Kapitel 28

 

In Blindnächten, wenn es beinahe windstill ist, spiegeln sich die Sterne im schwarzen Wasser des Flusses, und man vermag nicht mehr zu unterscheiden, ob man auf ihm fährt und in den Himmel blickt oder am Himmel fährt und hinauf in den Fluss blickt.

Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 1

 

Vier waren im Pfeilhagel gestorben, fünf weitere lagen verletzt unter Deck. Es gab keinen Heiler an Bord und keinen Priester, nur die Matrosen, die die Toten in Decken einwickelten. Als es dunkel wurde, warfen sie die Leichen ins Wasser.

Ana ging langsam an der Reling entlang. Merie blieb hinter ihr wie ein Hund. Seit dem Angriff hatte sie kaum etwas gesagt. Die Passagiere saßen in kleinen Gruppen zusammen. Ana hörte Worte wie »Westfall« und »Charbont«, wenn sie an ihnen vorbeiging.

Ich glaube kaum, dass man uns dort aufnehmen wird, dachte sie. Wir sind Aussätzige.

Die Lichter der Stadt funkelten im Wasser. Ana glaubte Musik zu hören. Sie wehte mit dem Wind herüber wie der Sand, den die Stürme in Somerstorm manchmal aus fernen Ländern mitgebracht hatten.

»Hast du Hunger?« Nungo'was' Stimme riss Ana aus ihren Gedanken. Er hockte vor einer Feuerstelle und briet Fische in einem Topf voller Öl. Sein Bauch quoll über die Hose. Er wischte sich die Finger daran ab und hielt Ana ein Holzbrett voller fingerlanger Fische hin.

»Sind ganz frisch«, sagte er.

Sie hörte ihren Magen knurren, Nungo'was ebenfalls. Er grinste. »Hör auf ihn. Er weiß, was gut für dich ist.«

»Ich bin wirklich etwas hungrig.« Ana zögerte, doch dann setzte sie sich neben den Matrosen. Ihre Schulter berührte seinen Arm. Es würde ihr guttun, nicht mehr allein mit ihren Gedanken zu sein.

Sie nahm einen der Fische und biss hinein. Die Haut war knusprig, die Gräten so klein, dass man sie nicht ausspucken musste. Nungo'was schob ihr ein zweites Brett mit gekochten Algen zu. »Das schmeckt gut dazu.«

Sie probierte, nickte und drehte sich zu Merie um, die ein Stück entfernt stehen geblieben war. »Möchtest du auch etwas essen?«

»Nein … nein, Herrin.« Selbst im Schein der glühenden Holzkohle wirkte Merie blass. Das Feuermal an ihrem Hals war so schwarz wie geronnenes Blut.

»Dann leg dich etwas hin«, sagte Ana. »Morgen früh wirst du dich besser fühlen.«

»Aber ich bin nicht …« Merie unterbrach sich. »Ja, Herrin.« Sie verbeugte sich steif und ging zurück zum Bug.

Nungo'was sah ihr nach. »Es war nett von dir, sie aus dem Käfig zu lassen. Ich weiß, dass du für uns andere getan hast, was du konntest.«

»Das hoffe ich.« Ana wickelte einen Fisch in Algen und biss hinein. Sie spürte, dass Nungo'was sie musterte, und bemühte sich, so zu tun, als bemerke sie es nicht.

»Diese Fische sind wirklich gut«, sagte sie mit vollem Mund. »Hast du sie gefangen?«

Er ging nicht darauf ein. Sein Blick wurde ihr unangenehm. Sie streckte sich und gähnte. »Es ist schon spät. Ich werde …«

»Wie wichtig ist es?«, fragte er, bevor sie ausreden konnte. »Also, dass du nach Charbont kommst?«

Ana ließ die Arme sinken. Sie drehte den Kopf und erwiderte seinen Blick. »Mein Leben hängt davon ab«, sagte sie ernst.

