Kapitel 36
Nur selten begegnet man Somern, den Einwohnern Somerstorms, außerhalb ihrer Provinz. Die meisten, so scheint es, ahnen nicht einmal, dass jenseits von Eis, Schnee und Ödnis eine Welt liegt, in der nicht jeder Tag mit dem Versprechen beginnt, noch schlechter als der vorangegangene zu werden.
Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 2
Sie stand da und weinte.
Es war stickig in dem kleinen Raum innerhalb der Festung. Rickard saß auf dem Stuhl, zu dem Gerit ihn geführt hatte. Jonan hatte ihm die Hände auf die Schultern gelegt, um ihn daran zu hindern, aufzustehen und damit fortzufahren, wobei sie ihn überrascht hatten.
»Warum läuft er gegen die Wand?«, fragte Craymorus. Jonan hatte ihn die steilen Treppen hinuntergetragen.
»Er will …«
»Nicht hier«, unterbrach ihn Korvellan. »Nicht solange dieses …« Er schien nicht zu wissen, wie er Rickard nennen sollte.
»Rickard«, sagte Ana. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Sein Name war Rickard.«
War, dachte sie. Der zerstörte Körper, der vor ihr saß, erinnerte sie nicht mehr an den Mann, den sie … Nein, nicht geliebt hatte. Sie hatte ihn gemocht, auf ihn gehofft.
»Was ist mit ihm geschehen?«, fragte sie Gerit.
»Nicht hier«, wiederholte Korvellan schärfer.
Sie fuhr herum. »Mit dir habe ich nicht geredet. Du bist doch an allem schuld!«
Jonan tauchte neben ihr auf, schnell und lautlos, die Hände auf seine Schwerter gelegt.
Rickard stand auf und ging taumelnd und zögernd zu der Wand, vor der sie ihn gefunden hatten. Gerit griff nach seinem Arm und zog ihn zurück.
Korvellan sah Jonan an, abschätzend, so als denke er darüber nach, sich auf die Provokation einzulassen.
Craymorus räusperte sich. »Es wäre wohl wirklich besser, wenn wir nach oben gingen. Sein Anblick tut uns allen nicht gut.«
Ana fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Ihr habt recht. Müssen wir ihn hier unten lassen, so ganz allein?«
Ihre Stimme brach beinahe, aber sie riss sich zusammen. Sie wollte nicht noch einmal vor Korvellan weinen.
»Ja«, sagte Gerit. »Du weißt, warum.«
Sie nickte. Cascyr konnte durch die Augen seiner Gardisten blicken und anscheinend auch durch Rickards. Nur so hatte er wissen können, dass Gerit in der Festung von Somerstorm lebte. Sie hatten auf dem Weg dorthin darüber gesprochen, wie über viele Dinge.
Gerit half ihr von der letzten Stufe in die Küche. »Triff mich nachher in meinem Zimmer«, flüsterte Ana, als sie an ihm vorbeiging. »Wenn es dunkel ist.«
Er nickte.
Sie klopfte sich den Staub von den Ärmeln. Gerit half Jonan, der Craymorus auf dem Rücken trug, hoch, dann schloss Korvellan die Luke, die zu den Geheimgängen führte.
»Also«, sagte er, »was weißt du?«
Es war niemand außer ihnen in der Küche. Die anderen Nachtschatten hatten sie verlassen, als Korvellan sie darum bat. Sie standen im Hof und unterhielten sich mit den Wachen. Ana sah ihnen die Verwirrung an. Korvellan war zurückgekehrt, doch er hatte ihnen keine Nachrichten über den Feldzug gebracht. Seine Ernsthaftigkeit war Anas Sorge. Sie setzte sich an den großen Tisch, so weit weg von Korvellan wie möglich. Überall roch es nach Essig. Die Festung stank.
Gerit stand auf und ging zu einem Hocker, unter dem Decken, Kleidung und ein paar andere Habseligkeiten lagen. Er zog eine Karte aus einer der Decken und breitete sie auf dem Tisch aus.
»Sie lassen dich in der Küche schlafen wie einen Diener?«, fragte Ana.
