Kapitel 37
Welche Grausamkeit hat die Götter dazu veranlasst, die Maka-Wurzel nach Somerstorm zu bringen? Ohne sie wäre die Provinz den Wölfen und Bären vorbehalten, und kein Mensch würde sein Leben dort fristen müssen oder können.
Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 1
Es war ruhig in der Küche. Das Feuer prasselte, die Brühe im Kessel darüber warf Blasen. Draußen vor der geschlossenen Tür hörte Craymorus laute Rufe, Flüche und Befehle. Einige Male rief er nach Korvellan, bezweifelte jedoch, dass man ihn durch das Holz hören konnte. Er war allein.
Auch das haben die Meister nicht vorhergesehen, dachte er. Vielleicht haben sie sich in allem geirrt, in mir, Korvellan, den Vergangenen, diesem ganzen gefährlichen Plan.
Er schüttelte sich innerlich, wehrte sich gegen die Entscheidung, die er längst getroffen hatte. Doch er konnte nicht mehr warten. Wenn die Ewige Garde Somerstorm erst einmal belagerte, war es zu spät.
Vorsichtig ließ er sich von seinem Stuhl gleiten und drehte sich auf den Bauch. Er hatte es von Anfang an gehasst zu kriechen, sogar noch mehr als getragen zu werden. Doch er hatte keine Wahl mehr. Ein Nachtschatten hatte ihm vor langer Zeit die Freiheit genommen, ein anderer nun die Würde.
Auf Händen und Ellenbogen kroch er zu der kleinen Luke, die in das Gangsystem hinter der Wand führte. Gerit hatte den kürzesten Weg genommen, wohl ihm zuliebe, trotzdem erwarteten Craymorus drei steile Treppen, fast schon Leitern.
Er stieß die Luke auf, kroch hindurch und schloss sie hinter sich. Vor der ersten Treppe blieb er einen Moment liegen, um Atem zu schöpfen, dann schob er sich über die oberste Stufe. Er stützte sich mit den Händen ab, bremste die rutschende Bewegung, die ihn ansonsten über den Absatz hinaus auf die nächste Treppe katapultiert hätte.
Der fliegende Krüppel, dachte er. Beinahe hätte er gelacht, aber die Schmerzen in seinen Armen und den Knien, die gegen jede Stufe prallten, nahmen ihm dieses Bedürfnis.
Als er die letzte Stufe der letzten Treppe überwand, zitterten seine Arme, und über seine Wangen liefen Tränen. Seine Knie bluteten.
Der Gang zu Rickards … er wollte es Gefängnis nennen, auch wenn es das nicht war … erschien ihm endlos, doch schließlich stieß er die Tür mit einer Hand auf und kroch über die Schwelle.
Rickard stand an der Wand, dort, wo sie ihn zurückgelassen hatten. Craymorus zog sich auf einen Stuhl und trank den Wasserkrug, der auf dem Tisch stand, fast aus.
»Rickard«, sagte er dann. »Komm zu mir.«
Nichts geschah. Aus dem hinteren Raum hörte er Rickards gleichmäßiges Schlurfen.
»Ich weiß, wohin du gehen musst, Rickard.« Craymorus trank den Rest des Wassers. »Ich werde dir helfen, dorthin zu kommen.«
Das Schlurfen brach ab. Nach einem Moment hörte Craymorus Schritte, dann tauchte Rickard im Türrahmen auf und blieb vor seinem Stuhl stehen. In seinem zerstörten Gesicht gab es keine Gefühle, seine blinden Augen blickten ins Nichts, und doch schien er zu verstehen.
»Du musst mich tragen.«
Rickard drehte sich um und ging in die Hocke. Craymorus legte ihm die Arme um die Schultern. Seine Haut fühlte sich seltsam weich und kalt an, wie die eines Toten. Rickard schob seine Hände unter Craymorus' Beine, und er verbiss sich den Schmerz.
»Komm, alter Freund«, sagte er leise. »Lass uns auf eine letzte Reise gehen.«
Rickard trug ihn aus dem Raum, durch den Gang und die Treppen hinauf. Sie stiegen durch die Luke, dann blieben sie vor der Küchentür stehen.
Craymorus dirigierte Rickard mit einem gelegentlichen Wort, mehr war nicht nötig.
Die meisten Nachtschatten standen um das Tor herum, halfen dabei, es zu verstärken und die Mechanismen darüber anzubringen, die heißes Pech über die Angreifer schütten würden. Der Hof rund um die Küche war leer.
