Kapitel 63
Von Orven war es nicht gelungen, innerhalb der kurzen Zeit, die ihm zur Verfügung stand, Blumen zu besorgen. Er hatte weder Zeit auszugehen, um selbst welche zu kaufen, noch dazu, lange auf einen Pagen zu warten, der ihm welche bringen würde. Er hatte gebeten, für kurze Zeit von seiner Pflicht entbunden zu werden, und das hatte man ihm gewährt. Jedoch nur für eine kurze Zeit. Delacroix hatte überhaupt nicht zufrieden ausgesehen, aber er hatte ihn dann doch gehen lassen.
Er fand, es gehöre sich nicht, sein Anliegen weiter zu verschieben. Er erwartete keine Antwort von Miss Jarrencourt. Nicht sofort. Er kannte sie erst seit einem Tag, und die Umstände ihres Zusammentreffens waren alles andere als günstig zu nennen. Doch er wollte, daß sie wußte, daß er für sie da war. Daß er bereit und willens war, die Konsequenzen der Geschehnisse des Vorabends auf sich zu nehmen. Sie mußte wissen, daß er ein Ehrenmann war und auch stets als solcher handelte.
Im Flur hing ein Spiegel, in dem er sich abschließend begutachtete. Er hatte sich die Uniform ausbürsten lassen, damit kein Stäubchen und vor allem kein Dreck aus dem Keller, wo er damit auf dem Boden gelandet war, daran zu sehen war. Sein Haar war gekämmt und linealgerade seitengescheitelt. Er sah präsentabel aus, vielleicht etwas erregt. Doch das war zu erwarten. Der Bluterguß auf der einen Seite seines Gesichtes ließ sein Aussehen nicht besser werden, verlieh ihm jedoch ein tollkühnes Flair. Er grinste sein Spiegelbild an und versuchte, sich zu entscheiden, ob es opportuner sei zu lächeln oder sich ernst und würdig zu geben. Sein fröhliches Lächeln ließ ihn ein wenig dümmlich aussehen, fand er, und es war immerhin von allergrößter Bedeutung, bei dem, was er vorhatte, den richtigen Eindruck zu machen.
Er klopfte an die Tür des Salons der Jarrencourt-Suite.
„Herein“, antwortete eine Stimme, die er als Mrs. Parslows erkannte. Er öffnete die Tür und trat ein.
Mrs. Parslow saß auf der Couch und hielt ihre Stickerei in Händen. Sie wirkte streng und schicklich und sah ihn an wie eine Lehrerin, die ihren schlechtesten Schüler prüft. Corrisande stand an der Balkontür und sah hinaus in den grauen Tag. Ihre Zofe verschwand gerade im Nebenzimmer.
„Guten Tag, Mrs. Parslow, guten Tag, Miss Jarrencourt“, grüßte er und verneigte sich. „Ich hoffe, Sie haben sich von den gestrigen Ärgernissen erholt.“
Mrs. Parslow lächelte höflich, doch er sah, daß ihr Lächeln nicht bis zu ihren Augen reichte. Höchstwahrscheinlich war sie ihm böse, dachte er. Sie hatten ohne Genehmigung ihre junge Schutzbefohlene mit auf eine Jagd genommen, die viel zu gefährlich für sie war, und es war ihr mehr passiert, als hätte passieren dürfen. Sie hatte überlebt, und es hätte schlimmer kommen können. Doch was geschehen war, war schlimm genug.
Ihm wurde klar, daß er sich für all das entschuldigen sollte, doch wußte er nicht, was Corrisande ihrer Gesellschafterin erzählt hatte. Nicht, daß er sie für unehrlich hielt, doch die Geschehnisse des letzten Tages waren nicht nur gefährlich gewesen, sondern auch zutiefst peinlich, was die körperliche Komponente anging. Vielleicht war sie ja zu schüchtern gewesen, der Anstandsdame alle Details zu beichten. Schließlich war sie noch jung. Sie konnte in dieser Richtung keine Erfahrung haben.
