Kapitel 29
Die Stadt der Magier ist ein seltsamer Ort. Wer sie bereist, wird voller Melancholie zurückkehren und vielleicht sogar den Göttern danken, dass ihm ein Leben voller Macht und Reichtum erspart geblieben ist.
Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 1
»Wir wissen es seit einiger Zeit«, sagte Milus Ephardus. Die Magier hatten den Fürsten in das Haus gebracht, in dem Ephardus und sein Sohn lebten. Es war ein großes Haus und dehnte sich über drei Ebenen aus, die mit Treppen und Hängebrücken verbunden waren. Aus Höflichkeit dem Fürsten gegenüber blieb man auf der unteren Ebene. Sie bestand aus mehreren kleinen Räumen, in deren Regalen sich Pergamentrollen stapelten. Soldaten sicherten die Tür.
Jonan stand hinter dem Sessel, in dem Craymorus Platz genommen hatte, und beobachtete die Magier. Außer Ephardus und Adelus befanden sich noch zwei Frauen und ein Mann im Raum. Sie hörten überwiegend zu und sagten nur wenig.
Jonan war neugierig. Er hatte noch nie einen Magier gesehen, nur von ihnen gehört. Er wusste um ihre Magie und um ihre Schande.
Wieso haben sie gelogen?, dachte er. Wieso hatten sie die Armeen auf den Hügel, der zu ihrer Schande werden sollte, geführt, obwohl sie wussten, dass ihre Magie vergangen war. Niemand hatte ihm das je erklären können.
Um ihn herum ging die Unterhaltung weiter, aber Jonan hörte kaum zu. Stattdessen beobachtete er die Menschen in dem kleinen, stickigen Raum. Hätte Jonan nicht gewusst, dass Milus und Craymorus Vater und Sohn waren, wäre ihm das nicht aufgefallen. Sie gingen miteinander um wie Fremde, Milus überheblich, fast schon unverschämt, Craymorus respektvoll und nervös. Doch Jonan sah alte, längst verhärtete Wut in seinen angespannten Schultern. Er fragte sich, was wohl geschehen würde, wenn diese Wut eines Tages durchbrach.
Er sah zu Adelus, dem Bruder des Fürsten. Er versuchte seinen Vater nachzuahmen, aber ihm fehlte die Härte. Vielleicht würde sie ihm immer fehlen. In den heimlichen Blicken, mit denen er seinen Bruder gelegentlich musterte, lag Neugier.
»Ist die Magie stark genug, um als Waffe gegen die Nachtschatten zu dienen?«, fragte der Fürst.
»Ja.« Milus antwortete, ohne zu zögern. »Sie wird stärker werden, je näher wir dem Fluss kommen. So war es immer schon. Der Fluss wird uns tragen.«
Es klang fast wie ein Gebet.
Die Beine des Fürsten zuckten. Er legte die Hände auf die Knie. Falten gruben sich in seine Mundwinkel. Er hatte Schmerzen.
»Beweise es«, forderte er.
Milus hob die Augenbrauen. Er sah die anderen Magier an. Sie nickten. »Wenn er es möchte, soll er es sehen«, sagte eine der beiden Frauen. »Er ist der Fürst. Das ist sein Recht.«
Milus zögerte, dann aber neigte auch er den Kopf. »Wir werden es dir zeigen, aber …« Er hob den Zeigefinger, so wie es Jonans Klingenlehrer immer vor einer wichtigen Lektion getan hatte. »Aber wenn du mit dem, was du siehst, zufrieden bist, wirst du uns geben, was wir verlangen.«
»Und das wäre?«
»Wir werden es dich wissen lassen, wenn wir siegreich waren.«
Craymorus antwortete nicht, sondern zog die Lederriemen an seinen Schienen fest. Jonan trat vor und reichte ihm die Krücken, bevor er danach fragen musste.