»Wie kommen wir über die Mauer?«, fragte Craymorus. Er sprach laut, erwartete aber keine Antwort von Rickard. »Wir brauchen Seile, damit wir uns … Was machst du denn?«
Rickard öffnete die Tür. Er ging an der Häuserwand entlang, blieb tief im Schatten des Gebäudes. Am äußersten Rand der Mauer blieb er stehen.
Craymorus duckte sich auf seinem Rücken, wagte es kaum, den Kopf zu heben. Ein Nachtschatten musste nur in ihre Richtung blicken, nur ein Windstoß seinen Geruch in ihre Richtung wehen.
Rickard drehte sich ruckartig nach rechts, ging zu einer Leiter und kletterte sie hinauf auf die Mauer. Er überquerte den Wehrgang und griff nach den Mauerzinnen.
»Nein«, stieß Craymorus hervor. »Rickard, nein.«
Rickard stieg zwischen den Zinnen hindurch – und sprang!
Der Aufprall schleuderte Craymorus von seinem Rücken. Der Schmerz raubte ihm das Bewusstsein.
Der Schmerz brachte ihn ins Bewusstsein zurück. Im ersten Augenblick glaubte er, wieder auf einem Schiff zu sein, doch dann öffnete er die Augen und sah Rickards Hinterkopf und die schaukelnde Welt um sich herum.
Er drehte den Kopf. Sein Nacken knackte. Hinter ihm verschwanden die hell erleuchteten Mauern Somerstorms zwischen den Hügeln.
Schnee knirschte unter Rickards Füßen. Er ging schnell, zielstrebig, wie jemand, der genau wusste, wo sein Ziel lag. Es war kalt. Craymorus zitterte trotz der warmen Kleidung. Die Schriftrolle unter seinem Hemd drückte gegen seine Brust und erinnerte ihn bei jedem Schritt daran, was vor ihm lag.
»Das war nicht der Plan, den die Meister für dich hatten, Rickard«, sagte er. Sein Atem stand weiß vor seinem Gesicht. »Sie hatten gar keinen Plan für dich, und doch bist du hier. Geh weiter, bleib nicht stehen. Hilf mir.«
Er war so müde, dass er den Kopf auf Rickards Schulter legte. Seine Beine baumelten über dem Schnee, zitterten unter den Krämpfen, die über sie hinwegrollten wie Wellen über einen Strand. Die Metallschienen waren verbogen, die Hose blutbefleckt.
Er schloss die Augen und rief sich die Worte des Zaubers ins Gedächtnis, versuchte sie zu einem Teil seiner selbst zu machen. Jeden freien Moment hatte er mit seinem Studium verbracht. Es erschreckte und erleichterte ihn zugleich, wie gut er ihn beherrschte.
Als er die Augen wieder öffnete, war es Tag. Die Sonne war ein verwaschener gelber Fleck, halb verborgen hinter einem grauen Himmel. Die Mine lag vor ihm, still, scheinbar verlassen. Karren standen halb beladen im Schnee. Zwei Ochsen zogen einen über den Weg und blieben stehen, als die Räder im Schnee stecken blieben. Der Kutschbock war leer.
Craymorus spürte den Tod, noch bevor er die Leichen sah. Es waren Männer, Frauen und Kinder, Arbeiter und Wachen, sogar Ratten und Vögel. Sie lagen im Schnee. Die Gesichter von Menschen und Nachtschatten waren verzerrt, die Augen aufgerissen und gefroren. Er zählte ein Dutzend, dann sah er nicht mehr hin. Ihm war übel geworden.
»Sie ist hier, Rickard«, flüsterte er. »Sei vorsichtig.«
In der Mine war es dunkel. Die Fackeln und Lampen, die in den Stollen hingen, waren längst erloschen. Rickard stieg über Leichen hinweg, die er trotz der Dunkelheit zu sehen schien. Er stolperte kein einziges Mal, als sie die lange Wendeltreppe hinuntergingen.
Craymorus lauschte in die Stollen hinein. Er hörte das Plätschern von Wasser. Steine knackten, die hölzernen Balken knirschten unter dem Gewicht des Bergs, den sie stützten. jemand lachte. Es war eine helle, klare Stimme. Sie hallte von den Wänden wider, floss durch die Gänge wie Wasser, weich und doch laut und kräftig.
