Kapitel 93
Leutnant Asko von Orven wußte absolut nicht, wie er diese letzte Tat würde beichten können. Er war froh darüber, daß er als Soldat gelernt hatte zu reagieren, ohne sich allzulange Gedanken über moralische Grundfragen zu machen. Er hatte also reagiert. Und er hatte es weiß Gott nicht gemocht.
Der Gesichtsausdruck des Colonels hatte ihn allerdings erstaunt. Die Art, wie der Mann ihn angeblickt hatte, kurz bevor Asko gefeuert hatte, spiegelte so gar kein Gefühl von Vertrauen oder Kameradschaft wider. Er hatte so gefährlich, wild und entschlossen ausgesehen, daß es schon beinahe unfaßbar war, wie er den Mönch, der hinter ihm aus einer Tür getreten war, nicht hatte wahrnehmen können.
Wahrscheinlich war er mit seinen Gedanken woanders. Doch das sollte er nicht. Dies war ein gefährliches Geschäft. Die clevere Schießpulverfalle am Tor hatte das bewiesen sowie auch die Wache, die offenbar nur darauf gewartet hatte, daß ein Eindringling ihr den Rücken zuwandte.
Wenn sie miteinander auf dem gleichen Weg ins Haus gekommen wären, hätte er sie vermutlich gut erschießen können. Doch Asko war zum Seiteneingang geschlichen und hatte diesen ohne große Schwierigkeiten auftreten können. Niemand hatte ihn aufgehalten. Möglicherweise stimmte die Information, das Refugium wäre derzeit unterbesetzt, tatsächlich. Es war ihm freilich nicht geheuer, wie der Feyon das herausgefunden haben mochte. Aber wer wußte schon, über welche Mittel diese Wesen verfügten? Vielleicht hatte er die Fähigkeit, direkt in die Gedanken von Menschen zu sehen?
Und diese dann zu verwirren und zu zerstören. Er hatte dem Mönch das Gedächtnis gelöscht. Das hatte der Sí ganz freimütig zugegeben. Eine schreckliche Tat, einen frommen, wenngleich vielleicht auch irregeleiteten Mann in den geistigen Zustand eines Kleinkindes zurückzuversetzen. Für Asko kam das einem Mord gleich. Diese Tat an sich schien ihm durchaus die Existenz einer Institution zu rechtfertigen, die die Aktivitäten solcher Kreaturen in Schach hielt.
Doch die Mittel, die der Orden anwandte, schienen mehr als fragwürdig. Es fiel ihm gleichwohl schwer zu glauben, daß die christlichen Fratres so rücksichtslos waren, wie man ihn hatte glauben machen wollen. Immerhin, die Falle an der Tür und der Versuch, Delacroix von hinten zu erschießen, verlieh der Aussage eine gewisse Glaubwürdigkeit. Und eine junge Dame zu verschleppen, die nichts getan hatte, um ihren Unwillen auf sich zu ziehen, das war inakzeptabel. Selbst wenn sie kein vollständiger Mensch war. – Und darüber wollte er gar nicht nachdenken.
Sie öffneten nun vorsichtig eine Tür nach der anderen, und während Delacroix nach einem Weg in den Keller suchte, deckte Asko die Aktion, indem er nach Angreifern Ausschau hielt. Seltsamerweise kam jedoch niemand.
Der Gestank von Rauch und brennendem Holz wurde nun intensiver, und er fragte sich, was geschehen sein mochte. Bald würde es vor dem Haus von Menschen nur so wimmeln, die das Feuer beobachten wollten oder kamen, um zu helfen. Delacroix und er hatten sich den Weg in das Gebäude mit Waffengewalt erzwungen. Ihre Schüsse mußte man meilenweit gehört haben. Also würde man ihnen mit ziemlicher Sicherheit den Ausbruch des Feuers zur Last legen. Sie konnten keineswegs beweisen, daß sie es nicht gewesen waren. Dies galt als ein frommer Ort. Asko hoffte, daß er sich auf dem Weg nach draußen – mit oder ohne Corrisande Jarrencourt – nicht einem aufgebrachten katholischen Lynchmob gegenübersehen würde.
Doch jetzt hieß es, schnell zu sein. Er wunderte sich, daß noch niemand versucht hatte, das Gebäude zu verlassen. Wenn er eine Wahl gehabt hätte, wäre er längst draußen.