»Danke«, sagte der Fürst, dann nickte er Milus zu. »Zeig es mir.«
Er bestimmte das Tempo. Seine Krücken fanden kaum Halt auf dem regennassen Holz der Hängebrücke, aber Jonan half ihm nicht, ging nur neben ihm, bereit ihn aufzufangen, sollte es nötig sein. Die anderen folgten ihm wie in einer Prozession.
Mehr und mehr Magier verließen ihre Häuser und schlossen sich ihnen an. Jonan schätzte, dass es mehr als fünfzig waren, die mit langsamen Schritten den Felsen entgegengingen. Craymorus war außer Atem, als sie festen Boden erreichten, und stützte sich schwer auf die Krücken, aber Jonan entging nicht der Stolz in seinem Blick.
Garrsy breitete seinen Umhang auf einem Felsen aus und verbeugte sich. »Ihr wirkt erschöpft. Bitte setzt Euch.«
Craymorus schüttelte den Kopf. Es hatte aufgehört zu regnen, aber sein Haar hing noch nass in sein Gesicht.
»Nehmt Euren Umhang, Garrsy, bevor Ihr Euch erkältet.«
Er ist seinem Vater ähnlicher, als er ahnt, dachte Jonan.
»Adelus«, sagte Milus. »Zeig es ihm.«
Craymorus hob die Augenbrauen. Dass sein Bruder den Beweis erbringen sollte, schien ihn zu überraschen.
Adelus trat vor, die Soldaten zurück. Sie wirkten nervös. So wie Jonan waren sie nicht alt genug, um echte Magie erlebt zu haben. Sie wussten nicht, was sie erwartete.
Der Junge wischte Steine und Kiesel zur Seite, dann stampfte er mit dem Fuß auf. Einmal, zweimal, dann mit dem anderen, einmal, zweimal, dreimal. Er klatschte in die Hände, schuf einen Rhythmus, dem seine Beine folgten. Sein Mund bewegte sich lautlos, seine Füße wirbelten Dreck und Staub auf. Immer schneller wurde sein Tanz. Er riss die Knie hoch, sprang mit beiden Beinen in die Luft, stampfte und trat in den Boden, so als müsse er, was auch immer sich darin befand, mit aller Macht herausquetschen. Schweiß lief über sein Gesicht. Das Hemd klebte an seinem Rücken.
Und dann flog er.
Jonan blinzelte überrascht. Es war seltsam, einen Menschen über dem Boden schweben zu sehen. Adelus drehte sich und streckte die Hände aus. Seine Handflächen zeigten auf die Stadt der Magier. Jonan spürte ein Kribbeln auf der Haut, so als läge ein Gewitter in der Luft.
Es knirschte – dann flog eines der Häuser mit einem Knall auseinander! Ein zweites folgte, dann ein drittes und viertes. Die filigranen Strukturen wurden hinweggerissen. Trümmer stürzten in die Tiefe.
»Danke, Adelus, das reicht«, sagte Milus.
Der Junge ließ sich fallen, ging in die Knie und kam schwer atmend wieder hoch. Er grinste. »Ich dachte, die brauchen wir sowieso nicht mehr.«
Einige Magier lachten, aber die meisten sahen Craymorus an. Der Fürst stand reglos am Rand des Plateaus, den Blick auf die Stadt gerichtet. Jonan bemerkte Tropfen auf seinen Wangen, aber ob es Tränen oder Wasser war, das aus seinen Haaren rann, wusste er nicht.
»Wir brechen auf, sobald ihr fertig seid«, sagte Craymorus.
Milus nickte. »Einverstanden.«
Die Magier nahmen nicht viel mit, nur ein wenig Kleidung und Vorräte für den Weg. Trotzdem dauerte es Stunden, bis ihr Gepäck auf die Pferde und die Kutsche verladen worden war. Die meisten würden zu Fuß gehen müssen. Wegen des Gepäcks war in der Kutsche nur noch Platz für Craymorus und Milus.
