Kapitel 12

 

In Westfall stieß ich einst auf einen Mann, der mit großer Sicherheit behauptete, es gäbe nur einen Gott in der Welt, der über die Menschen wache, ihre Geschicke leite, das Wetter bestimme und die Tiere und Pflanzen erschaffen habe. Ich fragte ihn, was all die anderen Götter dann täten, doch darauf wusste er keine Antwort.

Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 1

 

Craymorus brachte es nicht über sich, das Fenster zu schließen.

Ein halbes Dutzend Mal hatte er bereits davor gestanden, hatte den Griff in die Hand genommen, nur um ihn dann wieder loszulassen und sich zu setzen.

Mellie, dachte er, nicht zum ersten Mal. Sie weiß, was hier geschehen ist.

Doch er suchte nicht nach ihr. Der Gedanke, vor sie zu treten und in ihre leeren Augen zu blicken, hielt ihn davon ab.

Er hob den Kopf, als er das rhythmische Knallen von Stiefelsohlen im Gang vor seinen Gemächern hörte. Ein Mann sagte etwas, dann klopfte es an seiner Tür.

»Herr«, hörte er jemanden rufen, »kommt schnell!«

Angst stieg heiß und bitter in seine Kehle. Craymorus griff nach seinen Krücken, bevor ihm einfiel, dass er sie nicht mehr brauchte. Er sprang auf und öffnete die Tür.

»Was ist passiert?«

Der Soldat, der vor ihm stand, war atemlos. »Korvellan. Er versucht zu fliehen.«

»Wo ist er?«

»Im Kerker. Im Trakt der Besessenen.« Der Soldat drehte sich bereits wieder um.

Craymorus folgte ihm. Die Wachen schlossen sich ihnen an.

»Wir schlagen gerade die Tür ein. Man kann ihn durch einen Spalt sehen.«

»Wie ist er aus seiner Zelle gekommen?« Craymorus hielt leicht mit den anderen Männern Schritt. Er empfand keinen Stolz darüber.

»Sergeant Nyrdok hat ihn mit dem Schlüssel des Kerkermeisters befreit, mein Fürst.« Der Soldat lief vor Craymorus die Treppe hinunter. »Hat Forderak umgebracht.« Er schüttelte den Kopf. »Ich hätte nie gedacht, dass Nyrdok ein Nachtschatten ist.«

»Wer sagt, dass er einer ist?« Craymorus richtete die Frage an sich selbst, aber der Soldat schien das nicht zu bemerken.

»Ein Mensch würde doch keinen Nachtschatten befreien, oder, Herr?«

Craymorus antwortete nicht. »Wissen die Bogenschützen auf den Türmen Bescheid?«

»Ja, mein Fürst. Alle Wachen sind alarmiert worden.« Der Soldat zog die Tür zum Kerker auf und ließ ihm den Vortritt.

Auf der Treppe hörte Craymorus bereits die Rufe und Hammerschläge der Soldaten. Als er die Höhle betrat, brachen sie gerade ein armlanges Stück aus der Tür zum Zellentrakt.

Er winkte einen Leutnant heran. Nach kurzem Nachdenken fiel ihm ein, dass der Mann Barganim hieß. »Ist er noch da drin, Leutnant?«

»Ja, mein Fürst. Es gibt keinen anderen Ausgang.«

Die Soldaten an der Tür drehten sich um. Vier von ihnen trugen einen kleinen Rammbock. Ein fünfter salutierte. »In den Zellen passiert irgendwas, Herr. Ich glaube, der Nachtschatten befr…«

Holz barst. Die Soldaten duckten sich, hielten die Hände über die Köpfe, als der Türrahmen mit einem Knall zerbrach und eine graue Gestalt an ihnen vorbeischoss.

Korvellan, dachte Craymorus.

Seine beiden Leibgardisten zogen ihre Schwerter und stellten sich schützend vor ihn. »Wir bringen Euch nach oben, Herr.«

Er schüttelte den Kopf. Seine Blicke folgten Korvellan, der mit langen Sätzen durch die Höhle jagte. In seiner Nachtschattengestalt wirkte er größer und jünger. Beinahe spielerisch wich er einem Speer aus, der nach ihm geworfen wurde. Dann richtete er sich auf.