Er nickte. »So was dachte ich mir schon.« Kurz sah er sich um. »Ich kann dich dorthin bringen.«

Ana legte den angebissenen Fisch wieder auf die Holzplatte. Sie wollte nicht, dass Nungo'was sah, dass ihre Finger zu zittern begonnen hatten. »Wie?«

»Manchmal wollen Leute die Stadt schnell verlassen. Leute, die sie nicht verlassen dürfen.« Geflohene Sklaven, dachte Ana, unterbrach ihn aber nicht. »Wir handeln mit ihnen einen Preis aus, dann nennen wir ihnen den Treffpunkt. Niemand weiß davon, verstehst du?«

»Ja.« Sie legte ihm die Hand auf den Oberschenkel. »Kannst du mich heute Nacht dorthin bringen?«

Sein Blick richtete sich auf ihre Hand. »Das kann ich. Aber nur dich, niemand sonst. Und ich werde nicht zurückkommen. Sie wird mich niemals gehen lassen.«

Sie wusste, dass Erys damit gemeint war, und nickte. »Wann?«

Nungo'was zögerte, so als bereue er schon, den Vorschlag gemacht zu haben.

»Es ist wirklich wichtig«, sagte Ana. Sie sah sich um. Niemand beachtete sie. Erys und die anderen Frauen befanden sich irgendwo hinter Kisten, Ochsen und den Karren mit den Gefangenen. »Können wir nicht sofort aufbrechen?«, drängte sie, als Nungo'was nicht antwortete.

»Denke schon.«

Sie hörte den Zweifel in seiner Stimme und wusste, dass sie ihm keine Zeit zum Nachdenken lassen durfte. Also stand sie auf und hielt ihm die Hand hin. »Dann komm.«

Nungo'was ergriff ihre Hand. Sie war größer als Anas, schwielig und hart. »Nimm die Algen«, sagte er. Ana fragte nicht nach dem Grund.

Nungo'was nahm das Brett mit den Fischen und nickte einem Matrosen zu, der an der Reling saß und ein Netz flickte. »Wir gehen runter und bringen den Verletzten was zu essen.«

Der andere, ein Junge mit langen Haaren und vernarbtem Gesicht, grinste. »Natürlich.«

Ana sah zu Boden. Sie wusste, was der Junge dachte, was alle dachten, an denen sie vorbeigingen, sogar Merie. Nungo'was ließ ihre Hand nicht los. Jeder sah, dass er sie unter Deck führte. Es war ihr so unangenehm, dass sie am liebsten geflohen wäre.

Reiß dich zusammen, dachte sie. Du bist eine Fürstin. Was andere denken, hat dich nicht zu interessieren.

Und doch tat es das.

 

 

Eine steile Treppe führte unter Deck. Sie stellten die Bretter mit Fischen und Algen auf eine Kiste und gingen weiter. Die Laderäume waren so niedrig, dass Ana sich ducken musste. Vorsichtig folgte sie Nungo'was, stieg über Schlafende, über Kisten und Säcke, bis sie das Heck des Schiffs erreichten. Die Luken in den Wänden waren geöffnet, um die kühle Nachtluft ins Innere zu lassen. Trotzdem stank es nach Schweiß und Urin.

Nungo'was räumte einige Kisten zur Seite, die die Rückwand verdeckten. Ana sah sich um. So weit hinten im Schiff gab es nur Fracht, keine Menschen. Wahrscheinlich handelte es sich um die Reste der Waren, die für Srzanizar bestimmt gewesen waren.

»Hier.« Nungo'was stand an einer der Luken in der Rückwand und winkte sie heran. Ana sah hinaus auf das Wasser, auf die Lichter der Stadt und die Boote, die, von Fackeln erleuchtet, den Fluss bewachten. Ab und zu hallten Rufe durch die Bucht.

Nungo'was stieg aus der Luke. Ana hatte vorher nicht bemerkt, dass eine Strickleiter an der Außenwand hing. Sie half dem Matrosen, die Knoten zu lösen, dann fielen ihre Sprossen nach unten. Die Wasseroberfläche war weniger als eine Manneslänge entfernt.

»Willst du etwa schwimmen?«, flüsterte sie.

Nungo'was grinste. In der Dunkelheit wirkten seine grünen Zähne so schwarz wie das Wasser. Mit einer Geschmeidigkeit, die Ana ihm nicht zugetraut hatte, kletterte er nach unten. Auf halber Höhe hielt er an und zog an einem Seil.

Im ersten Moment sah es aus, als fiele ihm ein Stück des Schiffsrumpfs entgegen, dann erst erkannte Ana, dass es sich um ein Floß handelte, das man an der Außenwand festgebunden hatte. Es war schmal, bestand nur aus drei zusammengebundenen Baumstämmen, und war so leicht, dass Nungo'was es mit einer Hand zu Wasser lassen konnte. Dann sah er nach oben und nickte.

