Kapitel 26

 

Einmal im Jahr versammeln sich die Bewohner von Srzanizar vor den Toren der Stadt. Sie entzünden ein Feuer, in dem jeder etwas verbrennt, das ihm wichtig ist. Sie denken, die Götter würden sie vor einem Brand in der Stadt bewahren, wenn sie glauben, die Bewohner hätten bereits genug gelitten. Wer darüber lacht, dem sei gesagt, dass Srzanizar noch nie gebrannt hat.

Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 2

 

»Westfall?«

Schwarzklaue hatte Jubel erwartet, Gebrüll, nicht diese lange Stille und eine einzige, ungläubig gestellte Frage.

Er knurrte. »Natürlich. Wohin denn sonst?« Niemand antwortete ihm. Er hatte seine Krieger am Hafen versammelt; jene aus dem Norden und einige wenige, die im Verlauf des Feldzugs zu ihnen gestoßen und sich verdient gemacht hatten. Mehr als dreihundert Nachtschatten saßen auf der Hafenmauer oder auf dem Boden rund um den Karren, auf dem Schwarzklaue stand. Hammerschläge und laute Rufe drangen von den Stegen zu ihm herüber. Er zeigte darauf. »Was denkt ihr denn, warum wir neue Flöße bauen? Sobald sie fertig sind, setzen wir über und greifen Westfall an!«

»Schwarzklaue.« Ein Mann mit grauem vernarbtem Kopf stand auf. Sein Name war Ignas. Er hatte sich den Kriegern in Somerstorm angeschlossen. Korvellan hielt viel von ihm.

»Wir können Westfall nicht vom Wasser aus angreifen«, sagte er. »Die Flotte des Fürsten kreuzt auf dem Fluss. Wie sollen wir uns auf Flößen gegen sie zur Wehr setzen?«

Die meisten Krieger nickten. Der Wind wehte Asche über die Steine, auf denen sie saßen. Einige hatten sich Stofffetzen vor das Gesicht gebunden.

»Wir hätten Srzanizar erobern, nicht vernichten sollen!«, rief einer, dessen Gesicht hinter blauem Stoff verborgen war. »Dann hätten wir jetzt eine Flotte!«

Schwarzklaue drehte sich um und breitete die Arme aus, bis er glaubte, sie könnten die ganze Stadt umarmen. Die Skelette ihrer Häuser und Hütten ragten schwarz in den Morgenhimmel.

»Was sind schon ein paar Schiffe gegen diesen Anblick?«, rief er. Ein paar Krieger jubelten. Schwarzklaue war sicher, dass sie aus dem Norden stammten. »Hättet ihr darauf wirklich verzichten sollen?«

»Und was noch wichtiger ist«, sagte eine andere Stimme, »hättet ihr darauf verzichten wollen, dass eure Feinde diesen Anblick sehen?«

Schwarzklaue fuhr herum. Daneel stieg neben ihm auf den Karren und verschränkte die Hände auf dem Rücken.

Seltsam, dachte Schwarzklaue, dass ich nie an ihn denke, wenn ich ihn nicht sehe.

»Diesen Anblick«, sagte Daneel, »haben eure Feinde mit über den Fluss genommen. Alle wissen jetzt, wie stark ihr seid und mit welcher Härte ihr eure Feinde straft.«

»Dann werden sie umso entschlossener kämpfen!«, rief Ignas.

»Ist das nicht gut?«, fragte Daneel. »Seid ihr es nicht satt, nur die Rücken der Menschen zu sehen? Wollt ihr nicht wissen, ob ihr wirklich stärker seid als sie?«

»Natürlich sind wir das!« Ignas zog sein Schwert. Schwarzklaue legte den Kopf in den Nacken und lachte. Nicht alle schlossen sich ihm an.

Von der Hafenmauer drang eine Stimme zu ihm herüber, setzte sich gegen das Lachen und Grölen durch.

