Kapitel 25

 

Die Insel der Meister gilt als Ort der Ruhe, der geistigen Reinheit und der Lehre. Und so wird es den Reisenden wohl überraschen, dass es nirgendwo in den vier Königreichen mehr Tavernen und Hurenhäuser gibt.

Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 2

 

Slergg Ogivers war ein redseliger Mann. Einen Großteil der Überfahrt verbrachte er auf Deck, in der Nähe seiner Wachen, umgeben von Zuhörern, die er mit Bier und Wein bei Laune hielt. Er redete über seine Geschäfte, seinen Wohlstand, über die Frauen, mit denen er geschlafen, und über die Männer, die er getötet hatte. Doch am meisten redete er über den wichtigen Mann, mit dem er Geschäfte machte.

»Ihr alle kennt seinen Namen«, sagte er, als die Inseln zu Craymorus' Erleichterung am Horizont auftauchten. »Ich darf ihn natürlich nicht nennen, in meinem Geschäft ist Diskretion fast so wichtig wie eine gute Peitsche …« Er lachte. Seine Zuhörer stimmten ein. »Aber eines kann ich verraten: Dank mir werdet ihr bald viel von ihm hören.«

»Was werden wir von ihm hören?«, fragte Korvellan. Er lehnte etwas abseits an der Reling, die Arme vor der Brust verschränkt. Es waren die ersten Worte, die er mit Ogivers wechselte.

Der Sklavenhändler grinste. Alkohol rötete seine Wangen. »Lass es mich so sagen: Ich möchte kein Nachtschatten sein und ihm begegnen.« Mit einer übertriebenen Geste legte er eine Hand auf seinen Mund. »Aber ich rede zu viel«, sagte er lachend.

Das ist richtig, dachte Craymorus. Er stand auf und trat zu Korvellan an die Reling. Der drehte sich um, sah mit ihm zu den rasch näher kommenden Inseln. Die untergehende Sonne färbte sie rot. Ein kühler Wind kam auf.

»Was hat Ogivers damit gemeint?«, fragte Korvellan.

Craymorus hob die Schultern. »Vielleicht spielt er sich nur auf.«

»Er ist ein Aufschneider, aber nicht jemand, der etwas frei erfindet.«

Ogivers bestellte lautstark eine neue Runde. Seine Zuhörer applaudierten.

»Er weiß etwas, das ich wissen sollte«, fuhr Korvellan leise fort.

Die Richtung, die seine Gedanken nahmen, gefiel Craymorus nicht. »Lass ihn in Ruhe«, sagte er. »Wir sind nicht seinetwegen hier, sondern wegen der Meister.«

Er drehte den Kopf und sah Ogivers an. Matrosen rollten ein Fass Bier auf seinen Tisch zu. Er zog einen Beutel voller Münzen aus der Jacke und zählte einige ab. Seine Männer wirkten angespannt. Craymorus hatte den Eindruck, dass sie ihn stärker bewachten als die Sklaven, die man am Bug zwischen Ziegen und Stoffballen angekettet hatte.

»Ich weiß, weshalb wir hier sind«, sagte Korvellan. Doch sein Blick hing an Ogivers, nicht an den Inseln.

Sie sprachen nur wenig miteinander, bis die Fähre lange nach Sonnenuntergang im Hafen anlegte. Die Bucht war hell erleuchtet. Überall brannten Fackeln. Träger liefen durch die Lichtkegel, die sie schufen, Kapitäne und Händler riefen ihnen Aufträge zu. Es war laut und hektisch.

»Hier hat sich viel verändert«, sagte Craymorus, als er und Korvellan die Pferde an Land führten.

Eine Hure zwinkerte ihm zu. »Hey, ihr.«

Er blieb stehen und sah sich um. Ogivers ging über den Steg, umgeben von seinen Wachen. Angekettete Sklaven folgten ihm dicht gedrängt. Die Aufseher sorgten dafür, dass sie zusammenblieben.

»Hier trennen sich unsere Wege«, sagte Ogivers. Er war angetrunken.

»Unseren Dank noch mal für Eure Großzügigkeit.« Craymorus hatte sich schon an Bord mehrmals bedankt, aber der Sklavenhändler schien das nicht oft genug hören zu können.

Korvellan nickte. »Sobald wir unsere Freunde getroffen haben, können wir Euch das Geld zurückzahlen. Wo finden wir Euch?«

»Herr.« Einer der Leibwächter, ein kräftiger, bärtiger Mann, schüttelte den Kopf.

Ogivers lachte. »Immer vorsichtig, was, Miko?« Er klopfte dem Leibwächter auf die Schulter. »Miko«, sagte er dann. Sein Blick glitt unstet von Korvellan zu Craymorus und wieder zurück. »Miko sieht immer das Schlimmste in den Menschen. Er hat Angst, ihr würdet versuchen, mich auszurauben, weil ihr arm seid und ich nicht. Damit er ruhig schlafen kann, werde ich schweigen.«

»Danke, Herr.« Der Leibwächter verbeugte sich leicht. Korvellan trat zur Seite, um ihn und Ogivers vorbeizulassen.