Ana kletterte die Strickleiter nach unten. Nungo'was hielt die Sprossen fest, ließ sie erst los, als Ana das Holz des Floßes unter den Sohlen spürte. Es klang hohl und wippte auf und ab. Sie konnte sich nicht darauf halten.

Nungo'was legte ihr die Hände um die Hüften. Er stand so dicht hinter ihr, dass sein Bauch gegen ihren Rücken drückte.

»Leg dich hin«, flüsterte er.

Ana ging wieder auf Hände und Knie. Wasser drang durch ihre Hose, kroch kalt über ihre Haut. Sie spürte Nungo'was neben sich. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass sie allein mit ihm war. Noch nicht einmal ein Messer hatte sie eingesteckt.

Nungo'was ließ das Seil los. Er lag auf dem Bauch, eine Hand ins Wasser getaucht. Träge glitt das Floß über das Wasser.

»Leg dich hin«, sagte er drängender. »Sie sehen uns sonst.«

Ana streckte sich aus. Flusswasser schwappte über ihr Gesicht. Nungo'was drehte den Kopf. Seine Lippen waren dicht neben ihrem Ohr. Sie zuckte zusammen, als er leise »Rudere mit der Hand« sagte. Sein Atem roch nach Algenschnaps.

Sie tauchte die Hand ins Wasser und versuchte sich seinem Rhythmus anzupassen. Das Floß schien schneller zu werden. Die Positionslampen der Wachboote kamen immer näher. Ana dachte, Nungo'was würde versuchen, ihnen auszuweichen, aber er steuerte das Floß direkt darauf zu.

Nach einer Weile zog er die Hand aus dem Wasser und nickte Ana zu. Sie verstand und hörte ebenfalls auf zu rudern. Eines der Boote war bereits so nahe, dass sie den Soldaten an Deck erkennen konnte. Er trug seine Armbrust in einer Schlaufe unter der Schulter und starrte auf den Fluss. Fackeln steckten auf Auslegern, die weit aus dem Schiff herausragten. Sie rissen Löcher in die Dunkelheit.

Nungo'was legte sich einen Finger auf die Lippen. Von der Strömung getragen glitt das Floß langsam an dem Boot vorbei. Es kam ihm so nahe, dass Ana nur die Hand hätte ausstrecken müssen, um die Bootswand zu berühren.

»Eins!«

Sie biss sich auf die Handknöchel, hätte beinahe vor Schreck geschrien.

»Zwei!«, antwortete der Soldat über ihr. »Drei!« ein anderer weiter entfernt.

Sie presste die Wange auf das Holz. Das kühle Wasser betäubte den Schreck. Als sie den Kopf wieder hob, waren die Boote bereits hinter ihr.

Nungo'was tauchte die Hand ins Wasser, lenkte das Floß von den Lichtern der Stadt weg an die dunkle Seite der Bucht. Sand knirschte unter den Baumstämmen. Sie hatten das Ufer erreicht.

Ana folgte ihm an Land. Nungo'was ergriff ihre Hand und führte sie in hohes Schilfgras. Wolken verbargen die Monde, verwandelten die Umgebung in ein waberndes Grau, aus dem sich allmählich ein Umriss herausschälte. Seine Konturen wirkten hart und starr – die Stadtmauer.

Nungo'was drehte den Kopf. Sein Gesicht wirkte ebenso grau und verschwommen wie die Nacht. »Hier lang«, flüsterte er. Mit einer Hand tastete er sich an der Mauer entlang. Seine andere hielt Ana. Es war kein fester Griff. Sie war sicher, dass sie sich jederzeit hätte losreißen können, wenn sie es gewollt hätte.

Nungo'was ließ sie los, blieb stehen und bog die Äste eines Strauchs auseinander, der fast bis an die Mauer wuchs. Er verschwand darin. Ana hörte, wie er mit den Händen im Dreck scharrte, dann klirrte etwas leise. Es klang wie eine Kette. Er tauchte wieder aus dem Strauch auf und nickte. Ana folgte ihm hinein.

»Komm«, sagte Nungo'was leise. Im ersten Moment sah es aus, als würde er in die Hocke gehen, doch dann sah Ana die offene Falltür im Boden. Die Blätter und Äste des Strauchs überwucherten sie. Ausgetretene Steinstufen führten nach unten.

Sie tastete sich an den Wänden entlang, spürte Steine unter den Fingerkuppen. Sie waren kalt und feucht. Der Gang, in dem die Stufen endeten, war so niedrig, dass Ana sich nur auf Händen und Knien fortbewegen konnte. Nur wenig später hörte sie etwas klirren, dann strich eine Brise über ihr Gesicht und die feuchten Haare. Vier Stufen führten nach oben, und nur ein paar Herzschläge später stand Ana in einem winzigen Bretterverschlag.

