiner Schulter gleiten und hielt sie in seinen Armen. Sie hing schlaff darin. Ihr Kopf fiel zurück.
Marie-Jeannette schlüpfte aus dem Zimmer gefolgt von Graf Arpad und Leutnant von Orven.
„Ist sie ...“ fragte Marie-Jeannette ängstlich. „Ist sie ...“
„Sie lebt“, sagte der Sí. „Geh rüber und hilf ihr!“
Das Mädchen rannte los und öffnete die Tür zu Corrisandes Suite.
„Das ist nicht möglich“, sagte Leutnant von Orven.
Delacroix sagte nichts dazu, sondern betrat die Suite.
„Bring mir eine Schere. Und Decken. Schnell!“
„Eine Schere?“
Er zischte die Zofe an.
„Tu einfach, was ich sage!“ Sie lief los.
Er legte Corrisande auf das Sofa und schälte sie aus seinem Mantel. Er überprüfte ihre Atmung, obwohl er dem Feyon Glauben schenkte. Sie lebte. Der Vampir hatte es auf die Distanz gefühlt.
Er klatschte ihr ein paarmal unsanft gegen die Wange und erinnerte sich, daß er genau das vor nur drei Tagen schon einmal gemacht hatte, auf dem nämlichen Sofa.
Sie öffnete ihre Augen einen Spalt.
„Wir sind da, Corrisande. Jetzt wird Ihnen gleich warm werden.“
Die Zofe hatte eine Schere gebracht, und er erteilte ihr die nächsten Anordnungen.
„Jetzt holst du Decken. Am besten von Mrs. Parslows Bett. Breite sie hier gleich auf dem Boden aus. Wenn du damit fertig bist, holst du Wärmflaschen. So viele du vom Hotel bekommen kannst.“
Er drehte Corrisande auf den Bauch, wobei er darauf achtete, daß sie genug Raum zum Atmen hatte. Er fing an, durch die Schnürung ihres Kleides zu schneiden, durch ihr Korsett und alle Unterkleidung.
„Sir!“ Marie-Jeannette stand verunsichert da und offenbar ein wenig schockiert. „Sir, Sie können doch nicht ...“
„Kümmere dich nicht darum“, herrschte er sie an. „Tu, was ich dir gesagt habe, verdammt!“
Sie stieß ein erschrockenes Wimmern aus und rannte los. Er hatte ihr keine Angst machen wollen, aber es war unwichtig.
Corrisandes Kleidung war nun offen, und er schälte sie aus den nassen, überfrorenen Sachen, zerrte ihr das Kleid von den Schultern, drehte sie wieder um. Sie sah ihn jetzt an. Ihre Augen waren halb geöffnet, auf ihrem Gesicht lag ein verwirrter, erschrockener Ausdruck. Sie brauchte eine kleine Weile, um zu verstehen, was er mit ihr anstellte. Ihre Hand bewegte sich ganz langsam auf seine zu, um ihn aufzuhalten. Ein schwacher Protest gegen seinen Übergriff.
„Nein...“, flüsterte sie.
Er zog sie weiter aus, warf die zerrissenen Fetzen ihrer Kleidung einfach auf den Boden.
„Vertrauen Sie mir, Mädchen. Vertrauen Sie mir einfach. Ich will nur, daß Ihnen warm wird. Ich tue Ihnen nichts. Nicht wehren! Sparen Sie Ihre Kräfte.“
Sie hörte auf zu protestieren, sah ihn nur aus den halbgeschlossenen Augen an. So schnell hatte er noch nie eine Frau ausgezogen. Noch die Strümpfe runterziehen, und schon lag sie vor ihm, zierlich und ganz nackt und sehr weiß. Fast hatte ihre eisige Haut einen kleinen Blauschimmer.
Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und tastete ihren Kopf mit seinen Fingern ab. Die Knochenstruktur des Schädels schien intakt zu sein. Auf einer Seite ihres Gesichts war ein großer blauer Fleck. Jemand mußte sie heftig geschlagen haben. Sie hatte Kratzer im Gesicht, doch die hatte sie schon am Abend zuvor gehabt. Und sie hatte einen winzigen Kratzer auf der Lippe. Er selbst hatte das getan.
Er wanderte mit seinen Händen weiter. Sie fühlte sich an wie Eis. Er fragte sich wieder, wie sie das hatte überleben können. Doch sie hatte überlebt. Und vielleicht war es einerlei, wie.
Kratzer an der Kehle waren Beweis dafür, daß jemand ein Messer dagegengehalten hatte. Sie waren nicht tief, doch er mußte sich ein ärgerliches Knurren verbeißen. Die halbverheilten Blutergüsse an ihren Schultern waren wieder sein Werk, doch die dunklen Ringe um ihre Oberarme waren neu. Er fuhr die Arme mit seinen Händen ab. Sie fühlten sich nicht gebrochen an. Ihre Hände waren stark zerkratzt, aber nicht schwer verletzt, selbst die Verbrennung sah nicht mehr so schlimm aus. Auch die hatte er ihr zugefügt.
„Breite die Decken gleich hinter mir auf dem Boden aus“, befahl er ohne hochzusehen, als er Marie-Jeannette hinter sich rumoren hörte. „Und bring mir ein Handtuch für ihre Haare!“
Er bemerkte kleine, oberflächliche Schnitte um eine Brust. Eine Messerspitze. Er fühlte, wie der Zorn kochend in ihm hochstieg, und zwang sich zur Ruhe. Es waren nur Kratzer, nichts Gefährliches.
Seine Hände glitten weiter. Sein Verstand versuchte, all jene Informationen über ihren Körper, die nicht notwendig oder medizinisch waren, auszublenden. Das bedurfte einiger Konzentration. Seine Hände inspizierten sie rasch, mit sturer klinischer Distanz. Wahrscheinlich keine Rippen gebrochen. Hüftknochen intakt, Beine in Ordnung, wenn man von blauen Flecken und einem aufgeschlagenen Knie absah. Ihre Füße sahen schlimmer aus, zerkratzt und zerschunden, doch die Knochenstruktur schien intakt zu sein.
Er drehte sie in seinem Arm um. Ein Bluterguß genau über ihren Nieren. Eine Faust oder ein Tritt, schloß er. Das mußte sehr weh getan haben.
Doch es hätte schlimmer sein können. Es hätte sogar sehr viel schlimmer sein können. Keine Knochen gebrochen, keine offenen Wunden. Nichts, was nicht schnell wieder heilen würde.
Er hob sie vom Sofa, wandte sich um und legte sie auf die Decken. Er streckte ihre Arme neben ihrem Körper aus. Dann schlug er die Wolldecken um sie herum, rollte sie fest ein, wie in einen Kokon.
Wieder hob er sie auf und trug sie in ihr Schlafzimmer. Dort legte er sie aufs Bett und setzte sich neben sie. Marie-Jeannette reichte ihm zwei Handtücher.
„Ich geh jetzt die Wärmflaschen abholen“, sagte sie und eilte davon.
„Gut gemacht!“ lobte er, doch sie war schon fort. Er wickelte eines der Handtücher um Corrisandes nasses Haar und rubbelte damit an ihrem Kopf, in der Hoffnung, ihn ein wenig trockener zu bekommen. Als das Handtuch naß war, wickelte er sie in das andere, hob ihre Schultern ein wenig an und lehnte sie dann mit dem Kopf gegen ihr Kissen.
Sie blickte ihn an, direkt und offenbar bei vollem Bewußtsein. Ihre blauen Augen waren weit geöffnet.
„Sie sind wach“, sagte er und streichelte ihr ganz vorsichtig mit den Fingerrücken über ihre kalte Wange.
„Ja“, antwortete sie.