Craymorus biss sich auf die Lippe. Sein Herz hämmerte.
Adelus.
Er konnte nicht erkennen, woher die Stimme kam. Es zweigten so viele Gänge ab, es gab so viele kleine Höhlen und Nischen, dass jedes Geräusch verzerrt wurde. Trotzdem drehte er den Kopf, suchte nach Schemen in der allumfassenden Dunkelheit.
Rickard achtete nicht darauf. Er ging weiter, tiefer in die Mine hinein. Irgendwann bog er ab, ging ein paar Schritte weiter und drehte sich nach rechts.
Craymorus biss die Zähne zusammen, als seine Beine zwischen zwei Felsen gequetscht wurden. Er blinzelte in bläulich kaltes Licht und hob den Kopf.
Die Höhle war hoch. Ihre Form verwirrte ihn. Mal glaubte er, alles von ihr zu sehen, dann folgte er einer Linie und verlor sich darin. Er kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich, aber es half nicht. Ihm wurde schwindelig.
Rickard ging zu einem Bach, der durch die Mitte der Höhle floss. Er war schmal. Craymorus konnte den Grund nicht erkennen, so tief war er. Das Wasser wirkte schwarz. Rickard drehte sich und ging an dem Bach entlang.
Mit jedem Schritt schien die Höhle größer zu werden. Craymorus sah zurück, doch der Eingang war verschwunden. Es knackte in seinen Ohren, so als gingen sie steil bergab. Oder war es bergauf?
Plötzlich ging Rickard in die Knie. Craymorus ließ ihn los. Es war besser, auf die Seite zu fallen als auf die Beine.
Er schlug auf den Fels. Er war weder warm noch kalt, nur glatt. Craymorus ließ die Hand darübergleiten. Es fühlte sich an, als würde er eine Schlange berühren.
Er kroch zu einem Felsen und lehnte sich mit dem Rücken daran. Seine Beine hinterließen eine dünne Blutspur, aber sie perlte von den Felsen ab, so als weise der Stein selbst dieses bisschen Leben zurück.
Rickard hockte vor ihm. Sand quoll aus einem Riss zwischen den Steinen empor. Mit den Händen schaufelte er ihn sich in den Mund.
»Iss, mein Freund«, sagte Craymorus leise. »Iss, so viel du kannst.« Er zog die Schriftrolle aus dem Hemd und begann sie zu lesen, aber seine Blicke glitten immer wieder zu Rickard. Er wartete, spürte jedoch keine Ungeduld, keine Angst davor, überrascht zu werden, bevor es so weit war. Die Zeit, Teil des Lebens, spielte in der Welt, die er erreicht hatte, keine Rolle.
Als Rickard sich aufrichtete, rollte Craymorus die Schriftrolle zusammen und legte sie neben sich. Seine Hände zitterten nicht, seine Stimme war klar, als er den Zauber zu sprechen begann. Er sah Amaras Gesicht vor sich: Sprecht ihn einmal, Fürst. Danach werdet Ihr ihn nie wieder benötigen.
Rickard drehte sich um, und Craymorus sah in seine weißen Augen. »Gut gemacht, Rickard«, sagte er leise. »Leb wohl.«
Er streckte die Hand aus. Ein plötzlicher Druck presste ihn gegen den Fels. Rickard öffnete den Mund. Sand floss aus ihm heraus, aus Mund, Nase, Augen, Ohren. Er lief aus seinen Hemdsärmeln, sammelte sich an seinen Füßen und wirbelte davon. Craymorus riss Jacke und Hemd auf. Der Sand schwirrte um ihn, prasselte auf seine Haut, drang in seine Poren, füllte die Leere in ihm. Er war die erste Wärme nach dem Winter, das erste Tageslicht nach einer Nacht voller Alpträume.
Craymorus riss den Sand aus Rickard heraus, bis der zerstörte Körper in sich zusammensackte und sich die weißen Augen schlossen. Er merkte erst, dass er weinte, als er Tränen auf seinen Lippen schmeckte.
Es war schnell vorbei.
Craymorus kroch zu Rickard und schob die Leiche in den Bach. Er sah ihr nach, als sie durch die Höhle trieb, stellte sich vor, wie der Bach sie nach draußen trug, hinaus aus der Dunkelheit, auf den Großen Fluss und bis nach Westfall.
Dann lehnte er sich wieder an den Felsen und wartete.