»Raus aus der Höhle!«

Was soll das?, dachte Craymorus, doch im gleichen Moment schrien die Soldaten an der Tür auf. Er fuhr herum.

Aufgedunsene weiße Leiber quollen aus dem Trakt. Sie rissen die Reste der Tür aus ihren Angeln, begruben sie unter sich. Einen Soldaten hatten sie an den Haaren gepackt, schlugen ihn mit dem Kopf gegen die Wand.

Die anderen wichen zurück. Sie ließen den Rammbock fallen und griffen nach ihren Schwertern.

»Besessene!«, stieß einer der Leibgardisten hervor. »Er hat die Besessenen befreit!« Er ließ sein Schwert sinken. »Wir können sie nicht töten. Was sollen wir machen?«

Craymorus spürte seinen Blick, ohne ihn zu erwidern. Voller Entsetzen starrte er auf die Körper, die sich wie weiße, blinde Würmer durch den engen Durchgang quetschten. Die meisten hielten die Augen geschlossen, knurrten und heulten. Mit den Händen schlugen sie nach den Fackeln an der Wand. Selbst das Halbdunkel der Höhle bereitete ihnen Schmerzen.

»Raus aus der Höhle!«, rief Korvellan erneut. Einige Soldaten versuchten ihn einzukreisen, aber die meisten starrten mit der gleichen Fassungslosigkeit, die auch Craymorus verspürte, auf die Besessenen.

»Mein Fürst?«, fragte Barganim. »Sollen wir seinem Befehl folgen?«

»Nein.« Der Gedanke stand so plötzlich in seinem Kopf, dass er sich fragte, ob es wirklich sein eigener war. »Er will nur Chaos auslösen, damit er fliehen kann. Holt die Magier.«

»Ja, mein Fürst.« Der Leutnant wirkte erleichtert. Er winkte einen Soldaten heran, redete kurz mit ihm. Der Mann nickte und lief los.

Craymorus sah über die Schultern seiner Leibgardisten zu Korvellan. »Du kommst hier nicht raus!«

Korvellan ließ die Soldaten nicht aus den Augen. Er hatte sich den Speer genommen, der nach ihm geworfen worden war. Mit dem stumpfen Ende hielt er sie auf Abstand. »Ihr auch nicht, Fürst.«

An der Tür begannen Gefangene wie Soldaten Barrikaden aus Karren, Brennholz und Kisten zu errichten. Die Besessenen taumelten dagegen, brüllten und schlugen um sich. Craymorus sah Frauen unter ihnen und Kinder, groteske, krumme Gestalten, deren Adern blau unter der fast durchsichtigen Haut schimmerten.

Dort drinnen sind Menschen geboren worden, dachte er. Entsetzen schnürte ihm die Kehle zu.

Immer mehr schoben sich aus der Tür. Einige trugen längst verrostete Ketten, die laut klirrend über den Boden schleiften. Einer fiel in eine heruntergerissene Fackel und begann zu brennen. Schreiend fiel er in die Barrikaden.

Craymorus wandte den Blick ab und zuckte zusammen, als er ein bekanntes Gesicht sah. Dunkle Augen richteten sich auf ihn.

Es war der Nachtschattenjunge. Mit den kurzen Schritten, die ihm seine Ketten erlaubten, bahnte er sich einen Weg durch die Besessenen. Sie griffen ihn nicht an. Vielleicht war er ebenso wahnsinnig wie sie.

»Herr!«

Craymorus drehte sich um. Barganim stand vor ihm, der Mann, den er geschickt hatte, hockte erschöpft am Boden.

»Sie kommen nicht, Herr.« Das Gesicht des Offiziers war blass. Ein Karren zerbrach mit lautem Krachen. Eine Kiste fing Feuer.

