Kapitel 5

 

Es gibt zwei Dinge, denen der Reisende in Srzanizar nicht begegnen wird: einer geraden Linie und einem ehrlichen Menschen. Wer kann schon sagen, ob es einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Umständen gibt?

Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 2

 

»Was ist das für eine Stadt?«, fragte Ana. Die Stricke schnitten in ihre Handgelenke. Sie war durstig und hungrig.

Hetie hob den Kopf. »Srzanizar.« Es war das erste Wort, das sie seit ihrer Gefangennahme sprach. »Von hier sollte unser Schiff gehen.«

Ana hatte den Namen der Stadt noch nie gehört. Ihr Blick glitt über die moosbewachsene hohe Mauer, die sich vom Ufer des Flusses bis in die Hügel zog. Dort verschwand sie hinter den Bäumen. Soldaten standen darauf, schwarze Silhouetten vor einem dunkelroten Himmel.

Zwei von ihnen hockten neben dem geöffneten Tor, durch das der Weg in die Stadt führte. Sie spielten ein Spiel mit bunten Holzkugeln auf einem Gittermuster, das sie in den Staub gekratzt hatten. Sie trugen Lederkappen, eiserne Brustplatten, schwere Lederröcke, die bis zu ihren Knöcheln reichten, und geschnürte Sandalen. Ihre Speere lehnten an der Mauer.

Einer der Soldaten sah auf, als die maskierten Banditinnen näher kamen. Er stieß seinen Kameraden an. Ana bemerkte, dass ihm ein Ohr fehlte.

»Helft uns!«, rief Marta hinter Ana. Sie hob ihre gefesselten Arme, die Handflächen wie zum Gebet zusammengepresst. »Bitte helft uns!«

Die beiden Soldaten wandten sich ab und richteten ihre Blicke auf den Wald. Der jüngere von beiden berührte die vernarbte Stelle, an der sich einst sein Ohr befunden hatte. Vielleicht, dachte Ana, hatte er sich irgendwann einmal nicht schnell genug abgewendet.

»Bitte!« Marta stolperte hinter dem Pferd her, an dem ihr Strick befestigt war. »Bitte! Seht uns doch an!«

Die Soldaten reagierten nicht. Die Hufe der Pferde schaufelten Staub auf das Muster am Wegesrand, bedeckten die Holzkugeln mit einer grauen Schicht.

Stumm ging Ana daran vorbei durch das Tor. Der Geruch nach Hafen und gekochtem Gemüse hing in der Luft. Die Straßen, durch die sie geführt wurde, waren bis auf eine Rinne in ihrer Mitte gepflastert. Sie waren eng. An beiden Seiten drängten sich Holz- und Steinhäuser, Lehmhütten und Verschläge. Man hatte sie übereinander- und nebeneinandergebaut, drei, manchmal sogar vier Stockwerke hoch. Sie lehnten aneinander wie Betrunkene. Hühner und Tauben saßen in den Fenstern und den geöffneten Türen. Auf einem Dach stand eine Ziege.

Fast alle Häuser beherbergten ein Geschäft oder einen Marktstand auf Straßenebene. Ana sah Metzger und Schreiner, Stoffhändler, Schmiede und Schneider. Neben manchen Ständen hockten tätowierte Sklaven, die die Waren bewachten. Die Straßen waren voller Menschen. Ana sah Arme und Reiche, Sklaven, Soldaten, Matrosen, Bauern und Händler. Sie alle gaben den Weg für die Maskierten frei. Manche, vor allem die Armen, riefen ihnen Glückwünsche zu oder klatschten. Die meisten anderen neigten nur den Kopf und traten zur Seite.

Die Banditinnen zogen an ihnen vorbei wie siegreiche Soldaten nach einer Schlacht. Den ganzen Weg bis nach Srzanizar hatte nur hin und wieder eine der Banditinnen ihr Gesichtstuch nach unten gezogen, um tief Luft zu holen. Auch innerhalb der Stadt verbargen sie ihre Gesichter darunter.

Ein Schlagbaum stoppte sie an der Stelle, an der der Weg in den Marktplatz mündete. Vier uniformierte Männer bewachten ihn. Ihre Jacken waren wohl einmal rot gewesen, doch Alter und Staub hatten sie braun gefärbt. Ihre Lederhosen waren abgewetzt. Nur einer der vier trug Stiefel, die anderen gingen barfuß. Sie stützten sich auf lange Speere.