Die Sklaven stolperten an Land. Einige bedeckten ihre Genitalien mit den Händen, die meisten ließen jedoch die Arme hängen und starrten ins Nichts. Nur eine Frau sah Craymorus an.

»Fürst?«, fragte sie. Ihre Augen wurden groß. Das ungewaschene Haar hing ihr wirr ins Gesicht. »Fürst Craymorus?«

»Nein.« Er zwang sich zu einem Lachen. »Du irrst dich.«

Sie blieb auf dem Steg stehen. Die Sklaven, die hinter ihr gingen, prallten gegen sie. »Nein, Ihr seid es. Ich sah Euch auf Eurer Hochzeit. Ihr habt mir zugewunken.« Sie ergriff seine Hand. »Ihr müsst mir helfen. Man will mich …« Der Stock traf sie zwischen die Schulterblätter. Sie schrie auf.

»Weiter!«, brüllte ein Aufseher. »Du hältst ja alles auf.« Er holte aus.

Craymorus packte sein Handgelenk, drehte es zur Seite. Die Krücken hatten seine Arme stark gemacht. Der Aufseher stöhnte und ließ den Stock fallen.

»Was ist denn hier los?« Ogivers bahnte sich seinen Weg durch die Sklaven. Craymorus sah, wie der Leibwächter neben ihm nach seinem Schwert griff. Er trat den Stock ins Wasser.

»Euer Aufseher hat eine Frau geschlagen«, sagte er.

»Dafür bezahle ich ihn ja.« Ogivers klatschte in die Hände. »Los, weiter!«

Die Frau zeigte auf Craymorus. »Aber er ist der Fürst. Ihr müsst tun, was er sagt.«

»Was soll er sein?« Der Sklavenhändler sah sie an, dann Craymorus und begann zu lachen. »Der Fürst ist ein Krüppel, dummes Weib. Und er könnte auch seine eigene Überfahrt bezahlen.« Ansatzlos schlug er ihr ins Gesicht.

Craymorus ballte die Hände zu Fäusten, aber Arme, stärker als seine, zogen ihn weg von dem Steg.

»Seid Ihr wahnsinnig?«, zischte Korvellan ihm ins Ohr. »Was soll das?«

»Sie hat mich erkannt.« Craymorus stemmte sich vergeblich gegen den Griff. »Und um meine Hilfe gebeten.«

Der Tross der Sklaven setzte sich wieder in Bewegung. Die Frau war irgendwo zwischen ihnen. Craymorus sah sie nicht mehr.

Ogivers machte eine obszöne Geste in seine Richtung. »Und so was nennt man Dankbarkeit!«, rief er. Miko wirkte zufrieden, so als habe er mit nichts anderem gerechnet.

Korvellan zog Craymorus zwischen aufgestapelte leere Kisten. »Ihr könnt ihr nicht helfen. Nicht so.«

Einige Menschen hatten die Auseinandersetzung mitbekommen und waren stehen geblieben. Als nichts mehr geschah, gingen sie weiter.

Craymorus hörte auf, sich zu wehren. Der Griff um seine Arme lockerte sich. »Er hat sie geschlagen. Ich musste etwas tun.«

Korvellan ließ ihn los. »Also habt Ihr doch Blut im Körper, Fürst«, sagte er. »Ich war mir nicht ganz sicher. Wartet hier.«

Er holte die Pferde, deren Zügel er über die Deichsel eines leeren Karren geworfen hatte. Sie stiegen auf und ritten durch die kleine Stadt hinauf zur Schule.

Craymorus bemerkte die vielen neuen Hütten und Gebäude, die gepflasterten Straßen und die Bettler, die am Wegesrand hockten. Unwillkürlich fragte er sich, wie viele seiner Untertanen es wohl auf die Inseln verschlagen hatte und was sie tun würden, wenn sie ihn erkannten.

Hassen sie mich?, dachte er. Begreifen sie überhaupt, was geschehen ist?

Die Schule hatte sich nicht verändert. Craymorus sah die Umrisse ihrer Gebäude vor dem mondhellen Himmel, als er durch das Tor ritt. Es roch nach frisch geschnittenem Gras und Fischeintopf. Er spürte den Geschmack auf der Zunge und fühlte so etwas wie Geborgenheit.

»Diese Schule ist mein Zuhause«, sagte er.

Korvellan stieg vor dem Haupthaus ab. »Ihr habt viel Zeit hier verbracht, Fürst.«

»Du nicht?«

»Nur zwei Jahre. Dann haben sie mich in den Krieg geschickt.«

Er klopfte an die schwere alte Holztür.

Craymorus kannte den Eunuchen, der die Tür öffnete. Vor ihm hatte er auch mit Rickard gestanden, damals, an dem Tag, an dem sich alles änderte.