Nungo'was schloss die Falltür hinter ihr und zeigte auf einen Lumpen, der zwischen Werkzeug an der Wand hing.

»Trockne dich ab, damit wir nicht so auffallen.«

Ana nahm den Lumpen. Er roch verschimmelt. Widerwillig rieb sie sich die Haare damit ab. »Was ist das für ein Gang?«

Nungo'was schüttelte sich das Wasser aus den Haaren. »Wir nennen ihn den Sklavenweg. Jeder Sklave in der Stadt weiß, dass es ihn gibt, aber nur wir Fährschiffer wissen, wo. Das Geheimnis bewahren wir seit Generationen.«

»Ich werde es nicht verraten«, versprach Ana. Sie hing den Lappen zurück an seinen Haken. »Weißt du, wo Ogivers lebt?«

»Der Sklavenhändler? Ja, er ist sehr bekannt hier.«

»Bringst du mich zu ihm?«

Ana sah die unausgesprochene Frage auf seinem Gesicht.

»Ich brauche seine Hilfe«, sagte sie.

»Dann hoffe ich, dass er auch deine braucht.« Nungo'was öffnete die Tür des Verschlags. »Orgivers hilft nur sich selbst.«

Seine Worte gingen im Quietschen der Türangeln beinahe unter. Er trat hinaus und nickte Ana zu. »Komm.«

Der Verschlag lehnte schräg an der Stadtmauer. Ein kleiner Gemüsegarten lag davor. Ein niedriger Zaun aus Brettern und Schlingpflanzen trennte ihn von ähnlichen Gärten auf beiden Seiten. Ana drehte sich zur Mauer um. Sie sah keine Soldaten, nur einen überdachten Wachgang und zwei Türme.

Sie folgte Nungo'was durch ein Gatter auf einen Weg. Die Stadt war ruhig. Die Musik, die sie noch auf dem Schiff gehört hatte, war verstummt. Ihre Schritte hallten über das Kopfsteinpflaster. Es klang, als könne man sie bis auf den Fluss hören.

Sie bogen in eine größere Straße ein. Häuser standen auf beiden Seiten. Sie waren aus Stein, zwei Stockwerke hoch und hatten schilfgedeckte Dächer. Hinter manchen Fenstern brannten Kerzen, aber die meisten waren dunkel. Ana hörte keine Stimmen, kein Lachen, Weinen oder Gebell. Es war, als wollten sich die Häuser einem unsichtbaren General in ihren Straßen präsentieren.

»Wieso ist es so still?«, fragte Ana. Sie flüsterte unwillkürlich.

Nungo'was antwortete ebenso leise. »Nach Mitternacht darf niemand das Haus verlassen oder laut sein. Die Leute hier wollen das so.«

»Warum?«

»Weiß ich nicht.« Nungo'was blieb stehen und lauschte in die Dunkelheit hinein. »Soldaten«, flüsterte er. Seine Stimme klang panisch. Er wich bis an die Häuserwände zurück.

Im gleichen Moment hörte Ana dumpfen Hufschlag. Sie sah sich um. Sie konnten nicht zurück zu der Gasse laufen, aus der sie gekommen waren. Die Soldaten hätten ihre Schritte gehört. Es gab keine Abzweigungen in der Nähe und keine Zwischenräume, in denen sie sich hätten verbergen können. Die Häuser bildeten zu beiden Seiten eine Mauer.

Ihr Blick glitt nach oben, dorthin, wo die Balken der Häusergiebel kleine Dreiecke unter dem Schilf bildeten. Sie ergriff Nungo'was' Hand und zog ihn mit sich, kletterte auf ein Fensterbrett und zog sich nach oben. Ihre Finger fanden Halt im Mörtel zwischen den Steinen.

Nungo'was kletterte an ihr vorbei. Er war schneller als sie und geschickter. Ana folgte ihm. Ihr Herz schlug so laut, dass sie den Hufschlag nicht mehr hören konnte. Nungo'was hatte den Giebel bereits erreicht und hielt ihr seine Hand hin. Sie war schweißnass, als Ana sie ergriff und sich hochziehen ließ.