»Auf dem Marktplatz habt ihr nichts zu suchen«, rief einer der Männer, als die Banditinnen näher kamen. »Verschwindet.«

Er hatte den Satz noch nicht vollendet, da flogen ein paar Münzen vor ihm in den Staub.

»Versauf das mit deinen Männern«, sagte die Frau, die das Geld geworfen hatte. Ihre Hand ruhte auf dem Knauf des Schwerts in ihrem Gürtel. »Du kannst besser mit einem Bierkrug umgehen als mit einem Schwert.«

Der Soldat zögerte, dann hob er die Münzen auf und nickte seinem Kameraden am Schlagbaum zu. Die gaben den Weg frei.

»Passt bloß auf«, rief ein anderer Soldat den Frauen hinterher. »Bald weht hier ein anderer Wind!«

Die Banditin, die das Geld geworfen hatte, winkte ab, ohne sich zu ihm umzudrehen.

Diese Bande scheint die ganze Stadt zu beherrschen, dachte Ana. Wieso greift der Fürst dieser Provinz nicht ein?

Auf dem Marktplatz lenkten die Banditinnen ihre Pferde nach links, in schmalere, steil ansteigende Gassen. Der Weg war anstrengend. Ana ließ sich von dem Pferd mitziehen. Sie legte den Kopf in den Nacken und sah nach oben zwischen den Häusern hindurch zur Kuppe des Hügels. Geschwärzte Balken, eingestürzte Türme und Geröll – die ausgebrannte Ruine einer Festung.

Was ist hier geschehen?, wollte sie fragen, war jedoch zu erschöpft, um die Worte auszusprechen. Hinter ihr keuchte Marta bei jedem Schritt.

Auf halber Höhe verließen die Banditinnen die Gasse und wandten sich wieder nach links. Auch dort standen die Hütten dicht gedrängt, nebeneinander und aufeinander. Der Boden der einen war das Dach der anderen. Auf manchen lagen gegerbte Felle zum Trocknen. Hier und dort gab es kleine Gemüsegärten, Weinreben und Nussbäume. Menschen saßen auf Holzbänken vor ihren Häusern, tranken Wein und aßen gegrillte Fische, nach denen die ganze Straße roch. Ein Priester des Grünen Gottes segnete jeden, der ihn einen Schluck Wein trinken ließ.

Vor einem hölzernen Tor hielten die Banditinnen an. Es befand sich in einer Steinmauer, die gut zwei Mannlängen hoch war. Mehrere Frauen, bewaffnet und ebenfalls mit Tüchern vor den Gesichtern, standen auf der Mauer und hielten Wache. Eine von ihnen gab jemandem im Innenhof ein Zeichen. Das Tor öffnete sich.

Ana drehte sich um und blickte zurück über die Stadt. Graue Rauchfahnen stiegen aus einigen Häusern in den dunklen Himmel. Sie erkannte den Marktplatz wieder, ließ den Blick weiterschweifen zu den Häusern am Hafen, den Schiffen, die dort lagen, den Masten, die hin und her schwankten und sich kreuzten wie Schwerterklingen, und noch weiter hinaus auf den Großen Fluss, eine endlose schwarze Fläche, die mit dem Horizont verschmolz, ruhig und gleichmütig. Keine Welle kräuselte die Oberfläche, kein Wind zwang dem Fluss seinen Rhythmus auf. Er war da, so wie er es stets gewesen war, es stets sein würde.

Ana beneidete ihn.

Sie wandte den Blick nicht ab, während sie an ihren Fesseln hinter dem Pferd hergezogen wurde. Erst als sich das Tor hinter ihr schloss und die Endlosigkeit des Flusses dem Grau der Mauern wich, drehte sie sich um.

Sie stand in einem Innenhof. Rechts und links von ihr befanden sich Stallungen, vor ihr ein großes Gebäude aus Holz und Stein, dessen unteres Stockwerk deutlich höher war als das obere. Eine steile Holztreppe führte nach oben zu einem Balkon, der das gesamte Gebäude zu umlaufen schien wie eine Galerie. An der Vorderfront des Hauses befand sich eine offen stehende schmale Tür, durch die man auf den Balkon gelangen konnte. Es gab einige Fensterlöcher, in denen Tauben saßen und leise gurrten.

Hühner liefen über den Innenhof, vorbei an drei Frauen, die in einer offenen Küche hockten und Fische in große Blätter einrollten. Auch sie trugen Gesichtstücher, allerdings hatten sie diese nicht hoch über Mund und Nase gezogen, sondern trugen sie wie Halstücher. Rauch wehte aus dem Lehmofen über den Hof. Der Geruch erinnerte Ana daran, dass sie seit dem Morgen nichts mehr gegessen hatte.