Die Sonne hing bereits tief über dem Horizont, als Garrsy vor der geöffneten Kutschentür stehen blieb und sagte: »Wir sind bereit, mein Fürst.«
Tohm streckte sich. Er hatte im Schatten eines Felsens geschlafen. »Dann ist für uns wohl nichts mehr zu tun, Herr. Es war uns eine Ehre, Euch behilflich zu sein.«
»Ich danke Euch.« Craymorus lehnte sich aus der Kutsche und reichte ihm die Hand.
Tohm ergriff sie, hielt sie länger als nötig. Es war ihm anzusehen, dass er auf etwas wartete.
»Oh«, sagte der Fürst nach einem Moment. »Natürlich.«
Er nickte Garrsy zu. »Gebt diesen Männern eine Belohnung für ihre Hilfe.«
Der Leutnant griff in seinen Umhang und zog einen Beutel hervor. Jonan hörte die Münzen darin klimpern. Garrsy zählte sie sorgfältig ab.
»Seid nicht geizig, Leutnant. Sie haben unser Leben gerettet.« Craymorus klang ungeduldig. Jonan sah ihn an, aber der Fürst erwiderte seinen Blick nicht.
Komm schon, dachte er. Vergiss mich nicht.
Garrsy warf Tohm den Beutel zu. »Teil es auf!«
Tohm fing ihn auf und grinste, als er das Gewicht spürte.
»Ja, Herr. Wir werden euch alle in unsere Gebete einschließen.«
Er verneigte sich tief vor Craymorus und steckte den Beutel ein.
»Wie viel ist es denn?«, hörte Jonan Olaff fragen, aber Tohm winkte ab. »Später.«
Garrsy schloss die Kutschentür und stieg auf den Kutschbock. Ein zweiter Soldat saß neben ihm. Die Magier erhoben sich von den Decken, auf denen sie gesessen hatten, und rollten sie zusammen. Es waren fast fünfzig Männer und Frauen, aber nur wenige Kinder.
Tohm schwang sich auf sein Pferd. »Kommt. Wir haben einen langen Weg vor uns.«
»Gebt mir meinen Anteil«, sagte Jonan so laut, dass man ihn auch im Inneren der Kutsche hören konnte. »Ich werde euch nicht begleiten. Eure Heimat ist nicht meine Heimat.«
»Wie du willst«, sagte Tohm mit milder Enttäuschung. Er griff in den Goldbeutel, zählte einige Münzen ab und drückte sie Jonan in die Hand. Es waren zu wenige, aber Jonan beschwerte sich nicht. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Craymorus das Gesicht in seine Richtung wandte.
»Wohin wirst du gehen, Jonan?«, fragte er.
»Dorthin, wo man meine Dienste benötigt.«
Craymorus stützte die Arme auf den Holzrahmen des Kutschenfensters. »Du kennst die Gefahr, in der Westfall schwebt?«
»Ja, Herr.«
»Denkst du denn nicht, dass deine Dienste dort benötigt werden?«
Es war der Satz, auf den Jonan gehofft hatte, aber er ließ sich nichts anmerken. Der Fürst sollte denken, er habe ihn überredet. Also hob er die Schultern und antwortete: »Vielleicht.«
»Und wenn ich dir sage, dass es so ist, wirst du dann mit uns kommen?«
»Wenn es Euer Wunsch ist, Herr, werde ich mich fügen.«
Craymorus lächelte. »Dann füge dich.«
Jonan neigte den Kopf.
Er blieb neben der Kutsche, als sie sich in Bewegung setzte. Sein Pferd hatte er einer älteren Frau überlassen. Tohm und die anderen ritten davon. Er sah ihnen nicht nach. Seine Gedanken kreisten um das Schiff, auf dem er Ana gesehen hatte. Die Farben Westfalls hatten von den Masten geweht. Das war das Ziel des Flussschiffes, und dorthin führte ihn auch sein Weg. Hinein in die Stadt, hinein in die Festung. Als Soldat des Fürsten würde er sich frei bewegen können, ohne dass jemand Fragen stellte.