Gerit sah kurz auf. »Es ist nicht so, wie du denkst.«
Dann erzählte er alles, von dem Tag, an dem Maccus und Burek zu ihm gekommen waren, bis zu den Wassereinbrüchen und seiner Erkundung der Höhle.
»Glaubst du wirklich, dass Rickard dich gerettet hat?«, fragte Ana.
»Nein.« Gerit stand auf und fachte die Glut in der Feuerstelle mit einem Eisenhaken wieder an. Ein großer Topf hing darüber, Dampf stieg aus einer Brühe aus Maka-Wurzeln auf. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Er wollte mich zu sich holen, vielleicht, weil er allein war. Am Anfang war noch etwas von ihm da, glaube ich, aber das änderte sich schnell.«
»Es war ein Zauber. Er hatte so viel Sand in sich, dass er dich zu sich holen konnte. Danach war alles weg, auch das, was ihn zusammengehalten hatte.« Craymorus massierte sein linkes Bein. »Du würdest die Höhle wiederfinden?«
Gerit nickte. »Sie ist kein Ort für Lebende«, sagte er. »Alles in ihr ist tot.«
Ana wurde kalt, als sie seine Worte hörte. Jonan, der neben ihr an der Wand lehnte, atmete hörbar durch.
Craymorus beugte sich vor. Er hatte tiefe Ringe unter den Augen, so als hätte er lange Zeit nicht geschlafen. »Bring mich dorthin.«
»Sagt uns, was Ihr plant«, antwortete Korvellan an Gerits Stelle.
»Nein.« Craymorus schüttelte den Kopf.
»Warum nicht?«
»Weil du mich nicht lassen würdest.«
Korvellan sprang auf. Er bewegte sich so schnell, dass Ana beinahe erschrocken aufschrie, als er an ihr vorbeilief. Sie hörte, wie Jonan seine Schwerter zog. Er traute dem Nachtschatten ebenso wenig wie sie.
Korvellan griff nach den Krücken, die an einem Stuhl lehnten, ging zur Feuerstelle und warf sie hinein. Funken stoben auf, in der heißen Glut begann das Holz sofort zu glimmen.
»Dann wirst du nirgendwo hingehen«, sagte Korvellan. Er war wütend.
Craymorus versuchte, sich aus seinem Stuhl hochzustemmen. Er hielt sich an der Lehne und der Tischkante fest, das Gesicht voller Schmerz und Entsetzen. »Du weißt nicht, was du anrichtest!«, stieß er hervor.
»Dann sag es mir!«, brüllte Korvellan.
»Nein!« Craymorus setzte sich schwerfällig.
Die Küche wirkte auf einmal eng und stickig. Ana stand auf. »Ich muss hier raus.«
Jonan erreichte die Tür vor ihr und zog sie auf. Einige Nachtschatten sahen in ihre Richtung, wandten sich aber wieder ab, als sie sahen, wer die Küche verließ. Sie warteten auf Korvellan.
Ana atmete tief durch. Die kalte Luft beruhigte sie. Jonan stand neben ihr und beobachtete die Nachtschatten. Seit sie das Schiff verlassen hatten, benahm er sich wie ein Leibwächter, nicht wie der Freund, der er auf der Reise gewesen war.
»Geht es Euch besser?«, fragte er nach einem Moment.
»Euch?« Ana trat vor ihn. »Wieso nennst du mich so?«
»Wir sind in der Festung. Die Reise ist zu Ende. Hier seid Ihr die Fürstin, und ich bin Euer Leibwächter.« Jonan sah sie nicht an, sondern hatte den Blick auf einen Punkt in weiter Ferne gerichtet.
»Ich bin die, die ich gestern war«, sagte Ana verwirrt. »Ich habe mich nicht verändert.«
»Doch, das habt Ihr.« Seine Geste schien die ganze Festung einzubeziehen. »Sie verändert Euch.«
Sie wollte ihm erklären, dass er unrecht hatte, doch im gleichen Moment drehte sich ein Nachtschatten auf der Festungsmauer um.