Sie sah sich um und zählte die Frauen. Es waren fünfzehn. Bis auf die drei, die das Abendessen zubereiteten, waren alle bewaffnet. Niemand sagte etwas.

Die Banditinnen, die sie hergebracht hatten, zogen ihre Gesichtstücher endlich nach unten. Innerhalb ihres Quartiers war die Maskerade sinnlos.

Einige von ihnen verschwanden im Haupthaus, die anderen blieben stehen. Eine hielt die Stricke ihrer Gefangenen wie Pferdezaumzeug in der Hand, eine andere hatte die Handschuhe ausgezogen und wusch sich die Hände in einem Fass Regenwasser.

»Könnten wir bitte etwas Wasser bekommen?«, fragte Ana sie. In der Stille klang ihre Stimme unnatürlich laut.

Die Frau hob den Kopf. Ana blickte in dunkelbraune Augen. Einen Moment zögerte die Banditin, dann tauchte sie eine Kelle in das Fass.

»Danke.« Ana nahm ihr die Kelle aus der Hand. Ihre Haut war dunkel, die schlanken, langen Finger voller Schwielen.

Ana setzte sich neben Hetie und Marta in den Staub und reichte Hetie die Kelle. »Hier, trink etwas.«

Die beiden tauschten einen kurzen Blick, dann senkte Hetie den Kopf. »Ich bin nicht so durstig. Lass Marta zuerst trinken.«

Die ältere Frau nahm Ana die Kelle aus der Hand und trank gierig. Wasser lief ihr über Kinn und Hals. Sie ließ die Kelle erst sinken, als sie leer war. Ana ballte die Hand zur Faust. Sie setzte dazu an, etwas zu sagen, aber Hetie legte ihr die Finger auf den Arm.

Bitte keinen Streit, bat ihr Blick.

Ana presste die Lippen zusammen und nickte.

Schweigend hockten sie im Innenhof. Es war fast dunkel. Die Schatten der Banditinnen verschmolzen mit den Silhouetten der Gebäude. Nach einer Weile tauchte eine ihrer Entführerinnen an der Tür des Haupthauses auf und nickte den anderen zu.

Ana stand auf, bevor sie durch einen Ruck des Stricks dazu gezwungen werden konnte. Hetie half Marta auf die Beine. Die Räuberinnen führten sie durch die Tür ins Haupthaus. Fackeln und Öllampen erhellten einen großen rechteckigen Raum. Lange Tische und Holzbänke standen dort, auf der rechten Seite gab es abgetrennte Bereiche, in denen vielleicht früher einmal Pferde untergebracht worden waren, die nun jedoch als Schlafplätze dienten. Auf der linken Seite befand sich eine Theke, dahinter eine Tür, die in einen weiteren Raum führte. Sie stand offen.

An der Wand daneben lehnte ein Mann. Er war so groß, dass er über den Türrahmen hinausreichte, und muskulös. Seine nackten Arme hatte er vor der Brust verschränkt. Er war der einzige Mann, den Ana und ihre Mitgefangenen bisher im Quartier der Räuberinnen gesehen hatten.

»Ihr lebt. Seid froh darüber«, sagte er. »Wenn ihr uns keinen Ärger macht, wird das auch so bleiben.«

Seine Stimme war rau und laut. Er hatte langes schwarzes Haar, das er zu einigen Dutzend Zöpfen zusammengeflochten hatte. Seine Wangen waren tätowiert, das Gesicht wirkte im Halbdunkel kantig und hart.

Ana blieb stehen. Die Banditin vor ihr zog an ihrem Strick, aber sie stemmte sich dagegen.

»Ich muss mit dir reden«, sagte sie.

Der Mann blinzelte überrascht. Sein Blick glitt zur offenen Tür, als erwarte er etwas. Er zögerte einen Moment und schien erst dann eine Entscheidung zu treffen, denn er sah zurück zu Ana.

»Du musst nur eins machen: deinen Hintern bewegen. Los jetzt!« Er klatschte in seine gewaltigen, tätowierten Hände.

Der Ruck, mit dem an Anas Strick gerissen wurde, ließ sie stolpern. Sie stieß mit dem Fuß gegen eine Holzbank, aber Hetie hielt ihren Arm fest und gab ihr das Gleichgewicht zurück.

»Danke«, flüsterte Ana. Fletie nickte nur. Sie war blass.