„Wir danken Ihnen für die freundliche Nachfrage“, antwortete Mrs. Parslow. „Wir sind etwas erschöpft, aber ansonsten wohlauf.“
„Das freut mich“, sagte er verlegen. Dann blickte er von der älteren Dame, die ihn intensiv musterte, zu Corrisande, die immer noch am Fenster stand, obgleich sie sich inzwischen zu ihm umgedreht hatte. Sie sah wirklich müde aus, und er sah, daß sie geweint haben mußte. Ihre Augen erinnerten an die seiner Schwester, wenn diese sich nachts einem Weinkrampf hingegeben hatte.
Ansonsten erschien sie ihm entzückend wie immer. Sie trug ein blaßgrau kariertes Kleid mit blauen Samtschleifen und sah damit sehr jung und verwundbar aus. Ihr Lächeln wirkte etwas wehmütig, schien von einem Hauch Traurigkeit durchdrungen. Es rührte sein Herz.
„Was können wir für Sie tun, Herr Leutnant?“ fragte Mrs. Parslow, und er zwang seinen Blick von dem Mädchen fort und sah wieder zu dessen Tante.
Er atmete tief ein, stand kerzengrade da, fast als wolle er salutieren.
„Mrs. Parslow“, begann er, „ich bin mir vollständig der Irregularität der Umstände unseres Zusammentreffens bewußt, doch ich hege die Hoffnung, daß Sie mir gestatten werden, einige Worte an Miss Jarrencourt zu richten. Bitte seien Sie versichert, daß meine Absichten ehrenhafter Natur sind.“
Ihre Brauen zuckten ein wenig, doch sie nickte ihm zu.
„Bitte sagen Sie, was zu sagen Sie gekommen sind.“ Sie machte keine Anstalten, sie alleine zu lassen.
Das hatte er auch nicht erwartet. Er verbeugte sich höflich und schritt zum Fenster, zu Corrisande, die dort immer noch stand mit einem unsicheren Lächeln auf den Lippen. Das Licht, das von draußen in den Raum drang, betonte ihre zarte Silhouette. Sie streckte ihm ihre kleine Hand entgegen, er beugte sich darüber und dachte dabei, wie er mit den Lippen über ihre Haut geglitten war. Er sehnte sich danach, es wieder zu tun.
„Miss Jarrencourt“, sagte er und hielt ihre Hand fest in der seinen, ließ sie nicht los. Sie tat nichts, sie ihm zu entziehen, hielt nur umgekehrt seine Hand fest und sah ihm in die Augen.
„Leutnant von Orven. Guten Tag. Ich hoffe, es geht Ihnen gut?“
Er hatte plötzlich das Gefühl, in ihren Augen zu ertrinken. Ohne darüber nachzudenken, zog er ihre Hand zu sich und legte sie an sein Herz, überwältigt von dem plötzlichen Gefühl für sie. Sie ließ ihn gewähren, doch er hörte, wie Mrs. Parslow sich im Hintergrund räusperte. Er ließ sie los.
„Miss Jarrencourt, ich bin gekommen, um Ihnen noch einmal für meine Rettung und für die selbstlose Hilfe zu danken.“ Er versuchte, sich so neutral wie möglich auszudrücken, um nicht eine weitere Intervention Mrs. Parslows auszulösen. „... die Sie mir so tapfer zuteil werden ließen.“
Sie errötete und blickte verschämt beiseite. Dann sah sie zu ihm auf.
„Leutnant von Orven, ich freue mich, daß ich Ihnen behilflich sein konnte. Ich hatte Angst, dieser entsetzliche Magier hätte Sie so schwer verletzt, daß wir Ihnen nicht mehr helfen könnten.“
„Dennoch“, sagte er und stellte fest, daß sie nicht nur von sich sprach, sondern Delacroix mit einbezog. Es irritierte ihn, denn er fühlte, daß weder der Mann noch sein Name in dieser Unterredung irgendeine Rolle spielen sollte. „Es bedurfte schon einiges an Tapferkeit und Selbstlosigkeit, um zu reagieren wie Sie, und nur Sie allein konnten es tun. Sie haben mein Herz berührt und mich zurückgeholt.“
Sie lächelte, vermied es aber, ihm in die Augen zu sehen.