Sie schob sich mit den Beinen zuerst in das Dreieck, das die Balken bildeten. Schilf stach in ihre Haut, eine Taube gurrte. Nungo'was schob sie tiefer in das Dach hinein.

Es war so eng, dass sie sich nicht umdrehen konnte.

»Jetzt du«, sagte sie leise.

Es wurde dunkel, als Nungo'was seine Beine unter das Dach schob. Unten zogen die Soldaten vorbei. Man hörte nichts bis auf den Hufschlag und das Schnauben der Pferde. Die Soldaten schwiegen; keiner von ihnen sprach ein Wort.

Atemlos warteten Ana und Nungo'was, bis der Hufschlag verklungen war. Es wurde hell, als er sich schließlich aus dem Giebel schob und nach unten kletterte. Ana folgte ihm langsamer und vorsichtiger.

»Sie peitschen die aus, die sie erwischen«, flüsterte er, als sie wieder auf dem Pflaster standen. »Sie sind sehr streng.«

Lauschend blieb er stehen, dann nickte er. »Komm.«

Die Straße schien nicht enden zu wollen. Vollkommen gerade zog sie sich durch die Stadt. Gassen und kleinere Straßen, die ebenso gerade verliefen, kreuzten sie.

Ana schätzte, dass sie mehr als eine Stunde gelaufen waren, als Nungo'was plötzlich nach vorn zeigte. »Da ist es, das Haus hinter der Mauer.« Er sah Ana an. Seine Hand berührte ihren Arm. »Weiter werde ich dich nicht begleiten.«

Sie legte ihre Hand auf die seine. »Ich danke dir, und ich wünsche dir viel Glück. Leb wohl.«

Seine Hand blieb auf ihrem Arm liegen. Er beugte sich vor. Ana befürchtete, er wolle sie küssen, doch er lächelte nur, als ahne er, was in ihr vorging, und zog seine Hand zurück.

»Hoffnung«, sagte er.

»Hoffnung«, sagte Ana.

Sie sah ihm nach, bis er in eine kleinere Straße einbog. Einen Moment lag wünschte sie sich, sie könne ihm folgen, einfach in der Bedeutungslosigkeit seiner kleinen Welt verschwinden, als habe es Ana Somerstorm nie gegeben.

Doch dann drehte sie sich um. Dieses Leben wäre nicht das ihre gewesen.

Die Mauer schien das gesamte Anwesen einzuschließen. Fackeln, die in Halterungen steckten, erleuchteten lange Eisenspitzen. Vier Männer, die Uniformen, Umhänge und glänzende Helme trugen, patrouillierten davor auf und ab wie Pfaue. Erst als Ana näher kam, sah sie die Sklaventätowierungen auf ihren Wangen.

Einer der Wachposten richtete seinen Speer gegen sie, als er sie sah. »Hau ab!«

Die anderen beachteten sie kaum.

Ana blieb stehen. »Ich muss mit eurem Herrn sprechen. Es ist wichtig.«

»Das bezweifle ich«, sagte einer der anderem Wachsoldat. Er war älter und hielt sich aufrecht wie ein Offizier.

Ana spürte, dass er entweder das Kommando über die anderen hatte oder zumindest glaubte, es verdient zu haben. Sie wandte sich an ihn. »Geh zu deinem Herrn. Sag ihm, Erys aus Srzanizar wolle ihm ein Geschäft vorschlagen.«

Er runzelte die Stirn. »Für wie dumm hältst du mich? Du bist nicht Erys.«

Ana machte einen Schritt auf ihn zu. Die Straße war leer.

Niemand außer den Männern vor der Mauer konnte sie hören. »Nein. Ich bin Ana Somerstorm, und dein Herr wird sehr wütend werden, wenn du mich wegschickst.«

Er blinzelte. Sie wartete. Der Name war alles, was sie hatte. Es gab keinen Beweis für ihre Worte, und die Einzigen, die für sie hätten sprechen können, befanden sich auf dem Schiff vor den Toren der Stadt.

»Warte hier«, sagte er nach einem Moment. Dann drehte er sich um und verschwand durch eine kleine Holztür in der Mauer.

 

 

Es dauerte eine ganze Weile, bis sich die Tür wieder öffnete. Der Wachposten trat heraus und nickte Ana zu. »Kommt«, sagte er.