Durch die offen stehende Hintertür konnte Ana einen kleinen Gemüsegarten sehen, der von einer Mauer umgeben war. Sie wollte darauf zugehen, doch ihre Entführerinnen wandten sich vor der Tür nach rechts. Ana sah einen Flaschenzug unter der Decke. Mit dem Blick folgte sie der Kette, die daran hing, zu einem Eisenring im Boden.

Zwei der Banditinnen zogen an der Kette. Sie mussten ihr ganzes Körpergewicht einsetzen, um die Falltür, in die der Ring eingelassen war, anzuheben. Eine dritte nahm eine Fackel, die neben der Tür an der Wand hing, und ging eine Treppe hinunter. Ana folgte ihr notgedrungen.

Der Feuerschein riss Holzbalken, gebrannte Ziegel und Steine aus der Dunkelheit. Die Treppe führte nur einige Stufen weit nach unten, gerade so weit, dass Ana ohne sich zu ducken in den Gang, der dahinterlag, treten konnte. Ein Teil von ihr bemerkte, dass sich auch kein anderer ducken musste.

Die Frau, die vor ihr ging, steckte die Fackel in eine Halterung. Ihr Rücken nahm Ana die Sicht, aber sie hörte, wie Riegel zurückgeschoben wurden, dann öffnete sich quietschend eine Tür. Ein Stoß gegen die Schulter machte ihr klar, dass sie hindurchgehen sollte. Die Klinge, die vor ihr aufblitzte, ließ sie zurückweichen, doch die Frau zog sie an dem Strick weiter auf sich zu. Die Banditin stieß die Luft aus, eine Art lautloses Lachen, dann schnitt die Klinge durch Anas Fesseln. Sie fielen zu Boden.

Einen Moment lang dachte Ana darüber nach, sich umzudrehen und loszulaufen, doch der Gang war so schmal, dass sie an den anderen nicht vorbeigekommen wäre. Also betrat sie den Raum, der hinter der Tür lag.

Es war dunkel, trotzdem spürte sie, dass sie nicht allein war. Stroh raschelte unter ihren Sohlen. Es stank nach Schweiß und Exkrementen.

Hetie und Marta drängten sich hinter ihr in den Raum.

Mit einem Knall, der sie zusammenzucken ließ, wurde die Tür zugeschlagen. Sie hörte, wie der Riegel vorgeschoben wurde. Das Licht der Fackel schien noch einen Augenblick länger unter dem Türspalt hindurch, dann verschwand es ebenso wie die Geräusche der Schritte vor der Tür.

»Hallo?«, fragte sie in die Dunkelheit.

»Warte.« Die Stimme sprach leise. »Sie mögen es nicht, wenn wir reden.«

Hinter Ana raschelte Kleidung. Über ihr fiel eine Falltür dumpf ins Schloss.

»So. Jetzt haben wir unsere Ruhe.« Die Stimme gehörte einem Mann. Er sprach mit dem weichen Dialekt der Flussvölker. »Einen Moment.«

»Darf ich?«, fragte eine zweite, hellere Stimme, die eines Kindes, schätzte Ana, oder einer sehr jungen Frau.

»Hier.«

Es raschelte und knackte, dann sprühten plötzlich Funken. In der Dunkelheit wirkten sie so hell und bunt wie Feuerwerk. Es begann nach Rauch zu riechen, eine kleine Flamme flackerte auf.

»Was macht ihr da?« Marta klang eher ärgerlich als ängstlich. »Wir werden ersticken.«

»Ihr müsst keine Angst haben«, antwortete eine Frauenstimme. »Es wird gleich heller.«

Die Flamme wurde größer, gleichmäßiger. Ana sah, dass sie von einem Kerzendocht stammte, der in einem unförmigen Wachsklumpen steckte. Das Licht drängte die Dunkelheit zurück.

Die Zelle – ein anderes Wort fiel Ana nicht ein – war größer, als sie gedacht hatte. Sie war zwar nur einige Schritte lang, aber dafür so breit, dass die linke Wand nicht mehr zu erkennen war. Überall gab es Winkel, Nischen und Ecken, in denen sich die Schwärze gegen das Licht stemmte. Aus einer lugte ein Mensch hervor. Sein Gesicht war ein grauer, undeutlicher Fleck.

Nur die, die um die Kerze herumsaßen, konnte Ana erkennen. Sie sah einen bärtigen, dicken Mann, der ein paar fahre älter sein musste als sie, eine Frau mit grauem, strähnigem Haar und ein Mädchen. Die Schatten der Flamme malten dunkle Ringe unter ihre Augen.