Ein guter Plan, dachte er nicht ohne Stolz.
Hinter ihm unterhielten sich die Magier. Sie klangen aufgeregt und fröhlich. In der Kutsche herrschte Stille. Jonan sah die Silhouetten von Vater und Sohn durch die zugezogenen Vorhänge. Ab und zu räusperte sich Craymorus.
»Ich habe dir nie für meinen Aufenthalt auf der Insel der Meister gedankt«, sagte er schließlich. »Es war eine sehr lehrreiche Zeit.«
Milus schwieg. Jonan glaubte bereits, er würde nicht antworten, dann tat er es doch. »Was haben sie dich gelehrt?«
»Ich habe die Schriften der Vergangenen studiert.«
»Tatsächlich?« Milus klang plötzlich interessiert.
Warum?, fragte sich Jonan.
Craymorus fuhr fort: »Die Klarheit ihrer Gedanken ist bemerkenswert. Ich durfte unter Meister Horrus' Anleitung einiges selbst …«
»Bist du Soldat?« Adelus' Stimme war lauter als die des Fürsten. Jonan drehte den Kopf. Der Junge ging neben ihm her und musterte ihn.
»Jetzt bin ich es«, sagte Jonan.
»… haben dich die Vergangenen gelehrt und nach Westfall geschickt«, hörte er Milus in der Kutsche sagen. »Ich …«
»Du trägst aber keine Uniform. Wieso nicht?«
»Ich bekomme eine in Westfall.« Jonan antwortete einsilbig. Er hätte den Jungen am liebsten weggeschickt, aber er fürchtete, dass der sich dann bei Craymorus beschwerte, und auf dessen Gunst war er angewiesen.
»… sehe da keinen Widerspruch«, antwortete Craymorus. »Ein geschärfter Geist ist immer von Nutzen.«
»Aber sie haben dich geschickt, keinen Schüler, der die Nachtschatten studiert hat.«
»Ich habe wohl mehr Grund …«
»Kriegen wir auch Uniformen?«, fragte Adelus mit seiner überkippenden lauten Stimme. »Wir sollten welche bekommen, wenn wir mit euch gegen die Nachtschatten kämpfen. Aber nicht so eine, wie der Leutnant trägt. Ich will eine schwarze mit Stiefeln.«
Jonan antwortete nicht, hoffte, der Junge würde das Interesse verlieren, wenn er ihn ignorierte. In der Kutsche ging das Gespräch weiter.
»… dass ich in der Lage dazu bin?«, fragte Craymorus. Er klang auf einmal gereizt.
»Ich habe eine Frage gestellt, die du nicht beantworten kannst«, sagte Milus ruhig. »Hast du überhaupt …«
»Ich habe noch nie einen Nachtschatten gesehen«, sagte Adelus. »Du?«
»Ja.«
Der Junge hob einen Ast vom Boden auf und ließ ihn durch die Speichen eines Kutschenrads knattern. Auf dem Kutschbock drehte sich Garrsy um. Er schien den Jungen zurechtweisen zu wollen, aber dann sah er, wer es war, und wandte sich wortlos ab.
»Ich habe gehört, dass sie sich in Menschen verwandeln können.« Adelus warf den Stock weg.
Jonan lauschte in die Kutsche hinein, aber dort war es still.
»Das ist wahr«, sagte er.
»Und dann kann niemand erkennen, dass sie ein Nachtschatten sind?«
»Nein.« Die Unterhaltung schien verstummt zu sein.
Adelus trat gegen einen Stein. Er rollte unter die Kutsche. Knirschend fuhr ein Rad darüber. »Ich schon«, sagte er.
Jonan spürte einen Stich im Magen. Sein Mund wurde trocken. »Wie meinst du das?«
»Es ist ganz leicht. Man braucht nur den richtigen Zauber, dann kann man jeden Nachtschatten erkennen, egal, wie er aussieht.« Er schnippte mit den Fingern. »Einfach so.«