»Meister Horasz hat Euch früher erwartet«, sagte der Eunuch. Seine Stimme war hell und klar wie die eines Singvogels. »Er ist bereits zu Bett gegangen, aber er bittet Euch, seine Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen und im Gästehaus zu übernachten. Ich werde Euch alles zeigen.«

Der Eunuch schloss die Tür hinter sich und ging mit den Schritten eines Mannes, der das Gehen sehr ernst nahm, über den kleinen, von Steinen gesäumten Platz.

Craymorus stieg ab. Seine Knie knackten. Er hatte den Zauber zuletzt in Bochat erneuert. Lange durfte er nicht mehr warten.

Korvellan schloss zu ihm auf. »Meister Horasz hat also gewusst, dass wir kommen würden«, sagte er.

Craymorus nickte. »Ein gutes Zeichen.«

Der Eunuch schloss das Gästehaus auf und führte sie zu ihrem Zimmer. Die beiden Betten, die darin standen, und eine Öllampe an der Wand, waren die einzige Einrichtung. Das Fenster stand offen. Es roch nach Meer.

»Benötigt Ihr noch etwas?«, fragte der Eunuch. Er war im Türrahmen stehen geblieben, füllte ihn fast aus.

»Nein«, sagte Craymorus. »Alles ist zu unserer Zufriedenheit.«

»Der Meister wird Euch nach Sonnenaufgang rufen lassen.« Der Eunuch verneigte sich knapp und ging.

Korvellan setzte sich auf das Bett und verzog das Gesicht. »Hart wie ein Pferderücken.«

Craymorus setzte sich ebenfalls und zog seine Stiefel aus. Ein Krampf krümmte die Zehen seines rechten Fußes. Er zog die Luft ein, als Schmerz in seine Wade biss.

»Lässt der Zauber nach?«, fragte Korvellan.

»Ja.« Craymorus stand auf. Der Krampf verschwand. »Ich muss noch einmal nach draußen.«

Es war niemand zu sehen, als er das Gästehaus verließ. Er spürte warme Erde unter seinen Fußsohlen. Er scharrte ein wenig davon beiseite und klopfte mit der Ferse auf den Boden. In seinen Gedanken sprach er die Worte, verband sie mit den Bewegungen, wob ein unsichtbares Muster aus Magie und Rhythmus.

Nichts geschah.

Craymorus' Mund wurde trocken. Nein, dachte er. Es muss Magie geben. Es muss. Es muss.

Seine Bewegungen wurden heftiger. Das rechte Knie pochte, doch er drängte den Schmerz zurück. Kleine Steine bohrten sich in seine Fußsohlen, Staub wallte auf. Schweiß sammelte sich in seinen Augenbrauen und lief wie Tränen über sein Gesicht. Sein Atem ging schwer. Seine Lippen bewegten sich, wiederholten den Zauber wieder und immer wieder.

Im Haupthaus erloschen die Lichter eines nach dem anderen. Craymorus glaubte ein Gesicht hinter einem der Fenster zu sehen, aber es schoben sich Wolken vor die Monde, und als sie weiterzogen, war das Gesicht verschwunden.

Dann, nach einer Ewigkeit aus Angst und Schmerz, spürte er ein Kribbeln. Es stieg seine Beine hinauf, festigte die knirschenden Knochen, beruhigte die zitternden Muskeln. Er tanzte, bis er die Süße, die es mit sich brachte, zu schmecken glaubte, bis es nichts mehr gab außer dem Zauber.

Er brach zusammen. Schwer fiel er auf die aufgewühlte Erde. Sie kühlte sein Gesicht. Er drehte sich auf den Rücken. Sein Hemd war durchgeschwitzt. Sein Herz raste. Er keuchte.

Irgendwann beruhigte sich sein Atem, und das Blut rauschte nicht mehr in seinen Ohren. Eine dünne Schicht aus Schweiß und Dreck bedeckte seine Haut.

Er setzte sich auf und streckte die Beine aus. Sie gehorchten. Er spürte keinen Schmerz, als er sie abtastete, die Hände über vernarbte Haut und zertrümmerte Knochen gleiten ließ.

Craymorus atmete tief durch und stand auf. Furcht wurde zu Erleichterung. Die wenige Magie, die er dem Boden hatte entreißen können, wirkte. Seine Beine stützten seinen Körper, ohne zu zittern oder zu schmerzen.

Er wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und hinterließ dunkle Dreckspuren auf seinem Hemdsärmel. Ich muss den Eunuchen um ein neues Hemd bitten, bevor er uns zu Horasz führt, dachte er. Das wird ihm nicht gefallen.

Er grinste bei dem Gedanken und machte einen Schritt auf das Gästehaus zu. Er stolperte, wäre beinahe gestürzt. Etwas hielt sein rechtes Bein zurück.

Vielleicht eine Baumwurzel, dachte er, obwohl er wusste, dass es nicht so war.

Craymorus machte einen weiteren Schritt. Sein linkes Bein ging vor, das rechte kam zögernd nach.

Er hinkte.