»Wo kommt ihr her?«, fragte die Frau.

Ana wollte antworten, aber Marta drängte sich an ihr vorbei. »Aus dem Norden. Wir wollten …«

Die Frau unterbrach sie. »Norden? Was könnt ihr uns vom Krieg sagen? Wie steht es um Westfalls Armee?«

»Was kümmert euch das?«, fragte Marta zurück. Es gefiel ihr offensichtlich nicht, unterbrochen zu werden. »Solltet ihr euch nicht um euer eigenes Schicksal sorgen?«

»Wir kennen unser Schicksal, es gibt keinen Grund zur Sorge. Bitte sagt uns also, was in der Welt vorgeht.«

Ana gab Marta nicht die Gelegenheit zu einer Antwort. »Baldericks Armee ist geschlagen, er selbst tot. Niemand weiß, was mit seinem Sohn ist.«

Ein Raunen ging durch die Zelle. Die ältere Frau senkte den Kopf und flüsterte etwas, vielleicht ein Gebet. Ana biss die Zähne in Erwartung von Martas Widerspruch zusammen, doch der blieb aus. Stattdessen fragte sie: »Und was ist euer Schicksal?«

»Das gleiche wie das eure.« Die ältere Frau hob wieder den Kopf. »Wir werden in die Sklaverei verkauft.«

Marta wich zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Tür stieß, so als könne die Distanz zu den anderen sie vor deren Schicksal bewahren.

»Eher würde ich sterben«, stieß sie hervor. Ihr Blick glitt zu Hetie, die stumm und mit geweiteten Augen neben ihr stand. »Eher würden wir sterben.«

Hetie blinzelte, antwortete jedoch nicht.

Ana fragte sich kurz, ob ihr Vater, der Sklavenhändler, der zum Fürsten geworden war, die Ironie zu schätzen gewusst hätte, dass seine Tochter, als Fürstin geboren, zur Sklavin werden sollte. Sie spürte den Drang zu lachen und schluckte, bis er verging.

»Ich werde nicht in die Sklaverei verkauft«, sagte das Mädchen, das neben der Kerze hockte, stolz. »Ich bin eine Geisel.«

»Das stimmt, Merie.« Die ältere Frau strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Du kommst bald wieder nach Hause.«

Es klang, als habe sie das bereits sehr oft gesagt.

»Bestärk sie doch nicht darin, Florenia.« Die männliche, alt klingende Stimme kam aus den Schatten. »Sie wird ihr Zuhause nie wiedersehen, genau wie wir.«

Merie fuhr herum. »Das ist nicht wahr! Ich bin eine Geisel!«

»Nein, das bist du nicht.« Der alte Mann schlurfte aus den Schatten heraus zu einem Strohballen in einer Ecke der Zelle. »Deine Familie ist ja noch nicht einmal reich.«

Er wandte sich dem Strohballen zu. Es begann zu plätschern. »Wie naiv ihr alle seid. Die Jungen werden abgeholt, einer nach dem anderen, nur die Alten und die Kinder bleiben zurück, aber ihr denkt immer noch, dass alles gut werden wird.«

»Horouz, du machst ihnen Angst, dabei weißt du selbst nicht, was sein wird«, sagte Florenia. Sie gingen so vertraut miteinander um, dass Ana sie für Mann und Frau hielt.

Horouz drehte sich um. Die Bewegung ließ beißenden Uringestank durch die Zelle wehen. »Und ob ich das weiß. Ich hab sie doch reden hören, diese Huren dort oben.« Er zeigte zur Decke, anklagend, als wolle er die Götter verfluchen. »Rasquawan haben sie uns genannt. Rasquawan.«

Er schlurfte zurück in seine Nische. Der Uringestank umwehte ihn wie ein Umhang. Ana presste die Lippen zusammen, kämpfte gegen die plötzliche Übelkeit, die das Wort und der Gestank in ihr auslösten.

Jemand berührte ihre Hand. Instinktiv zog sie den Arm zurück. Erst dann drehte sie den Kopf.

Hetie sah sie an. »Was heißt Rasquawan?«

»Es …« Ana stockte. Einen Moment lang wollte sie lügen, doch schließlich richtete sie den Blick in die Dunkelheit. »Rasquawan nennt man die Sklaven, die nach Süden gebracht werden, um in den Arenen zu kämpfen. Es heißt so viel wie …« Sie räusperte sich. In der Schwärze jenseits des Kerzenlichts tanzte das Gesicht des Verrückten aus dem Wald auf und ab. Sie mögen es nicht, wenn man schmutzig ist.