»Wieso die Eile?«, rief Marya. »Warum ziehen wir nicht weiter nach Süden und überqueren den Fluss erst, wenn wir bereit sind? Dann können wir Westfall immer noch von Land angreifen, so wie Korvellan es wollte.«

»Was kümmert es dich, was er wollte?« Daneel sprang von dem Karren. Schwarzklaue sah ihn taumeln.

»Hat er euch nicht verlassen? Ihr würdet noch immer am Ufer des Flusses sitzen und Kaninchen jagen, wäre es nach ihm gegangen!«

»Sicherlich hatte er seine Gründe«, sagte Marya, aber sie klang unsicher. »Er weiß mehr darüber, wie man einen Krieg führt, als jeder andere hier.«

»Er weiß mehr darüber, wie Menschen Kriege führen.« Daneel ging auf sie zu. Seine Kleidung hing an seinem Körper wie etwas Totes. »Aber ihr seid Nachtschatten. Ihr lest keine Karten, zwängt eure Krieger nicht in Einheiten, marschiert nicht im Gleichschritt. Ihr atmet Wut und trinkt Feuer. Ihr seid der Sturm, und der Sturm denkt nicht, er zögert nicht – er handelt!«

Ich bin der Sturm. Schwarzklaue zertrümmerte den Kutschbock des Karrens mit einem Tritt. »Westfall!«, brüllte er. »Westfall!«

Er wollte mehr sagen, wollte Daneel danken, doch nur dieses eine Wort brachte er zustande. »Westfall!«

Es reichte.

Die Krieger rissen die Fäuste in die Luft, nahmen den Ruf auf.

Daneel legte Marya den Arm um die Schultern. Nach einem Moment rief auch sie: »Westfall!«

 

 

Am nächsten Morgen bestiegen sie die Flöße. Sie hatten Masten und Segel, waren aber klein; nicht mehr als fünfzig Krieger passten auf jedes von ihnen. Sie dümpelten in der Bucht, zusammengehalten von Stricken.

Schwarzklaue ging zwischen ihnen hindurch über den Steg. Es herrschte Chaos. Ausrüstung wurde verladen und festgebunden, es wurde gebrüllt, geflucht und gelacht. Nächtlicher Regen hatte die letzten Brände in der Stadt gelöscht und mit ihrem Rauch auch die Zweifel der Krieger vertrieben. Zumindest erschien es Schwarzklaue so, denn er hörte keine mahnenden Stimmen.

»Wir haben unser Bestes getan, um die Flöße manövrierfähiger zu machen«, sagte Snellig, ein Bootsbauer, der aus Westfall stammte. Er saß auf einer Kiste am Ende des Stegs und aß eine Melone. Roter Saft tropfte in sein Fell.

»Glaubst du, wir können in Westfall landen?«

Snellig spuckte Kerne aus. »Wenn wir der Flotte entgehen und uns von den Hafenstädten fernhalten, vielleicht. Aber wenn sie uns entdecken …« Er schüttelte den Kopf. »Auf den Flößen sind wir gegen Katapulte und Langbögen schutzlos. Korvellan wusste das, deshalb hat er uns über Land geführt.«

»Wir beide haben euch geführt«, korrigierte Schwarzklaue. Sein Blick glitt zurück zur Stadt. Wie schwarzes totes Fleisch lag sie im Grün der Hügel.

»Ob es besser wäre, auf Korvellan zu warten?«

Snellig antwortete nicht. Trotz des Lärms, der sie umgab, zog sich die Stille in die Länge. Schließlich stand der Bootsbauer auf und warf die Melonenschalen in den Fluss. »Wir sollten uns nur nicht erwischen lassen, das ist alles.«

»Erwischen lassen?«, sagte jemand. »So reden Diebe, keine Krieger. Seid ihr Diebe?«

Schwarzklaue sah sich um. Er brauchte einen Moment, bis er Daneel auf einem der äußeren Flöße entdeckte. Er hockte dort und hatte den langen schwarzen Mantel, den er stets trug, eng um sich geschlungen, so als wäre ihm kalt. Schwarzklaue fragte sich, wieso er den Menschen so deutlich hören konnte, obwohl er fast einen Speerwurf weit entfernt war.