„Hier ist es“, sagte Delacroix. „Ich gehe runter und sehe nach. Bitte bleiben Sie hier und bewachen Sie die Tür.“
Er verschwand die Stufen hinunter, und Asko sah, daß unten Licht war. Vielleicht hatten sie sie ja schon gefunden und konnten verschwinden, bevor er mehr Geistliche bekämpfen mußte – oder eine ganze aufgebrachte Menschenmenge. In welchem Zustand sie sie finden würden, darüber wollte er gar nicht erst nachgrübeln. Er verdrängte verbissen den letzten Gedanken.
Er hätte keinen Abkömmling der Fey heiraten können. Das konnte er nicht. Seine Abscheu gegen alles, das gegen die Logik physikalischer Gesetze verstieß, war schlichtweg zu groß. Sie sagten ihm immer wieder, daß sie ein Mensch war, doch der Fehler in ihrer Abstammung hatte sich über Jahrhunderte gehalten, und er hätte es keinesfalls über sich gebracht, diesen Fehler an seine Kinder weiterzugeben. Seiner Familie hätte er sie auch nicht gut zumuten können. Die gesamte Sache war zu furchtbar und irgendwie nicht richtig.
Dennoch waren seine Gefühle in Aufruhr. Das Wissen darüber, was sie war, hatte er mit seinem Kopf verstanden, doch sein Herz wußte nicht so recht, was es davon halten sollte. Er erinnerte sich an ihre blauen Augen, so wie sie zu ihm hochgesehen hatte, süß und voller Vertrauen. Und er sah wieder, wie sie ihn angeblickt hatte, als er vor ihr zurückgewichen war, sah den Schmerz und die Furcht in ihren Augen. Und dann diese Geste, die Worte, die sie gefunden hatte, um ihn freizugeben. Er wünschte, er könnte den moralischen Werten, an die er glaubte, mit demselben Gleichmut begegnen wie Delacroix. Doch er konnte es nicht.
Er schob es mit Macht aus seinen Gedanken. Er mußte sich besser konzentrieren.
Er hörte eilige Schritte von unten kommen. Das mußte Delacroix sein. Aber er ging kein Risiko ein.
Er senkte seine Waffe sofort, als der große Mann aus der Tür trat.
„Sie ist nicht da. Aber sie war unten.“ Er hielt ein zerrissenes und blutiges Stück Spitze in der Hand, das offenbar vom Untergewand einer Dame stammte. „Es sind Blutspuren auf dem Boden.“ Delacroix atmete tief ein und fuhr dann ganz sachlich fort. „Sie müssen sie woanders hingebracht haben. Vielleicht ist sie oben.“
Jetzt erst sahen sie es, gelegentliche Blutstropfen, die den Korridor entlangführten zur Treppe und hinauf.
„Bleiben Sie hier“, befahl der Colonel. „Nur für den Fall, daß sie die Hintertreppe runterkommen. Ich gehe hoch.“
Der Rauch war inzwischen dicht geworden, und die Hitze des Feuers war deutlich zu spüren.
Delacroix rannte die Treppe hoch. Asko sah ihn im Rauch verschwinden. Er blickte nach oben und entdeckte, wie der Rauch schon aus den Deckenbalken kroch. Sie konnten nicht mehr lange hierbleiben. Es wurde zu gefährlich.
Von draußen war Glockengeläut zu hören. Vermutlich von der Kirche, jemand läutete um Hilfe. Die Feuerwehr würde eine Weile brauchen, um hierherzukommen, die Gendarmerie war auch nicht näher. Sie waren zu weit in der Vorstadt. Und das war gut so. Er hatte keine Lust wegen Brandstiftung verhaftet zu werden. Es würde schwierig werden, die Angelegenheit zu erklären. Ihr Sonderauftrag betraf das Hotel und nicht die Vorstadt.
Er hörte den Colonel husten, bevor er ihn noch sah. Sein Gesicht war dunkel vor Schweiß und Ruß, und seine gelben Augen tränten.
„Verflucht! Ich bin nicht durchgekommen. Der erste Stock steht in Flammen. Doch es sind noch Menschen im Haus. Ich habe jemanden schreien hören. Einen Mann.“ Er rannte den Korridor entlang. „Ich versuche es über die Hintertreppe“, rief er.