Craymorus spürte, wie sein Mund trocken wurde. »Haben sie erklärt, weshalb?«

Der Mann am Boden schüttelte den Kopf.

»Ihr habt die Magier gerufen, aber sie weigern sich, Euch zu helfen«, rief Korvellan herüber. Die Soldaten drängten ihn langsam in eine Ecke. »Ihr wisst, wieso.«

»Was meint er damit?«, fragte der Leutnant.

»Nichts«, sagte Craymorus.

Ein Besessener kroch unter den Trümmern des Karrens hindurch. Ein zweiter hing an seinem Fuß und ließ sich über den Boden ziehen. Der Nachtschattenjunge war nicht mehr zu sehen.

»Vielleicht …«, begann der Leutnant, unterbrach sich dann aber und senkte den Kopf.

»Was willst du sagen?«, fragte Craymorus.

»Ich meinte nur, Herr, dass man Korvellans Befehl vielleicht befolgen sollte. Er war Baldericks General und …«

»Nein.«

Barganim zuckte unter dem Wort zusammen. »Wie Ihr wünscht, mein Fürst, aber was sonst sollen wir tun?«

»Gib mir dein Schwert.« Craymorus streckte die Hand aus. Er spürte Korvellans spöttischen, siegessicheren Blick. Er würde nicht zulassen, dass er gewann.

Der Leutnant reichte ihm die armlange Klinge. Sie war schwerer, als Craymorus erwartet hatte. Er nahm sie in beide Hände und ging den Barrikaden entgegen.

Seine Leibgardisten folgten ihm. Mit einer Geste befahl er ihnen zurückzubleiben. Die Soldaten und Gefangenen, die sich gegen die Barrikaden stemmten, drehten den Kopf, als er auf sie zuging.

Der Besessene, der unter dem Karren hindurchgekrochen war, tastete blind den Boden ab. Craymorus blieb so dicht vor ihm stehen, dass seine Stiefelspitzen fast dessen Finger berührt hätten. Ihm war übel. Sein Herz hämmerte hinter seinen Schläfen.

»Tausend Goldstücke!«, rief er. »Tausend Goldstücke für jeden Soldaten und die Freiheit für jeden Sklaven und Gefangenen, der mir hilft!«

»Wobei hilft?«, rief jemand, so wie er erwartet hatte.

Craymorus hob das Schwert hoch über den Kopf. Schweiß lief ihm in die Augen.

»Dabei!«, sagte er und rammte dem Besessenen das Schwert in den Rücken.

Soldaten und Gefangene wichen erschrocken zurück. Eine Frau schrie. Craymorus zog das Schwert aus der Leiche und wandte sich der wogenden Masse der Leiber zu, die gegen die Barrikaden drückten.

»Wer hilft mir?«, rief er über ihr Heulen und Winseln hinweg.

Niemand bewegte sich.

»Ihr bringt Unglück über Euch und über Euer Land«, hörte er den Leutnant sagen. Aus den Augenwinkeln sah er einige Soldaten nicken. Korvellan, der bis in eine Ecke zurückgedrängt worden war, starrte ihn sichtlich überrascht an.

»Niemand?« Craymorus begann wahllos mit dem Schwert nach den Besessenen zu stechen. Sie schienen ihn nicht einmal zu bemerken. Immer noch quollen sie durch den zerborstenen Türrahmen in die Höhle. Es waren Hunderte, vielleicht sogar Tausende.

Soldaten und Gefangene stemmten sich weiter gegen die Barrikaden, aber Craymorus bemerkte, dass es weniger wurden. Die Ersten flohen aus der Höhle. Niemand hielt sie auf.

»Ich werde Euch helfen«, sagte Korvellan plötzlich. Die Soldaten, die ihn umgaben, machten ihm unwillkürlich Platz, so als habe er einen Befehl gegeben.

»Lasst ihn nicht durch!«, rief Craymorus. »Er will nicht uns helfen, sondern nur sich selbst!«

Die Soldaten rückten wieder vor. Einer löste sich aus der Gruppe und lief zum Gang, der aus der Höhle führte.

