Kapitel 3
Die Gesetzbücher der Stadt Charbont umfassen sechsundvierzig Bände mit insgesamt mehr als dreißigtausend Gesetzen. Charbont ist die Stadt mit den meisten Advokaten und die mit den meisten Verbrechern.
Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 2
Sie dachte an nichts anderes als an die Flucht.
Zehn Tage zuvor hatten sie Charbont hinter sich gelassen, doch Ana erschien es, als lägen Jahre zwischen ihrer Flucht aus Srzanizar und der Begegnung mit Cascyr, dem König ohne Land, wie er von allen genannt wurde.
Man wird ihn nicht mehr lange so nennen, dachte Ana. Nicht, wenn er seinen Willen durchgesetzt hat.
Sie drehte sich im Sattel ihres Pferdes um. Die Straße, auf der sie ritten, war von Feldern umgeben und führte am Großen Fluss entlang. Staub hing in der Luft, aufgewirbelt von Tausenden Soldaten, die wortlos und mit starr nach vorn gerichtetem Blick ihrem Ziel entgegenmarschierten.
Ewige Garde, Cascyrs zahnlose, unzerstörbar scheinende Elitesoldaten. Ana hatte die Höhle gesehen, in der sie erschaffen wurden, hatte gesehen, wie sie den schwarzen Sand fraßen, den der Große Fluss anspülte. Ihr wurde übel bei dem Gedanken.
»Wie weit ist es nach Somerstorm?«, fragte Merie, die neben ihr ritt. Sie war jünger als Ana. Banditen hatten sie in Srzanizar als Geisel gehalten, aber Merie wusste nicht, warum. Ana hatte dafür gesorgt, dass sie als Zofe bei ihr blieb.
Ana wandte den Blick von den Soldaten ab. »Weit«, sagte sie. »Wir werden noch viele Tage reiten.«
»Und dann?«
»Wir werden sehen.« Ana strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Vielleicht müssen wir den Winter erst abwarten. Wenn die Pässe zu sind, kommt niemand nach Somerstorm.« Der Gedanke wärmte sie. »Meine alte Zofe Zrenje erzählte oft von einem Winter, der zwei Jahre dauerte. Fast ihr ganzes Dorf verhungerte.«
»Warum ist Zrenje nicht mehr deine … Eure Zofe?« Merie neigte dazu, die richtigen Fragen zu stellen, auch wenn sie die Anreden immer noch verwechselte.
»Weil sie tot ist«, sagte Ana. »Sie starb beim Angriff der Nachtschatten auf die Festung meines Vaters.« Sie zog an den Zügeln ihres Pferdes, als die Kolonne aus Pferden, Kutschen und Menschen langsamer wurde.
Einer der Soldaten, die sie jeden Tag begleiteten, richtete sich im Sattel auf und sah nach vorn.
»Es geht nicht weiter«, sagte er zu dem Gardisten, der neben ihm ritt. »Ich werde nachsehen, was los ist. Du bleibst hier.«
Der zweite Soldat nickte. Ana war aufgefallen, dass die Ewige Garde aus zwei Gruppen bestand: Die kleinere Gruppe gab Befehle, redete und handelte selbständig, während die größere nur Anweisungen ausführte, so als hätte sie keinen eigenen Willen. Ana hatte versucht, ihnen Befehle zu geben, aber sie hörten nur auf andere Gardisten und auf Cascyr.
»Warum seid Ihr dann so traurig?«, fragte Merie. »Die Ewige Garde will die Nachtschatten doch aus Somerstorm vertreiben. Sie rächen Eure tote Familie.«
Weil ich eine Sklavin sein werde, wenn Cascyr Somerstorm erobert, dachte Ana. Weil er mir mein Zuhause wegnehmen will, so wie es die Nachtschatten getan haben. Er ist nicht besser als sie.
Doch das konnte sie nicht laut aussprechen, während der Gardist neben ihr ritt, also sagte sie nur: »So persönliche Fragen gehören sich nicht für eine Zofe.«
»Entschuldigt bitte.«
»Schon gut.«
Die Kolonne war stehen geblieben. An ihrer Spitze wehten weiße Fahnen im Wind. Sie gehörten zu Cascyrs Sänfte. Acht Gardisten trugen sie, ein weiteres Dutzend bildete seine Leibwache.