„Ihr Herz war gar nicht weit weg, Herr Leutnant“, sagte sie. „Es ist ein großes Herz und leicht zu finden.“ Daraufhin errötete sie abermals, sah schüchtern in seine Augen und fügte hinzu: „Bitte verzeihen Sie. Das hätte ich nicht sagen sollen. Was müssen Sie nur von mir denken!“
„Nur das Beste, meine süße Miss Jarrencourt!“ Er ignorierte ein weiteres Räuspern aus der Richtung des Sofas. „Sie haben recht, mein Herz war gar nicht weit weg von Ihnen. Das ist es nie. Ich möchte Ihnen sagen, daß ich mich verantwortlich für Ihr Wohlergehen fühle. Ich möchte, daß Sie wissen, daß ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, Sie zu beschützen, und daß ich sehr hoffe, es nicht nur hier und jetzt tun zu dürfen, sondern für ... eine lange Zeit.“
„Leutnant von Orven, ich fühle mich geehrt. Ich will jedoch keinesfalls, daß Sie sich verpflichtet fühlen, mir gegenüber eine bestimmte Haltung einzunehmen. Was immer ich getan habe, tat ich gern und freiwillig. Keiner wird je davon wissen. Eliza weiß es natürlich, und sie war, wie Sie sich denken können, nicht angetan. Doch das ist einerlei. Mir ist nichts geschehen, und Sie unterliegen keiner Verpflichtung, meine Ehre zu retten.“
Diesmal errötete sie so sehr, daß sie ihren Blick zu Boden wandte. Was für unendlich lange, schöne Wimpern sie hatte!
„Ihre Ehre ist unangetastet, Miss Jarrencourt, und was Sie eine Verpflichtung nennen, ist mein Vergnügen und mein größter Wunsch.“
Sie schwiegen eine Weile.
„Ich verstehe, Miss Jarrencourt, daß Sie mich nicht gut genug kennen, um mir eine Antwort zu geben, und ich werde Sie keinesfalls drängen. Ich hoffe nur, daß Sie mir erlauben werden, daß wir uns in den nächsten Wochen besser kennenlernen. Wenn es Ihnen recht ist, werde ich die Erlaubnis dazu bei Ihrem Vater einholen.“
„Das ist anständig von Ihnen, Herr Leutnant“, unterbrach Mrs. Parslow, „und sobald Sie etwas mehr Zeit haben, würde auch ich gerne ein Gespräch mit Ihnen führen.“
Er lächelte und verbeugte sich in ihre Richtung, wobei er hoffte, daß dieses Gespräch weniger schrecklich sein würde, als er befürchtete. Doch letztlich war es die Aufgabe von Anstandsdamen, Tanten und Müttern, genau so zu sein. Sie waren verantwortlich für das Wohlergehen ihrer Schützlinge, und das war auch richtig so. Er hätte es nicht anders gewollt.
„Mir ist bewußt, Sie wissen wenig, ja eigentlich nichts über mich“, sagte er und blickte von Corrisande zu ihrer Tante und wieder zurück. „Aber ich werde Ihnen natürlich Aufklärung über meine Befindlichkeiten geben. Am besten schicke ich unseren Anwalt vorbei.“ Jetzt sah er Mrs. Parslow an. „Er kann Ihnen über meine Lage und meinen familiären Hintergrund Auskunft geben. Ich werde ihn anweisen, ganz offen zu sprechen.“
Corrisande unterbrach ihn.