»Die Toten«, sagte Florenia leise.

 

 

Der dicke junge Mann war Matrose und hieß Nungo'was. In der Sprache der Flussvölker bedeutete das Fischschwanz. Ana wagte nicht, ihn zu fragen, weshalb er so hieß.

Nungo'was redete viel, aber das störte sie nicht. Es war ein warmer Morgen, und sie knieten gemeinsam in dem großen Gemüsegarten hinter dem Haus und zupften Unkraut. Die Banditinnen hatten Ana zusammen mit einem halben Dutzend anderer Gefangener, darunter auch Nungo'was und Merie, aus der Zelle geholt und ihnen befohlen, im Garten zu arbeiten. Die anderen waren in der Dunkelheit zurückgeblieben.

Natürlich, dachte Ana, es wäre zu gefährlich, uns alle nach oben zu holen.

Durch zwei Pflanzen sah sie zu den Wachen, die im Schatten des Hauses saßen und sich unterhielten. Sie beachteten ihre Gefangenen kaum, dachten wohl, die hohen Mauern, die den Garten an drei Seiten umschlossen, würden ausreichen, um eine Flucht zu verhindern.

»Warum sind das alles Frauen?«, fragte Ana leise.

Nungo'was hob die Schultern. »Ich habe viele Geschichten über sie auf dem Fluss gehört. Es heißt, sie seien die Witwen und Töchter von Kriegern, die für den Roten König gefallen sind. Sie beherrschen fast die ganze Stadt. Die Wachen haben ihnen nichts entgegenzusetzen. Es gibt noch ein paar andere Banden rund um den Hafen, aber die Todesmasken sind die größte von allen.«

»Todesmasken?«, fragte Merie. Sie kniete ein wenig entfernt von Ana auf dem sandigen Boden und beobachtete die Wachen. Sie trug einen Schal um den Hals, obwohl es nicht kalt war. In den Fingern hielt sie einen Zweig, den sie unablässig drehte.

»So heißen sie hier, aber sie haben natürlich noch andere, weniger freundliche Namen.« Nungo'was grinste. Seine Zähne waren grün. Er sagte, das käme von den Algen, die Matrosen auf dem Wasser aßen.

Merie senkte den Blick. »Sie machen mir Angst. Unser Priester hat gesagt, dass die Götter Frauen verfluchen, die Leben nehmen, anstatt es zu geben.«

»Dann hoffe ich nur, dass der Fluch schnell wirkt und sie alle tot umfallen, bevor sie mich in den Süden schicken.« Nungo'was grinste nicht mehr. Mit einem Ruck riss er die Wurzeln einer kleinen Pflanze aus dem Boden.

Merie schüttelte den Kopf. »Sie werden dich bestimmt nicht in den Süden schicken. Du bist doch ein großer, starker Mann.«

Nungo'was grunzte nur und warf die Pflanze hinter sich.

»Das bist du. Du wirst bestimmt in den Norden kommen, vielleicht sogar nach Westfall. Du wirst die Stadt sehen und die Ruinen der Vergangenen und …«

»Merie.« Ana legte dem Mädchen eine Hand auf den Arm. »Hör auf. Er ist Matrose. Niemand wird ihn kaufen, weil er Unglück bringt.«

Nungo'was spuckte aus. Sein Speichel hinterließ dunkle Flecken auf dem Boden. »Kaufst einen Sklaven du vom Fluss«, zitierte er dann, »ist mit Freud und Wohlstand Schluss.«

»Aber warum bringt er Unglück?«

»Es ist einfach so, Merie. Und jetzt sei still und arbeite weiter.« Ana warf dem Mädchen einen warnenden Blick zu.

Merie zögerte einen Moment, dann nickte sie. »Ja, Penya.«

Schweigend arbeiteten sie weiter. Ana sah immer wieder auf, versuchte sich ihre Umgebung so gut wie möglich einzuprägen. Die Mauern waren hoch, aber an einer Stelle lehnte ein kleiner Schuppen am Stein, in dem einige Fässer standen. In Gedanken stand sie auf, lief durch die Beete, kletterte über das Regenfass auf die Mauer und sprang in die Freiheit. Doch dann glitt ihr Blick zurück zu den Banditinnen und den Speeren, die neben ihnen am Boden lagen. Kein Mensch konnte schneller laufen, als ein Speer flog.

Jonan könnte es. Der Gedanke war plötzlich da, ebenso unerwartet wie unerwünscht.