„Warten Sie! Nicht! Das ist doch sinnlos! Das ganze Haus wird bald auf uns runterkommen!“ rief ihm Asko hinterher in dem Versuch, ihn von dem Wahnwitz abzuhalten. Doch der Colonel war bereits im Rauch verschwunden.
Asko blickte zweifelnd an die qualmende Decke. In der Täfelung bildeten sich laut knallend Risse. Fast klang es nach Gewehrschüssen. Die Hitze dehnte und barst das Holz. Vorhänge und altes Holz, nichts brannte besser.
Er begab sich eilig zum Haupteingang und sah, daß auch hier eine weitere Falle aufgestellt war. Ein schlaues Arrangement von Schnüren und einem mit Schrot geladenen Tromblon war aufgebaut. Wenn sie durch diese Tür gekommen wären, hätten sie einen Schuß auf sich selbst ausgelöst.
Seltsamerweise hatten sie nicht erwartet, daß jemand zum Seiteneingang hereinkommen würde, oder er hatte eine Falle dort einfach nicht ausgelöst. Vielleicht hatte er unglaubliches Glück gehabt. Trotzdem würde er nicht dorthin zurückgehen, um mehr darüber herauszufinden.
Er nahm sein Messer und zerschnitt die Schnüre. Das Tromblon würde ihnen vielleicht helfen, unbelästigt zu ihren Pferden zu kommen. Auf kurze Entfernung war es eine beeindruckende, weit streuende Waffe. Trotzdem ließ er es, wo es war. Zu unhandlich im Nahkampf. Er öffnete die Tür und lugte hinaus. Im Hof war niemand, doch er konnte auf der Straße aufgeregte Stimmen hören. Die meisten davon gehörten Frauen und klangen ängstlich und besorgt. Natürlich. Die Nonnen des Klosters würden versuchen zu helfen. Allmächtiger Gott! Jetzt würde er gegen ein paar Dutzend frommer Frauen antreten müssen.
Ihm fiel das Fäßchen mit dem Schwarzpulver ein. So wie die Flammen sich ausbreiteten, standen die Chancen hoch, daß ein fliegender Funke das Pulver entzünden würde.
Er rannte aus dem Haus und rutschte beinahe auf der Schwelle aus. Der matschige Schnee hatte den Hof in eine Rutschbahn verwandelt. Es gelang ihm trotzdem, das Tor zu erreichen, noch bevor irgendeine der nahenden Helferinnen über die Reste der verbogenen Tür kletterte. Er schnitt die Schnur, mit der das Fäßchen befestigt war, durch und nahm es in die Hände.
Was tun damit?
Dann hörte er es. Ein Bach. Das mußte der Eisbach sein, einer der vielen Stadtbäche, die durch München flossen. Er nahm einen Umweg durch diesen Teil der Vorstadt. Man hatte ihn umgeleitet, damit er durch den Englischen Garten floß, den großen Park, der nur ein oder zwei Meilen nördlich von ihnen lag. Der Gartenarchitekt hatte einen romantischen, wilden Bach haben wollen und einen kleinen See. Beides hatte der Park nun.
Er lief auf den reißenden kleinen Strom zu und warf das Faß hinein. Es traf mit einem lauten Klatschen auf die Wasseroberfläche und verschwand im dunklen Naß. Diese Gefahr war gebannt.
Er rutschte plötzlich aus und landete beinahe zusammen mit dem Pulver im Bach. Es gelang ihm gerade noch, sich auszubalancieren, doch ihm fiel dabei seine Pistole auf den Boden und landete in einer Pfütze. Er hob sie hoch. Naß. Ob sie noch schußbereit war, konnte niemand wissen.
Er sah zurück zum Haus. Der erste und zweite Stock brannten nun lichterloh. Die Scheiben zersprangen in der Hitze. Die Flammen warfen ein unwirklich flackerndes Licht auf die Szenerie. Sie tanzten anmutig um schwarze Schatten. Der Rauch begann ihm den Atem zu nehmen. Sie mußten hier verschwinden, und zwar schnell. Hier konnten sie nichts mehr ausrichten. Mit all dem trockenen Holz, das er im Haus gesehen hatte, würde es herunterbrennen wie Zunder.
Inzwischen waren Frauen in den Hof geklettert. Sie trugen Eimer. Jetzt hätte er gerne seine Uniform angehabt. Man konnte Zivilisten gegenüber immer aus einer Position der Stärke heraus auftreten, wenn man eine Offiziersuniform trug. Doch er hatte nicht als königlich bayerischer Offizier in ein Kloster einbrechen wollen. Die Schande hatte seine Uniform nicht verdient.