Cascyr hatte die Sänfte verlassen und redete mit Erys. Die Anführerin der Banditinnen von Srzanizar hielt ihr Pferd an den Zügeln und nickte gelegentlich. Sie trug eine speckig glänzende Lederrüstung, Cascyr weiße lange Roben. Er trug immer weiß, eine Farbe, die in manchen Provinzen Göttern und Königen vorbehalten war. Er schien davon besessen zu sein.
Der Gardist bahnte sich seinen Weg zwischen Karren und Pferden hindurch. Er blieb neben Ana stehen und sah hinauf zu ihr. »Ihr könnt absteigen. Wir schlagen hier unser Lager auf.«
»Warum?«, fragte Ana. »Es ist noch nicht mal Nachmittag.«
»Der König befiehlt es.« Seine Stimme klang verärgert, obwohl sein Gesicht ausdruckslos blieb.
Bilder blitzten kurz in Anas Geist auf. Ihr Fuß, der nach vorn schnellt. Der zurückfliegende Gardist. Ihr wieherndes Pferd, das über die Felder galoppiert, weg, einfach nur weg, ohne ein Ziel zu haben.
Du würdest keinen Speerwurf weit kommen, sagte Jonans Stimme in ihrem Inneren. Sie hatte sich angewöhnt, ihre Fluchtpläne aus seinem Blickwinkel zu betrachten. In ihren Gedanken sprach er sie vertraut an, wie eine Gleichgestellte, wie eine Freundin. Sie vermisste ihn.
Der Gardist griff in die Zügel von Anas Pferd. »Der König befiehlt es«, wiederholte er.
»Der König hat doch bestimmt einen Grund für seinen Befehl, oder?« Um Ana herum stiegen Soldaten von ihren Pferden. Einige nahmen Äxte aus den Satteltaschen und gingen auf die Felder und den Wald zu, der dahinterlag.
Ana blieb sitzen. Der Gardist sah sich um, so als suche er nach Rat. Er zog seine Unterlippe in den Mund und kaute zahnlos darauf herum.
Merie sprang von ihrem Pferd. Sie wirkte ängstlich. »Ich werde Euer Zelt vorbereiten, Herrin«, sagte sie.
Ana antwortete nicht. »Was ist der Grund für den Befehl?«, fragte sie stattdessen den Gardisten.
Der zögerte, dann sah er erneut zu ihr hinauf. »Der Fluss vor uns ist überflutet. Das Wasser hat die Brücke unterspült. Wir müssen sie reparieren.«
»Danke.« Ana ließ die Zügel los, schwang ein Bein über den Sattel und rutschte vom Rücken des Pferds. Sie hatte wieder etwas Neues über die kleinere Gruppe der Gardisten gelernt. Sie trafen ihre eigenen Entscheidungen, aber es fiel ihnen nicht leicht.
Ein unbekannter Feind ist wie ein geschlossenes Buch. Man weiß nicht, was sich darin verbirgt. Ihr Vater hatte dieses Sprichwort geschätzt. Ana begann zu verstehen, weshalb.
Sie ging an der Kolonne vorbei. Die beiden Gardisten folgten ihr zu Fuß, die Pferde an den Zügeln hinter sich herführend. Ana hatte sich bereits an sie gewöhnt und bemerkte sie kaum noch.
Die Felder, an denen sie vorbeiging, waren flach. Wintergemüse stand darauf. In einiger Entfernung ragten die Dächer eines Dorfs über die grünen Blätter. Ana nahm an, dass sie sich in Westfall befanden. Seit Beginn ihrer Flucht war das ihr Ziel gewesen. Irgendwo im Westen lag die Stadt mit der Festung, in der sie nach ihrer Heirat mit Rickard, dem Sohn des Fürsten, hätte leben sollen. Sie erinnerte sich an ihre Träume, an das Leben, das ihr wie eine gerade, mit Gold und Glück gepflasterte Straße erschienen war. Eine Heirat mit Rickard, sie als Fürstin vom Somerstorm mit Gerit als Verwalter ihres Reichtums, Söhne, die auf der Insel der Meister ausgebildet wurden, Töchter, die bei den Banketten in der Festung die Blicke aller Fürstensöhne auf sich zogen.
Wie dumm ich war, dachte Ana. Es gab keine gerade Straße, nichts war absehbar, alles konnte sich in einem einzigen Moment ändern. Das Zuschlagen einer Tür im Festsaal von Somerstorm, ein Freund, der sich in ein Ungeheuer verwandelte. Es gab keine Gewissheit.