»Ich weiß es!« Meries Stimme ließ Ana zusammenzucken. Das Mädchen sah Nungo'was an. »Wenn mein Vater das Lösegeld für mich bringt, soll er für dich mitbezahlen. Dann bist du auch eine Geisel und kein Sklave, und niemand wird dir etwas tun.«

Nungo'was wischte sich mit einer Hand den Schweiß aus dem Gesicht. Dreck hinterließ dunkle Striemen auf seiner Stirn. »Das ist eine gute Idee«, sagte er dann, »und sehr großzügig von dir.«

Merie errötete und beugte sich über das Unkraut vor ihren Knien. Der Schal – eigentlich nur ein schmutziges Stück Stoff, das sie sich um den Hals gewickelt hatte – rutschte nach unten. Ana bemerkte den dunklen Umriss darunter.

»Hast du dich verletzt?«, fragte sie.

»Was?« Merie tastete nach ihrem Hals. »Nein, das nicht. Es ist ein … ein Mal. Ich kann es nicht leiden. Es ist hässlich.«

Sie zog den Schal wieder hoch, so als wolle sie etwas Unanständiges bedecken.

»So schlimm ist es doch nicht«, sagte Ana leichthin.

Merie schüttelte den Kopf. »Nein, es ist ein Fluch. Der Priester hat das gesagt.«

»Was wissen die Priester schon?« Nungo'was zog mit beiden Händen an einer Wurzel, die tief im Boden steckte. Er grunzte vor Anstrengung, stand aber nicht auf. »Auf dem Wasser braucht man keine Priester. Wir haben den Fluss, er gibt uns alles, was ein Mensch begehren könnte. Nahrung, Wasser, süße Träume in der Nacht, das ist mehr als genug für uns. Wenn du willst, nehme ich dich eines Tages mal …«

Er unterbrach sich, drehte den Kopf und blinzelte, als habe er einen Moment lang vergessen, wo er war.

»… mit«, flüsterte er. Ana sah Tränen auf seinen Wangen.

»Außerdem«, sagte sie rasch, um Merie von ihm abzulenken, »hat sogar die Fürstin von Westfall ein solches Mal. Du musst dich also nicht dafür schämen.«

Die Augen des Mädchens wurden groß. »Woher weißt du denn, dass Fürstin Syrah ein Mal hat? Bist du schon mal in Westfall gewesen? Hast du sie gesehen?«

»Nein, natürlich nicht.« Ana versuchte, ihrer Antwort einen leichtfertigen Klang zu geben. »Aber es kommen viele Reisende durch Ashanar, da hört man die eine oder andere Geschichte.«

Nungo'was wischte sich mit den Handballen über die Augen. »Heißt nicht, dass sie wahr ist.«

»Das heißt aber auch nicht, dass sie unwahr ist.« Es war eine schnippische Antwort. Nungo'was wirkte überrascht.

Innerlich mahnte sich Ana zur Vorsicht. Penya, das einfache Mädchen vom Land, die Tochter eines Viehhändlers, konnte nichts über Fürstin Syrahs Feuermal wissen. Sie verbarg es bei offiziellen Anlässen. Nur die Menschen, die ihr nahe kamen, bemerkten es.

Und Penya, fügte sie in Gedanken hinzu, würde es auch nicht wagen, Nungo'was zurechtzuweisen. Schließlich war er älter als sie und ein Mann.

Ana räusperte sich. »Ich will damit nur sagen …«

Sie unterbrach sich, war erleichtert über die Rufe, die sie plötzlich von der anderen Seite des Hauses hörte.

»Passt auf!«

»Haltet sie doch fest!«

»Was macht ihr denn da?«

Die beiden Wachen sprangen auf und griffen nach ihren Speeren. Eine von beiden lief ins Innere des Hauses, die andere blieb vor der Tür stehen.

Wütende Schreie mischten sich in die Rufe, dann Gelächter.

»Was ist da los?«, flüsterte Merie. Ana hatte nicht bemerkt, dass sie näher herangerutscht war. Nun legte sie ihre Hand um Anas Arm. »Werden sie uns was tun?«

»Bestimmt nicht.«

Der Lärm ließ nach. Kurz darauf tauchte die zweite Wache wieder an der Tür auf. Merie wollte etwas fragen, aber Ana legte sich den Zeigefinger auf die Lippen.

»Gab es Ärger?«, hörte sie die erste Wache fragen.