„Leutnant von Orven“, sagte sie. „Ich danke Ihnen von Herzen für Ihren Antrag und fühle mich geehrt. Ich weiß, Sie werden verstehen, daß ich Ihnen nach nur einem Tag Bekanntschaft keinerlei Antwort darauf geben kann. Meine Gedanken sind so durcheinander und es gibt vieles, worüber ich mir klar werden muß. Die Welt, wie ich sie immer gesehen habe, hat sich an nur einem Tag vollständig verändert, und das ängstigt mich ein wenig.“
„Natürlich“, antwortete er. „Ich verstehe vollkommen. Sie können noch keinen Eindruck von der schlechten Seite der Welt gewonnen haben, und es tut mir in der Seele weh, daß ich zu den Menschen gehört habe, die Sie mit den Übeln des Lebens konfrontiert haben, die Sie bis dato nicht kannten. Ich hoffe, Sie werden mir Gelegenheit geben, es wieder gutzumachen. Sie waren tapfer und haben einen Durchhaltewillen gezeigt, der mich zutiefst beeindruckt hat. Ich bewundere Sie sehr. Aber persönlich hätte ich Sie lieber an einem Ort, wo die Unbill solcher Ereignisse Sie nicht erreichen kann und ich Sie vor all dem beschützen könnte.“
Sie lächelte und streckte ihm dann plötzlich ihre Hand entgegen. Er nahm sie. Sie war weich und zart.
„Sie sind viel zu nett.“ Ihre Augen funkelten, und dann blickte sie auf ihrer beider Hände. „Nicht alles, was ich gestern erlebte, war ausschließlich schrecklich.“
Diesmal liefen sie beide rot an. Asko fühlte Mrs. Parslows Blick sich in seinen Rücken bohren. Sollte sie doch hingehen, wo der Pfeffer wuchs. Er wollte mit dem Mädchen allein sein, nur ein bißchen. Das war allerdings undenkbar. Er wollte sie umarmen und küssen. Er spürte fast noch Corrisandes Lippen auf seinen, so stark war die Erinnerung an den Augenblick, in dem sie ihn geweckt hatte.
Er drückte sanft ihre Hand.
Hinter sich hörte er Mrs. Parslows Stimme.
„Herr Leutnant, wir danken Ihnen für Ihren Besuch. Bitte haben Sie Verständnis, daß Corrisande sich nach dem gestrigen Tag ausruhen muß. Sie soll sich von der Erinnerung an die schrecklichen Ereignisse erholen.“
Er schlug die Hacken zusammen und verbeugte sich vor der Gesellschafterin.
„Selbstverständlich!“
Er wandte sich nochmals Corrisande zu, hob ihre Hand, beugte sich darüber und plazierte seine Lippen vorsichtig auf ihrer Haut. Sie war so zart. Er ließ sie nur widerwillig los.
Dann nahm er Abschied und verließ den Raum mit angemessen heiterem Lächeln.
Als die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, schwiegen die Damen eine Weile. Dann begann Mrs. Parslow zu kichern.
„Gratuliere“, sagte sie. „Du hast nichts von deinen Fertigkeiten verlernt. Wie erfreulich. ,Nicht alles, was ich gestern erlebte, war ausschließlich schrecklich.‘ Unbezahlbar, mein Engel. Unbezahlbar – und so herrlich inszeniert.“
Corrisande drehte sich wieder zum Fenster und blickte hinaus auf den kalten Nieselregen. Er war ein so charmanter junger Mann, gutmütig und lieb, und sie war ein grauenhaftes Biest. Im Grunde tat er ihr leid.
„Nun schau nicht so schuldbewußt. Er hat bekommen, was er wollte. Männer – immer wollen sie was, wollen und wollen, und meist bekommen sie es. Sie regieren diese Welt mit groben, ungeschlachten Händen, tun, was sie wollen, greifen sich, was sie haben möchten, nehmen sich jedes Recht heraus und lassen uns Frauen nur die Pflicht. So ist es unser Privileg, sie mit jedem Mittel zu belügen und zu betrügen und ihnen die bunten Bildchen ihrer seichten Phantasien auszumalen – und sei es nur, um ihnen ihre eigene krumme Weltsicht zu erhalten, damit sie nicht aus Angst vor ihrer eigenen Unzulänglichkeit vergehen. Mitleid ist an sie verschwendet.“