Der Boden wurde feucht unter Anas Stiefelsohlen. Pfützen standen auf den Feldern. Sie hörte das Rauschen von Wasser. Gardisten liefen an ihr vorbei zu dem Fluss, vor dem die Kolonne angehalten hatte. Wassermassen wälzten sich durch das schmale Flussbett und schwappten in die Felder hinein. Das Wasser war braun und trug abgerissene Äste und ganze Bäume mit sich. Es hatte die breite Holzbrücke unterspült. Sie neigte sich zu einer Seite. Die Balken, die man tief in die Uferböschung getrieben hatte, ragten aus dem Wasser heraus.
»Flussaufwärts muss es ein Unwetter gegeben haben«, sagte jemand neben Ana.
Sie drehte den Kopf. Es war Erys. Sie trug ihr langes schwarzes Haar offen. Es fiel über die Schultern bis zu den Brüsten.
»Ja«, sagte Ana. Sie sah sich um. Die Gardisten waren hinter ihr stehen geblieben. Ihre Augen blickten ins Leere, ihre Gesichter waren ausdruckslos.
»Du weißt, welche Pläne Cascyr hat?«, fragte Ana leise. Das Rauschen des Flusses übertönte ihre Worte beinahe. Sie und Erys konnten zum ersten Mal allein reden.
»Natürlich. Ich bin in alles eingeweiht.«
»Wieso hilfst du ihm dann und nicht mir?«
»Du willst ihn nicht heiraten«, sagte Erys. »Ich verstehe das. Cascyr ist nicht gerade der Traummann eines jungen Mädchens. Er ist kein Rickard.« Die kleinen Falten rund um ihren Mund zuckten. Ein Lächeln? Ana war sich nicht sicher. »Aber er ist das Beste, was dir passieren konnte. Er wird dir deine Heimat zurückgeben und deinen Titel. Du wirst ihm ein paar Kinder gebären, und wenn du alt genug bist, nimmst du dir einen Liebhaber und ziehst dich in ein kleines Schloss mit diskreten Dienern zurück. Viele haben dieses Leben schon vor dir gelebt.«
Aber ich will es nicht leben, dachte Ana. »Dir hat es aber nicht zugesagt.«
Erys lächelte. Ihr Blick richtete sich auf etwas jenseits des Flusses und jenseits der Zeit. »Ich stand auf der falschen Seite«, sagte sie so leise, dass Ana sie kaum verstehen konnte. »Ich war die Geliebte, die andere Frau.«
»Und das willst du wieder sein? Wenn Cascyr mich heiratet und sein Königreich erschafft, was ist dann mit dir?«
»Er wird mir einen Titel geben und die Herrschaft über alles östlich des Großen Flusses.« Erys' Blick kehrte zurück zu Ana. »Über all das, was einst Maracor gehörte.«
Maracor, der Rote König. Seine Geliebte war Erys gewesen, und sie liebte ihn immer noch, obwohl er ihr nie die Anerkennung gegeben hatte, nach der sie sich sehnte.
Ana schüttelte den Kopf. »Das wird er nicht. Er …«
Erys ließ sie nicht ausreden. »Ich bin nicht naiv, Kind. Ich weiß, dass er nur mit mir schläft, weil ich einst das Lager des Roten Königs teilte. Aber er wird mir geben, was ich will, weil er mir vertrauen kann. Ich habe Maracor nie verraten, und ich werde auch ihn nicht verraten. Nur die Garde und ich sind ihm loyal, aber im Gegensatz zu ihnen folge ich ihm aus Überzeugung.«
Sie atmete tief durch. An der Brücke stiegen die ersten Gardisten ins Wasser. Sie waren mit Seilen gesichert und stemmten sich gegen die Fluten.
»Aber er kann dir die Provinzen auf der anderen Seite des Flusses nicht geben. Die Hälfte der Fürsten dort hat Abkommen mit Somerstorm.« Aus den Augenwinkeln sah Ana Cascyrs weiße Gestalt näher kommen. Sie sprach schneller. »Wenn er sie bricht, werden ihm die anderen Fürsten nie vertrauen. Sie werden das Knie vor ihm beugen, aber selbst die größte Armee der Welt kann ihn nicht immer vor ihren Attentätern schützen. Glaubst du, das würde er für dich riskieren?«
Erys schwieg.
»Da sind ja Unsere beiden Lieblingsfrauen«, sagte Cascyr. Er benutzte den Hohen Dialekt Westfalls, eine verschraubte, schwierige Sprache, die Ana zwar verstand, aber selbst nicht sprechen konnte.
Sie zuckte zusammen, als er ihr mit der Hand über den Rücken strich. Er war ein weich aussehender Mann. Sein Gesicht war blass und teigig, die Augen klein. Sein braunes Haar war von dünnen weißen Strähnen durchzogen.