»General!«, schrie er.
Korvellan riss nur Lidschläge später die Küchentür auf. »Was ist?«
»Eine Armee, General«, antwortete der Soldat.
Ana hatte nicht gewusst, wie viele Nachtschatten in der Festung lebten, doch als Gerit eine Glocke neben dem Haupteingang läutete, die früher nicht dort gehangen hatte, liefen sie alle zusammen. Es waren weniger als Hundert, aber mehr als genug, um die Festung zu verteidigen, das hatte ihr General Norhan beigebracht.
Einer, ein älter aussehender, hinkender Nachtschatten, ging auf Korvellan zu. »Ist das Schwarzklaue?«, hörte Ana ihn fragen.
»Nein, es ist der Feind.«
Ana lief zur Mauer neben dem Tor. Die Nachtschatten sagten nichts, als sie die Leiter hinaufkletterte und in das rote Abendlicht blickte. Am Horizont, auf der Ebene zwischen den Bergen, die sich fast bis Braekor erstreckte, sah sie eine Wand aus schwarzen Umrissen.
»Was ist das?«, fragte der junge Nachtschatten neben ihr.
Ana antwortete, ohne nachzudenken. »Ewige Garde.«
Er flüsterte es der Frau auf seiner anderen Seite zu, sie gab den Namen weiter. Dunkel und drohend wie ein Wespenschwarm breiteten sich die Worte »Ewige Garde« in der Festung aus.
»Genug!«, rief Korvellan plötzlich. Er stand auf einer Regentonne und drehte sich langsam, sodass er alle, die sich ihm im Hof und auf den Mauern zugewandt hatten, ansehen konnte.
»Die Ewige Garde rückt auf die Festung vor«, fuhr er fort. »Diejenigen, die wissen, was das bedeutet, erklären es bitte denen, die es nicht wissen.«
Er wartete. Als das Murmeln erstarb, rief er: »Sie werden vor Morgengrauen hier sein, also nutzt die Zeit. Nebelläufer wird die Waffenträger einteilen und ihnen sagen, worauf sie achten müssen, Gerit kümmert sich um all die, die keine Waffe tragen. Meldet euch bei ihm.«
Was tut er denn da?, dachte Ana, als sie ihren Bruder zwischen den Nachtschatten sah. Er sprach mit ihnen wie mit seinesgleichen, wie mit Freunden. Sie kletterte von der Mauer und ging auf ihn zu. Er sah sie erst, als sie vor ihm stand.
»Ana«, sagte er. »Ich könnte jemanden brauchen, der das Pechkochen überwacht. Wenn du …«
Sie zog ihn beiseite. »Können wir kurz reden?«
Gerit nickte den Nachtschatten zu. »Ich bin gleich wieder da. Holt schon mal die Kessel und Kohlepfannen aus den Kellern.«
Er folgte Ana in eine Nische neben den Stallungen. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Korvellan sie beobachtete, aber er war nicht nahe genug, um zuhören zu können.
»Lass uns fliehen«, sagte sie leise.
»Was?« Gerit wirkte beinahe amüsiert. »Bist du verrückt?«
»Ich meine es ernst. Cascyr wird erst morgen früh hier sein. Bis dahin könnten wir schon fast am Hafen sein.«
Er fuhr sich mit einer schmutzigen Hand durch das Gesicht. »Ana, wir können doch die anderen nicht im Stich lassen.«
»Warum nicht? Sie haben Somerstorm erobert, Cascyr will es haben. Das ist nicht mehr unsere Angelegenheit.«
Ana sah sich um. Die Fenster des Haupthauses waren dunkel. Nur in den Sklaventrakten und in den Unterständen, die die Nachtschatten auf dem Hof errichtet hatten, brannten Kerzen.
»Das ist nicht mehr unser Somerstorm«, fuhr sie fort, als sie keine Antwort erhielt. »Es gehört den Nachtschatten. Sollen sie doch dafür sterben.«
»Du hast unrecht.« Gerit sah sie an. »Es ist unser Somerstorm. Es ist unsere Heimat. Und ich werde dafür kämpfen.«
Im ersten Moment verstand Ana nicht, was er damit sagen wollte, doch dann schluckte sie plötzlich. Gerit sprach nicht von sich und ihr, sondern von sich und den Nachtschatten. Sie fühlte sich, als habe er eine Tür zugeschlagen.