»Stehen bleiben!«, brüllte Barganim, aber der Soldat ignorierte ihn. Andere sahen ihm nach. Craymorus ahnte, was in ihren Köpfen vorging.

»Wenn wir die Höhle verlassen«, rief er, »wird die Festung fallen.« Er schlug mit dem Schwert nach einer teigigen weißen Gestalt. Sie stolperte und fiel. Eine andere trat sofort an ihre Stelle. »Die Besessenen werden sich in ihren Mauern ausbreiten. Solange sie an einem Ort sind, können wir sie schlagen.« Er drehte sich zu dem Leutnant um. »Ja, ihr werdet Unglück über euch bringen, aber eure Familien werden überleben.«

Er drang zu ihm durch, das sah er an dessen verzweifeltem Gesichtsausdruck. Einen Moment lang zögerte der Leutnant, dann hob er einen Speer vom Boden auf.

»Der Fürst hat recht!«, brüllte er. »Hoffnung!«

Er schleuderte den Speer. Er traf einen Besessenen in den Kopf. Die Lücke, die sein Sturz riss, schloss sich.

Wir bewirken nichts, dachte Craymorus. Es sind zu viele!

Einige Soldaten zogen ihre Schwerter. Langsam gingen sie auf die Besessenen zu.

»Tut doch was!«, rief eine der Frauen, die an den Barrikaden versuchte, den Ansturm aufzuhalten. »Ich würde sie umbringen, wenn ich könnte!«

»Dann mach es!« Einer der Soldaten drückte ihr sein Schwert in die Hand. Sie starrte darauf, als wisse sie nicht, was sie damit anfangen sollte. Dann ließ sie es los.

»Dachte ich mir doch«, sagte der Soldat, als er es aufhob.

Craymorus rieb sich den Schweiß aus den Augen. Seine Schultern schmerzten, die Klinge lag schwer in seinen Händen. Das Toben der Besessenen, ihre Schreie und der Gestank zerrten an ihm, doch seine Wut richtete sich nicht auf sie und nicht auf die Menschen, die seine Befehle verweigerten, sondern auf Korvellan.

Ruhig stand der Nachtschatten inmitten der Soldaten. Seine Blicke glitten durch die Höhle, schienen alles aufzunehmen, was sich darin abspielte.

Er weiß, was zu tun ist, dachte Craymorus.

Er wünschte sich, Leutnant Garrsy stünde an seiner Seite. Oder Rickard. Sogar Syrah. Sie alle hätten gewusst, was als Nächstes geschehen musste, aber Rickards Leiche lag irgendwo im Schnee, Syrahs aufgebahrt im Tempel der Festung und Garrsys brennend in einem der Feuer.

Es beschämte Craymorus zutiefst, dass Korvellan Zeuge seiner letzten Niederlage wurde. Alles hatte er falsch gemacht: Mellie, Syrah, die Entführung der Tochter, die Magier, die Jagd auf die Nachtschatten, die abgebrochene Suche nach Ana Somerstorm. Jeder Tag hatte ihn vor eine neue Herausforderung gestellt, bei jeder einzelnen hatte er versagt.

Blut tropfte von seiner Klinge. Der Griff des Schwertes war glitschig geworden. Wie ist es nur so weit gekommen?, fragte sich Craymorus. Wieso habe ich das nicht verhindert?

»Vorsicht!« Der Ruf des Leutnants hallte durch die Höhle.

Zwei Besessene griffen nach der Frau, die das Schwert hatte fallen lassen, zogen sie über die Barrikaden. Schreiend verschwand sie in einem Meer aus weißen Leibern.

An anderer Stelle kletterten Besessene über einen Karren. Ihre Augen waren geöffnet. Sie hatten sich an das Halbdunkel in der Höhle gewöhnt, warfen sich nicht mehr blind gegen die Barrikaden, sondern schoben sie gezielt beiseite. Überall brachen sie durch, wie eine Flutwelle durch einen bröckelnden Damm.

»Raus hier!«, schrie Korvellan.

Craymorus wich zurück.

Es war vorbei.