Die Frauen blickten ihn ängstlich an, waren sich nicht sicher, welche Rolle er hier spielte.
„Gehen Sie zurück“, forderte er sie in seiner besten Offiziersstimme auf. „Hier können Sie nichts mehr ausrichten. Wir haben es schon versucht. Das Haus muß jeden Augenblick einstürzen.“
Wo blieb Delacroix? Asko hoffte, daß der wild entschlossene Mann sich bei dem Versuch, das Mädchen zu befreien, nicht selbst umgebracht hatte. Von allem, was er gesehen hatte, wurde der Colonel derzeit mehr von seinem Herzen als von seinem Verstand getrieben. Kaum zu glauben. Wer hätte gedacht, daß ein Mann, der eine Affäre mit einer Frau gehabt hatte, die man gemeinhin als die „Göttin“ bezeichnete, sich in ein liebes, nettes Mädchen verlieben konnte. Doch sie war eben nicht nur das. Offenbar umgab sie mehr als nur ein Geheimnis, dachte Asko. Er hatte die Anspielungen auf ihren Vater nicht verstanden. Und er brauchte sie auch nicht zu verstehen. Am besten wußte er gar nichts darüber.
Sich allerdings von seinen Gefühlen treiben zu lassen, wie Delacroix, von wilder Not, anstatt von kühlem Kalkül, war im Moment nicht opportun. Der Mann war nicht halb so kaltherzig und kühl berechnend wie er im ersten Moment schien.
Und da war er. Er kam hustend aus dem Haus gestolpert. Rauch stieg von seinem Mantel auf, und er trug eine leblose Gestalt über der Schulter. Er hatte sie gefunden.
Als er jedoch die Last auf dem Boden ablegte, erkannte Asko, daß er einen Mönch getragen hatte. Einen alten Mann. Dieser röchelte schmerzhaft nach Luft, was er an Haaren noch gehabt haben mochte, war bis zur Kopfhaut verbrannt, und auch über das Gesicht zogen sich offene Brandwunden, die ihn übel aussehen ließen.
Einige der Frauen näherten sich, um zu helfen. Sie redeten schnell und nervös untereinander.
Delacroix schlug die Flammen auf seinem Mantel aus. Dann packte er den alten Mann vorne an der Kutte, zog ihn daran hoch.
„Wo ist sie? Was habt ihr mit ihr gemacht?“ Er schüttelte die hilflose Gestalt, und Asko griff ein, zog ihm die Hände von dem alten Mann fort, bevor die gaffenden Menschen kommen würden, um den Colonel geradewegs zu lynchen.
„Lassen Sie ihn in Ruhe! Er ist alt und gebrechlich!“ rief er und hörte die ärgerlichen Kommentare der umstehenden Frauen
Doch zwischen Hustenanfällen, die ihn fast zerrissen, und verzweifeltem Luftschnappen begann der Alte zu sprechen.
„Er hat ihn ermordet!“ murmelte er. „Giuseppe hat ihn ermordet.“ Dann sank er vollständig in sich zusammen. Im Feuerschein des Hauses konnten sie sehen, daß er tot war. Delacroix fauchte vor Wut und Frustration, sah beinahe so aus, als wollte er den Mann mit Gewalt dazu zwingen weiterzuleben. Seine Hände krallten sich noch einmal in die schwelenden Überreste seiner Kutte, und er schüttelte die schlaffe Gestalt wütend.
„Wo ist sie?“ zischte er den Toten an. Diesmal unterließ Asko es einzugreifen. Nicht, daß er sich vor Delacroix fürchtete, doch der Brite sah im Moment schon beinahe nicht mehr menschlich aus. Sogar die Nonnen wichen vor ihm zurück, manche riefen nach ihrer Äbtissin, als hätte sie die Autorität, zu verhindern, was hier geschah. Andere beteten, und ihre Stimmen klangen hoch und panisch. Asko konnte sie gut verstehen. Der Colonel wirkte wie der Teufel höchstpersönlich, riesengroß, sein Gesicht rot von der Hitze der Flammen, schwarz vor Ruß, sein Mantel rauchte immer noch, und seine gelben Augen sprühten vor Wut.