»Warum beleidigst du uns?«, rief er. »Du weißt, dass wir Krieger sind.«

»Ich beleidige dich nicht«, sagte Snellig. Schwarzklaue ignorierte ihn.

»Das dachte ich auch«, hörte er Daneel antworten, »aber vielleicht war das ja ein Irrtum, und ihr seid doch nur feige Diebe, die sich vor dem Kampf fürchten.«

Schwarzklaue stieß sich vom Steg ab. Er sprang über die Flöße, als wären sie Steine in einem Bach. Drei Sprünge brauchte er, dann landete er vor Daneel. »Gefällt es dir nicht mehr, deinen Kopf auf den Schultern zu tragen, Mensch?«

Daneel stand auf. Er musste sich auf eine Kiste stützen, sonst wäre er nicht hochgekommen. Seine Haut war blass und spannte sich über die eingefallenen Wangen.

»Ich mag meinen Kopf, wie er ist«, sagte er. »Du würdest mir doch nie weh tun, oder? Wir sind Freunde, du und ich. Und Freunde sagen sich die Wahrheit.«

Schwarzklaue griff nach Daneels Kragen und zog den Menschen zu sich heran. Er war leicht und raschelte wie alter Schnee, der von den Berggipfeln ins Tal geweht wurde. »Wir sind Krieger, das ist die Wahrheit. Zweifle das noch einmal an, und es wird der letzte Satz sein, den du jemals sprichst.«

Daneel fuhr sich mit der Zunge über rosa Zahnfleisch. Seine Angst roch modrig. »Ich bin dein Freund.« Jedes Wort, das er sprach, grub tiefe Falten in sein Gesicht. Schwarzklaue war nie zuvor aufgefallen, wie alt er war.

»Ich bin dein Freund«, wiederholte Daneel. »Nicht so wie die anderen, die sagen, sie wären deine Freunde. Nicht so wie Korvellan, der dich alleingelassen hat, der euren Traum verraten hat, um einem Menschen hinterherzujagen.«

Schwarzklaue ließ ihn los. Er fühlte sich plötzlich müde und enttäuscht, so als habe man ihm etwas weggenommen.

»Vielleicht war es nie sein Traum, nur meiner«, sagte er.

»Wenn er dir die Wahrheit gesagt hätte, wie es ein Freund tun sollte, dann wüsstest du die Antwort.«

»Was ist die Wahrheit?«

Daneel lächelte. »Dass ihr Krieger seid. Es ist die einzige Antwort, die du brauchst.«

»Du bist ein wahrer Freund«, sagte Schwarzklaue. Es klang seltsam, nicht wie etwas, das er sagen würde. Trotzdem tat er es.

»Willst du immer noch auf Korvellan warten?«, fragte Daneel.

Schwarzklaue zog die Lefzen hoch. »Er trifft seine Entscheidungen, ich meine.«

Er sah zum Steg. Die meisten Nachtschatten hatten bereits ihre Plätze auf den Flößen eingenommen.

»Krieger!«, rief er. Köpfe wandten sich ihm zu, Gespräche verstummten. »Westfall!«

Um ihn herum klatschten Ruder ins Wasser, Segel blähten sich im Wind. Die Flöße fuhren los.

Erst später, als Schwarzklaue neben Marya auf einer Decke lag und zusah, wie die Sonne am Horizont unterging, fiel ihm auf, dass Daneel, als sie miteinander gesprochen hatten, kein einziges Mal den Mund bewegt hatte.

Wie merkwürdig, dachte er und schlief ein.