Die zweite grinste. Sie war eine grobschlächtige Frau mit kurzem blondem Haar. »Darna hat eine Betrunkene aufgegabelt und mitgebracht. Die hat ganz schön um sich geschlagen, als sie aufgewacht ist. Zu dritt haben wir sie wieder schlafen gelegt.« Ihre Stimme wurde so leise, dass Ana sie kaum noch verstehen konnte. »Erys ist wütend. Sie sagt, Darna hätte sie liegen lassen sollen. Wer würde schon eine Sklavin kaufen, die sich morgens betrinkt?«

»Da hat sie recht. Und was machen wir jetzt mit ihr?«

»Erys hat sie zu den anderen sperren lassen. Vielleicht freut man sich ja im Süden über sie.«

»Redet ihr oder steht ihr Wache?«, fragte eine scharfe, helle Stimme. Die beiden Frauen zuckten zusammen. Ana sah zum Balkon, der den ersten Stock des Hauses umgab. Die Sonne war so hoch gestiegen, dass das Licht in Anas Augen stach. Schützend hob sie die Hand, aber die Frau, die auf dem Balkon aufgetaucht war, blieb trotzdem eine flimmernde, undeutliche Gestalt.

»Verzeih, Erys, wir stehen Wache.« Die Banditinnen neigten den Kopf.

»Dann ist ja gut.« Die Frau auf dem Balkon wandte sich ab, blieb stehen und drehte plötzlich den Kopf. Ana spürte ihren Blick, obwohl ihr Gesicht nur ein heller Fleck war. Es war ein unangenehmes Gefühl.

Dann war es auch schon vorbei. Erys wandte sich ab und ging, aber das Gefühl blieb, so wie der Rauch eines längst erkalteten Feuers.

 

 

Erst am Abend, als die Sonne tief über dem Großen Fluss hing, brachten die Banditinnen Ana und die anderen in ihre Zelle zurück. Den ganzen Tag über hatten sie Unkraut gejätet und Setzlinge gepflanzt. Anas Hände fühlten sich rau an. Sie war müde.

»Wo ist denn die Neue?«, fragte Nungo'was, während er die Kerze anzündete.

Florenia zeigte auf eine der Nischen. »Wir haben sie dort hinten hingebracht. Sie stinkt fürchterlich und schnarcht. Ich glaube, sie schläft ihren Rausch aus.«

»Ich denke, dass sie krank ist«, sagte Marta. Sie und Hetie saßen abseits von den anderen. »Geht nicht näher heran.«

»Sie ist nur betrunken. Die Frauen haben über sie geredet.« Ana kniff die Augen zusammen, konnte aber in der Nische nichts und niemanden ausmachen. Nach dem Tag im Sonnenlicht wirkte die Zelle noch dunkler und bedrückender als zuvor.

»Du weißt ja alles besser.« Martas Stimme klang keifend. »Dann geh doch hin und steck dich an.«

»Das werde ich auch«, sagte Ana. Es war die Reaktion eines trotzigen Kindes, lächerlich und albern, aber sie konnte nicht anders.

Sie versuchte, ihre Schritte unbeschwert wirken zu lassen, als sie auf die Nische zuging. Darin war es dunkel. Das Kerzenlicht reichte nicht so weit.

Ana sank in die Hocke. Sie ertastete Stoff, dann eine Hand. Die Haut fühlte sich klamm an. Vorsichtig beugte sie sich über den Körper, berührte Haut, Haare, dann Lippen. Die Frau seufzte leise im Schlaf. Eine Wolke aus Alkohol und Essig hüllte Ana ein. Sie presste sich die Hand vor Mund und Nase und hätte beinahe gewürgt.

»Lebt sie noch?«, fragte Horouz. »Wir haben schon eine Weile nichts mehr von ihr gehört.«

»Ich kannte mal einen Matrosen, der auch den ganzen Tag nur gesoffen hat«, sagte Nungo'was. »Ist eines morgens einfach umgefallen und nie wieder aufgestanden.«

Seine Worte gingen im Rauschen von Anas Gedanken unter. Auf Knien wich sie zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Wand stieß.

»Drei Tage hat er an Deck gelegen«, fuhr Nungo'was fort, »dann war er tot. Seine Haut war so gelb wie getrocknetes Seegras. So was habe ich noch nie gesehen.«

Ana biss sich auf die Lippen, kämpfte gegen die Panik an, die in ihr aufstieg, und gegen die Erinnerungen an schlagende Türen, heisere Schreie und essigsauren Atem.

Mit aller Kraft konzentrierte sie sich auf ihre Gedanken und auf die Frage, wie sie entkommen konnten, bevor der Nachtschatten, mit dem sie sich die Zelle teilten, erwachte.