Ana folgte ihm in einen großen Innenhof. Ein weißes Zelt war an einer Seite aufgebaut. Darin war es hell, Schatten glitten über die Wände. Ein Dutzend Käfige standen in einer Reihe an der Mauer. In den meisten saßen oder lagen Menschen. Es gab einen steinernen Brunnen in der Mitte des Hofs. Bewaffnete Wachen standen um ihn herum und warfen Ana gelangweilte Blicke zu. Die Menschen in den Käfigen sahen noch nicht einmal auf. An den Käfigen hingen Holzschilder, auf die mit Kreide aufgemalt ihr Bestimmungsort zu lesen war. Als Ana an ihnen vorbeiging, sah sie, dass die meisten für Westfall bestimmt waren. Die anderen Orte kannte sie nicht. Sie nahm an, dass sie im Süden lagen.

Das Haus, das am Innenhof abschloss, war vier- oder fünfmal so groß wie die, die sie in den Straßen gesehen hatte. Es wirkte wie das Anwesen eines wohlhabenden Mannes, aber nicht wie das eines reichen.

Der Wachposten führte sie ins Haus, durch einen Eingangsbereich und einen kurzen Flur entlang, zog eine große, mit Holzschnitzereien verzierte Tür auf und verneigte sich. »Bitte tretet ein.«

»Danke.« Ana ging an ihm vorbei in einen saalartigen Raum mit hohen Decken, Mosaiken auf den Böden und Teppichen an den Wänden. Öllampen tauchten den Saal und den Mann, der hinter einem Tisch mit hohen Stühlen stand, in ein weiches, gelbes Licht. Ein Stuhl war zur Seite gerückt worden, so als sei gerade jemand aufgestanden. Der Mann trug eine lange weiße Robe und wandte ihr den Rücken zu. An den Fenstern standen zwei Soldaten mit eingefallenen Wangen und leeren Gesichtern. Es handelte sich eindeutig um Mitglieder der Ewigen Garde.

Ana wich zurück, doch dann hörte sie, wie sich die Tür hinter ihr schloss.

»Ana Somerstorm«, sagte der Mann. »Was für eine Freude, Euch wiederzusehen.«

Er drehte sich um. Ana hatte ihn nur einmal gesehen, aber sie erkannte ihn sofort. Das Blut rauschte in ihrem Kopf.

»Kö-König Cascyr«, stammelte sie, dann riss sie sich zusammen. Was macht er hier?, fragte sie sich, während sie einen tiefen Knicks vor ihm machte.

»Wie ich sehe, habt Ihr Euer gutes Benehmen trotz der widrigen Umstände nicht abgelegt. Das freut mich sehr.« Er schüttete Wein aus einer Karaffe in ein Glas. Ana bot er nichts an.

»Bitte verzeiht«, fuhr er nach einem Schluck fort, »dass Slergg Ogivers Euch nicht persönlich begrüßt hat, aber er muss sich gerade um andere, dringendere Angelegenheiten kümmern. Also hat er mir diese Freude überlassen.«

Etwas Boshaftes schwang in seinen Worten mit. Ana richtete sich auf. Sie fühlte sich, als würde sie einer Geschichte in einer Sprache lauschen, die sie nur halb verstand. Nichts ergab Sinn. »Habt Ihr gewusst, dass ich kommen würde?«

»Selbstverständlich. Könige wissen solche Dinge.« Sein Blick blieb kurz an den Ewigen Gardisten vor dem Fenster hängen. »Wir haben die ein oder andere Möglichkeit.« In einem Zug leerte er das Glas. Rotwein lief über sein Kinn und tropfte auf die weiße Robe. Die Flecken breiteten sich aus wie Blut. »Aber was soll ich lange reden, wenn es so viel zu zeigen gibt.« Er winkte Ana zu sich heran. »Kommt.«

Sie zögerte. »Ich möchte wirklich wissen, was …«

»Kommt!« Cascyr schrie sie an. Das Wort hallte von den Wänden wider. Ana zuckte zusammen. Ihr Herz schlug so heftig, dass ihr übel wurde.

Die Gardisten traten vor. Rechts und links von Ana stellten sie sich auf.

Cascyr räusperte sich. »Entschuldigt.« Seine Stimme klang so weich und freundlich wie zuvor. »Ich werde gelegentlich etwas ungeduldig. Würdet Ihr mich jetzt bitte begleiten?«

»Natürlich.« Anas Knie zitterten, als die Gardisten sie auf eine Seitentür zuführten.

Cascyr folgte ihnen. »Ich bin sicher«, sagte er, als sie in den Gang jenseits der Tür traten, »dass Ihr die Armee sehen wollt, die Somerstorm eroben wird.«