Eine der Nonnen deutete aufs Dach. Auf der einen Seite des Hauses schlugen bereits Flammen durch den Dachstuhl, leckten entlang der Ziegel und ließen Balken krachen, daß es sich anhörte wie Schüsse.
Corrisande.
Sie sahen, wie sie über die rauchenden, brüchigen Ziegel balancierte wie eine Tänzerin im Sturm. Bei jedem Schritt ihrer schuhlosen Füße sah es so aus, als würde sie rutschen und abstürzen, aber sie hielt sich eisern, gegen jede Erwartung und jede Vernunft. Ein- oder zweimal rutschte sie ein Stück nach unten, doch sie schaffte es, sich zu fangen, bevor sie vollends abstürzte. Der starke, eisige Wind blies ihr das wirre Haar ins Gesicht. Ihr zerrissenes Kleid war wie ein Segel gebläht und zerrte an der zarten Gestalt. Doch noch stand sie, bewegte sich über die dampfenden Ziegel.
Sie war nicht allein auf dem Dach. Der riesige Mönch, mit dem sie auf dem Hotelkorridor gekämpft hatten, kam ihr hinterher. Er war kein so geschickter Kletterer, doch seine Entschlossenheit trieb ihn an. Er brüllte sie auf Italienisch an. Seine haßerfüllte Stimme durchdrang sogar den Lärm des Feuers. Asko verstand nicht, was er rief, doch Delacroix offenbar schon, denn auch er begann nun aus voller Brust auf Italienisch zu brüllen. Keine der beiden Gestalten auf dem Dach schien ihn jedoch wahrzunehmen. Keine hatte Augen oder Ohren für irgend etwas anderes als das Dach. Sie waren vollständig damit beschäftigt, nicht abzustürzen und sich zu entkommen – oder zu fangen.
Es war zu spät, sie durch das brennende Haus herauszuholen. Die Flammen hatten nun fast das ganze Dach erreicht, und es konnte sich nur noch um Minuten handeln, bis das gesamte Haus einstürzen würde.
„Eine Leiter!“ brüllte Delacroix. „Ich brauche eine Leiter!“ Er schrie es den Nonnen in ihre Gesichter, und sie rannten vor ihm davon, kletterten in Panik über das zerstörte Tor zurück nach draußen.
Es gab keine Leiter. Und es war nicht mehr genug Zeit, eine suchen zu gehen. Alles was zu tun blieb, war zuzusehen.
Nicht alles. Delacroix zielte auf den Mönch. Er feuerte zweimal. Und traf daneben. Der Mann war just in dem Moment, als die Schüsse fielen, einen Schritt nach unten gerutscht. Gottverdammtes Glück für den Mönch. Delacroix’ vielsprachige Flüche gellten jähzornig durch den Hof und überzeugten noch die letzte Klosterfrau, daß diese Kreatur direkt aus der Hölle stammte.
Das Mädchen befand sich nun genau zwischen den Flammen und ihrem Verfolger. Das Gebäude war zu hoch, um herunterzuspringen. Doch das war eine ihrer Möglichkeiten. In die Dunkelheit springen, sich von dem Mann hinter ihr fangen zu lassen oder in die Flammen zu gehen.
Asko begann, leise zu beten. Er betete für eine Frau, die kein Mensch war. Gott würde wissen, wie er es meinte. Er selbst wollte nicht darüber nachdenken.
Dann rutschte sie aus, noch bevor sie sich entscheiden konnte. Sie glitt die Ziegel hinunter und schrie, und Delacroix warf seine leere Waffe weg und rannte nach vorn, versuchte dorthin zu gelangen, wo sie landen würde, als ob er eine Chance hätte, sie aufzufangen.
Doch sie fiel nicht. Ihre Hände fanden einen Halt, und sie baumelte schon halb über dem Rand des Daches. Ihre Beine schwangen frei, der Rest ihres Rocks flatterte im Wind und zerrte an ihr.
Der große Mönch erreichte sie ohne Schwierigkeiten.
„Corrisande!“ schrie Delacroix, doch nur der Klosterbruder schien ihn zu hören, grinste hinunter, beugte sich über die Frau und legte ihr etwas ums Handgelenk. Sie konnten nicht genau erkennen, was es war, doch er zog sie brutal daran in die Höhe, zerrte sie an einem Arm hoch, faßte in ihr fliegendes Haar und zog sie weiter zu sich her. Er zwang sie mit sich, am Rand des Daches entlang, dem Feuer entgegen zum anderen Ende des Gebäudes.
Asko hatte den Moment verpaßt, in dem er ihn hätte erschießen können. Jetzt war er durch das Mädchen gedeckt. Er würde es trotzdem versuchen. Sie war zu klein und zierlich, um ihn vollständig zu verdecken. Asko zielte sorgfältig. Ihre Stimme hallte ihm durch den Kopf – „es gibt Schicksale, die schlimmer sind als der Tod.“ und „Wenn Sie in diesem Moment bei mir gewesen wären, hätte ich von Ihnen den gleichen Dienst erwartet.“ Wenn er den Mönch verfehlte und sie traf, war vielleicht auch das eine Rettung. Seltsamerweise war der Gedanke nicht leichter geworden, obwohl er nun wußte, was sie war.
Er drückte ab, doch kein Knall erfolgte. Die Pistole war zu naß, und das Wasser hatte das Pulver ruiniert. Er begann neu zu laden, wußte aber bereits, daß es umsonst war. Er tat es trotzdem, genauso schnell wie Delacroix.
Sie fielen, noch bevor er damit fertig war.
Der große Mönch hatte das Gleichgewicht verloren. Er hatte die Schwierigkeit unterschätzt, am Rande eines brennenden Daches zu balancieren und dabei ein sich wehrendes Mädchen mit sich zu ziehen. Sie schienen endlos lange zu fallen. Diesmal schrie der Mann. Die Frau konnte man nicht mehr hören. Sie blieb still.
Das klatschende Geräusch verriet Asko, daß sie in den Eisbach gefallen und nicht auf dem harten Boden aufgekommen waren. Er und Delacroix rannten gleichzeitig los. Sie liefen durch den feuerbeschienenen Hof und sprangen dabei den fallenden, brennenden Schindeln aus dem Weg. Das Dach gab nach und fiel in sich zusammen. Funken sprühten wie böswilliges Feuerwerk.
Sie erreichten den Bach, und Asko hielt den großen Briten mit beiden Armen fest, damit er nicht den Gestürzten ins Wasser hinterdrein sprang. Einen Moment lang überlegte er sich, ihn niederzuschlagen. Doch es war nicht notwendig.
Das brennende Haus erleuchtete ungleichmäßig die dunklen Wellen des reißenden Baches, dessen Strömung seine beiden Opfer bereits verschlungen und davongetragen hatte. Hinter dem flammenden Gebäude verschwand der Bach in einen unterirdischen Tunnel. Die schwarzen Wellen gurgelten laut.
Delacroix fiel auf die Knie. Er rang hustend nach Atem. Er versuchte nicht mehr hinterherzuspringen.
„Wo führt das hin?“ fragte er tonlos. Und dann noch einmal: „Wo kommt das wieder raus?“
Eine Frauenstimme antwortete ihm.
„Was immer du auch bist, jetzt kannst du sie nicht mehr verderben“, sagte sie. Eine würdevolle und gebieterische Frau stand da in einem schwarzen Habit, ihr kurzes, graues Haar unter einer Nachtmütze versteckt. Sie hielt ein Kruzifix vor sich, als könnte es sie vor dem schwarzen Feind vor ihr beschützen.
Asko stellte sich zwischen ihn und die Nonne, nur so aus Vorsicht. Doch der Engländer griff sie nicht an, starrte sie nur mit blindem, verständnislosem Blick an.
„Es kommt im Park wieder an die Oberfläche“, sagte Asko. „Ich kann Sie hinbringen. Aber ich fürchte ...“ er brachte es nicht über sich, die Worte auszusprechen. Das Wasser lief in einem unterirdischen Tunnelrohrsystem, mindestens eine Meile weit. In dieser Jahreszeit waren diese Tunnel randvoll mit Wasser. Es gab keine Luft zum Atmen.
Er drehte sich um zu der Klosterfrau.
„Ehrwürdige Mutter“, sagte er, „ihr Name ist Corrisande. Bitte beten Sie für sie.“
Die Frau nickte.
Delacroix war jedoch schon wieder aufgesprungen und rannte in langen Sätzen auf das Tor zu.
„Kommen Sie!“ rief er. „Es ist keine Zeit zu verlieren.“
Asko rannte hinter ihm her.