Erys lächelte. Es wirkte gezwungen. »Wir wollten uns die Fluten ansehen. Sieht so aus, als säßen wir fest.«
Cascyr seufzte und winkte ab. Sonnenlicht brach sich in den schweren Ringen an seinen Fingern. »Wir müssen wohl eine neue Brücke bauen lassen. Wir haben zur Sicherheit ein paar Reiter ausgeschickt, die nach anderen Wegen suchen sollen, aber Wir befürchten, dass Wir die Wärme Westfalls noch einige Tage genießen müssen. In Somerstorm werden Wir sicher noch voller Melancholie auf die sonnige Zeit hier zurückblicken.«
»Niemand zwingt Euch zu gehen.« Der Satz war heraus, bevor Ana darüber nachdenken konnte. Sie erschrak, als sie die plötzliche Kälte in Cascyrs Augen sah. Einen Lidschlag später war sie verschwunden.
»Das Schicksal zwingt Uns zu Unseren Taten«, sagte er im Tonfall eines Priesters. »Selbst die Götter unterliegen ihm, weshalb sollten Wir Uns also gegen es sträuben.« Er drehte sich zu den Gardisten um. »Das Schicksal gab Uns eine Armee und den richtigen Zeitpunkt, um mit dieser Armee das höchste aller Ziele zu erreichen: die Vereinigung der vier Königreiche, die Vollendung des Traums, der Maracor das Leben kostete.«
Er verneigte sich vor Erys. Sie nickte ihm zu.
»Und Somerstorm«, fuhr Cascyr fort, »ist der erste Schritt auf diesem Weg.« Er sah Ana an. »Freut Ihr Euch denn nicht darauf, Eure Heimat aus den Klauen der Ungeheuer zu befreien?«
Sie wusste nicht, was sie darauf entgegnen sollte. »Natürlich freue ich mich darauf«, sagte sie nach einem Moment. »Ich wünschte nur, der Preis wäre nicht so hoch.«
Cascyr schien sie misszuverstehen. »Der Tod Eurer Eltern und Eure Flucht liegen natürlich schwer auf Eurer Seele, aber Wir sind sicher, dass Euer Bruder weit schrecklichere Geschichten aus seiner Gefangenschaft zu berichten weiß.«
»Mein …« Ana brach ab und schluckte.
Lass es dir nicht anmerken, dachte sie, während ihr Herz schneller zu schlagen begann und Tränen Cascyrs Gesicht verschwimmen ließen. Er soll nicht merken, wie wenig ich weiß.
»Woher wisst Ihr vom Schicksal meines Bruders?«, fragte sie mit einer Ruhe, die sie sich nie zugetraut hätte.
»Könige haben ihre Quellen«, sagte Cascyr. »Euch war seine Gefangennahme bekannt?«
»Natürlich.« Sie war sicher, dass ihr Lächeln einer Grimasse ähnelte. »Auch Fürstentöch… Fürstinnen haben ihre Quellen.«
Gerit hatte überlebt. Sie fühlte sich, als wäre ein schwarzer Schleier von ihren Erinnerungen an ihn gerissen worden.
»Geht es dir nicht gut?«, fragte Erys.
»Doch.« Ana nickte. Ihre Stimme klang belegt. »Ich musste nur an das Leid meines Bruders denken.«
»Wir verstehen Eure Sorge.« Cascyr legte seinen Arm um sie. »Ihr werdet ihn schon bald wiedersehen, das versprechen Wir Euch.«
Ana löste sich aus der Umarmung. Cascyr roch süßlich wie überreifes Obst. »Ich möchte zurück in mein Zelt.«
»Selbstverständlich. Ihr habt Unsere Erlaubnis, Euch zu entfernen.«
Sie ließ Cascyr und Erys stehen und lief zurück. Die Gardisten hielten Schritt mit ihr.
Sie sah, dass Merie das Zelt bereits zwischen anderen aufgebaut hatte. Die Stoffbahn, die den Eingang bildete, war zurückgeschlagen. Im Inneren breitete Merie gerade einige kleine Teppiche aus.
Ana schlüpfte durch den Eingang und zog den Stoff nach unten. Die Gardisten blieben vor dem Zelt stehen. Sie sah ihre Schatten an den Wänden.
Merie sah auf. »Was ist denn los?«
Ana umarmte sie. »Er lebt«, flüsterte sie. »Mein Bruder lebt.«