Er wandte sich ab. Sie griff nach seiner Schulter. »Tue das nicht«, sagte sie, aber er schüttelte ihre Hand ab.
»Du tust das. Es ist deine Entscheidung.«
Er ließ Ana stehen. Korvellan winkte ihn zu sich. Sein Blick streifte sie. Er hatte einen Sieg errungen und wusste es.
Sie ging durch den Hof der fremden Festung. Nachtschatten liefen an ihr vorbei, trugen Kohle, Holz, Fackeln und Waffen. Ihr Essiggeruch hüllte sie ein, ließ sie würgen.
Sie fand Jonan an einer Mauer. Er trug einen Köcher auf dem Rücken und hielt einen Bogen in der Hand. Mamee hockte neben ihm und tauchte Pfeilspitzen in einen Kessel voller Pech. Sie sah Jonans Blick und die Frage, die darin lag.
»Ich will weg von hier«, sagte Ana.
Mamee hob den Kopf, senkte ihn aber sofort wieder und tat so, als würde sie nicht zuhören.
Jonan führte Ana weg von ihr. »Was ist passiert?«
»Gerit …« Sie machte eine hilflose Geste. »Ich weiß nicht, was sie mit ihm gemacht haben, aber er ist nun einer von ihnen. Ich erkenne ihn nicht mehr wieder.«
»Vielleicht erkennt er Euch auch nicht mehr.«
Sie ging nicht darauf ein. »Bitte bring mich weg von hier.«
»Wohin?«
Es war eine einfache Frage, aber Ana hatte keine Antwort darauf. Sie hob die Schultern. »Pujambur, Asharan … Irgendwohin.«
»Es wird kein Irgendwo geben, wenn Cascyr Somerstorm erobert.« Jonan legte sich den Bogen über die Schulter. »Ich verstehe nicht, was Korvellan und der Fürst über die Vergangenen sagen, aber ich weiß, dass Cascyr mit seiner Armee die Provinzen beherrschen wird, wenn wir scheitern.«
»Dann lass ihn«, sagte Ana müde. »Es ist mir egal. Ich will nur weg.«
»Hört auf wegzulaufen«, sagte Jonan so laut, dass sich einige Nachtschatten zu ihm umdrehten. »Ich bin es satt, Euch dabei zuzusehen, wie Ihr von einem Blödsinn in den nächsten rennt, nur weil Ihr Euch selbst nicht ins Auge blicken könnt.«
»Jonan …!«
Er ließ sie nicht ausreden. »Ihr habt mich von meinem Schwur entbunden, wisst Ihr das noch? Ich bin nicht mehr Euer Leibwächter. Also geht, wenn Ihr wollt. Ich bleibe.«
Ana wollte ihn festhalten, aber er war zu schnell, ihre Finger glitten nur über das Leder seiner Jacke, ihre Worte hingen unausgesprochen in ihrer Kehle.
Die Nachtschatten starrten sie an. Ana kämpfte gegen ihre Tränen und gewann. Sie zwang sich zur Ruhe, trotzdem zuckte sie zusammen, als sie sich umdrehte und Korvellan vor ihr stand.
»Ihr lenkt alle hier ab«, sagte er. Es klang nicht unfreundlich. »Wenn Ihr fliehen wollt, gebe ich Euch gern ein Pferd. Wenn Ihr bleiben wollt, geht bitte auf Euer Zimmer.«
Ana nickte. Sie hatte nichts mehr zu sagen. Langsam ging sie über den Hof, vorbei an der offen stehenden Küchentür. Craymorus saß allein an dem großen Tisch. Seine Krücken brannten im Feuer.
»Helft mir«, sagte er mit rauer Stimme. »Bitte.«
Sie schüttelte den Kopf, schlug die Tür zu und ging die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer.