»Er hat alles
versucht«:
Berthold und Else Beitz’ Rettungsaktionen in Boryslaw
EIN KLAVIER AUS DEUTSCHLAND
Das Klavier steht heute in Haifa, in einem großen, lichtdurchfluteten Wohnzimmer mit Blick auf die Hügel des Carmel. Es ist ein schweres Stück mit fast mannshohem Rücken, gedunkelt vom Lauf der Jahrzehnte, mit Säulenfüßen und weißen Tasten aus echtem Elfenbein. Eine deutsche Firma hat es gebaut, C. M. Schröder, Spezialist für feine Pianos.
Rund siebzig Jahre zuvor, Ende Juni 1941. Für Anna Rotenberg im ostpolnischen Ölstädtchen Boryslaw ist das Klavier der Inbegriff von Kultur und Harmonie, ein Stück Deutschland. Die 39-Jährige spricht fließend Deutsch und Russisch, sie war zur Ausbildung in Sankt Petersburg und spielte als junges Mädchen in einer Wiener Virtuosenklasse. Nun muss sie entscheiden, ob sie das Klavier zurücklassen soll – oder ob sie und ihr zwölfjähriger Sohn Jurek bleiben. Denn die Deutschen kommen.
Hektisch bereiten die russischen Besatzungstruppen den Rückzug vor. In der Ferne ist schon das Donnern der Geschütze zu hören, und aus dem Himmel stoßen wie Sendboten der Hölle die deutschen Sturzkampfbomber mit heulenden Sirenen herab auf den Bahnhof. Die Bomben zertrümmern Gleise und Züge. Zwischen den Fördertürmen jagen sowjetische Kavalleristen hindurch und werfen Brandfackeln, Rauchwolken von brennendem Öl steigen Hunderte Meter hoch in den Himmel. Die Anlagen sollen der Wehrmacht nicht unversehrt in die Hände fallen. Kolonnen von Rotarmisten hasten davon, Lastwagen werden eilig beladen; am Stadtrand haben Soldaten schon deutsche Kundschafter auf Motorrädern gesehen. Da hält ein Militärauto vor dem Haus der Rotenbergs, einer der sowjetischen Öldirektoren steigt aus und eilt hinein. Anna Rotenberg hat ihm und seinen Kindern Klavierunterricht gegeben, jeder in der Stadt kennt die berühmte Pianistin. Der Russe beschwört sie, alles stehen und liegen zu lassen und mit ihrem Sohn in den Wagen zu steigen. »Kommen Sie mit nach Russland«, sagt er, »hier sind Sie nicht sicher, bitte. Werfen Sie Ihre Sachen in einen Koffer und fahren Sie mit, schnell.«
Aber Anna Rotenberg wird es nicht tun. Die Sowjetunion ist für die gebildete, kultivierte Frau ein barbarisches Land, regiert von Stalin, dem Massenmörder. Nein, sie wird nicht gehen. Dem drängenden Direktor erklärt sie: »Machen Sie sich keine Sorgen um uns. Bald wird die Rote Armee doch zurückkommen, dann sehen wir uns wieder.« Was soll der Russe darauf sagen? Nichts spricht für die Rückkehr der sowjetischen Soldaten. Ihre rückwärtigen Einheiten fliehen in heller Auflösung ostwärts, die Wehrmacht walzt über die Front hinweg und zerschmettert den tapferen, aber heillos unorganisierten Widerstand. Der Direktor schüttelt den Kopf und geht. Zwei Tage wird es noch dauern, bis die Deutschen einrücken. Zu ihrem Nachbarn Jitzhak Linhard sagt Anna Rotenberg, die Deutschen seien doch die Nation, die Heine, Beethoven und Bach hervorgebracht habe und das schöne Schröder-Klavier: »Ich ziehe sie diesen Tataren vor.«
»EINE ZEIT GROSSER TRAURIGKEIT«:
DAS GRAUEN IN DER PANSKASTRASSE
Gleich in den ersten Tagen nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, dem Beginn des Unternehmens »Barbarossa«, fällt die alte Festung Przemyśl, wo die Truppen des Zaren den Österreichern im Ersten Weltkrieg fast 200 Tage Widerstand geleistet haben. Die 17. Armee der Wehrmacht besetzt bereits am 1. Juli 1941 das Erdölgebiet Galiziens. Ihr folgt der Tross derer, die das eroberte Land übernehmen sollen. Öl ist knapp im Deutschen Reich, ein schwacher Punkt der stärksten Armee der Welt, und der Treibstoff aus Boryslaw und den anderen Förderstätten soll die Maschinerie des Krieges am Laufen halten. Jedem ist klar, dass die Rotarmisten in Boryslaw angezündet haben, was sich anzünden ließ. Instandsetzung und Förderung sollen so schnell wie möglich beginnen. Während die Panzer des Feldmarschalls Gerd von Rundstedt weiter nach Osten vorstoßen, folgen aus dem westlichen Polen die technischen Experten für den Ölbetrieb mit einer Lastwagenkolonne über den San. Mit dabei sind Berthold Beitz und seine Frau Else.
Boryslaw ist das Herz des polnischen Ölgebietes, es liegt südlich von Lemberg und zehn Kilometer entfernt von der Kreisstadt Drohobycz. 1941 zählt der Ort ungefähr 40 000 Einwohner. Galizien erstreckt sich vom Süden Polens bis in das Gebiet der Ukraine und gehörte einst, bis 1918, zum osteuropäischen Imperium Österreich-Ungarns. Der Vielvölkerstaat des versunkenen Habsburger Kaiserreichs lebt hier noch fort. Der eifernde Nationalismus aber, den jenes noch mühsam zu zügeln vermochte, hat längst sein hässliches Haupt erhoben, und ob unter Polen oder Ukrainern, er geht einher mit einem tiefsitzenden Antisemitismus. Fast jeder Zweite der Bewohner Boryslaws ist Jude, die anderen sind hauptsächlich Polen und Ukrainer, daneben gibt es Deutsche, Armenier und andere kleine Minderheiten.
Die Kultur der Juden, die Welt der Shtetl, wie sie der Maler Marc Chagall in seinen Bildern verewigt hat, ist hier tief verwurzelt. Sie reicht zurück bis ins 14. Jahrhundert, als in Europa die Pest umging, »eine Zeit großer Traurigkeit«, wie die Chronisten schrieben, und die Christen die Juden für die Seuche verantwortlich machten. Einer der wenigen Zufluchtsorte vor den mörderischen Pogromen war das polnische Königreich unter Kasimir dem Großen (1333–1370). Er nahm die Flüchtlinge auf und machte sich ihre Fähigkeiten für seinen jungen Staat zunutze. Der Holocaust-Überlebende und Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel schreibt über das jüdische Leben in diesen weiten Ländern des Ostens: »Sadna, d’araa had hu, heißt es im Talmud: Alle Städte kommen aus der gleichen Werkstatt. Überall die gleichen Hütten. Manche niedergeduckt, andere heiter, von Licht überströmend … Von der Außenwelt abgeschnitten, schaffen sich diese zeitlosen jüdischen Königreiche ihre eigene Welt, mit Fürsten und Troubadours, Narren und Bettlern, Dichtern und Arbeitern, Festen und Trauertagen … Und überall gibt es das gleiche Morgen. Und am Freitagabend, wenn der Schabbat anbricht, stimmt man überall dasselbe Lied an, um die Engel einzuladen, die überallhin denselben Frieden bringen.«
Die Orthodoxen sind auch in Boryslaw stark vertreten, unverkennbar in ihren schwarzen Kaftanen, mit ihren Bärten, Schläfenlocken und Ritualen. Bürgerliche Familien wie die Rotenbergs, geprägt durch die K. u. k.-Zeit, sind kulturell an Deutschland orientiert, dem Land, aus dem das Schröder-Klavier stammt. Jurek Rotenbergs Vater, ein jüdischer Offizier, der 1920 auf Seiten Marschall Pilsudskis die Unabhängigkeit Polens gegen die roten Revolutionstruppen aus Russland verteidigt hatte, war bis zu seinem frühen Tod 1934 in der Ölindustrie beschäftigt. Das gilt im Übrigen für die meisten der ansässigen Juden – von den »Lebkas«, den Tagelöhnern, die Schlacken und Schlieren aus dem Wasser holen, bis zu den Werksbesitzern. Einer der größten Unternehmer am Ort stammt aus der bekannten Familie Lockspeiser und ist der Onkel des hübschesten Mädchens in Jureks Schule. Jurek bewundert Anita Lauf sehr, mit ihrem Wiener Akzent und ihren modischen Zöpfen. Anitas Großvater, ein Jude aus Galizien, war noch Offizier der schmucken K. u. k.-Streitkräfte gewesen. Anita selbst verbringt eine behütete bürgerliche Kindheit in Wien und kehrt erst nach dem »Anschluss« Österreichs 1938 mit der Familie in deren alte polnische Heimat zurück, nachdem die Hakenkreuzfahnen auf den Straßen wehten und das Kind nicht verstand, warum die Frauen in ihrer Familie so sehr weinten. Schön sähen die Fahnen aus, sagte sie dem Dienstmädchen Steffi, doch die meinte nur: »Bist ja deppert, Anita. Des sind ja Nazis.« Ihr Vater steigt in Boryslaw groß ins Ölgeschäft ein, wird aber 1939 mit dem Onkel von den einrückenden Sowjets als Klassenfeind sofort abgesetzt. Die Familie wohnt außerhalb der Stadt, und Anfang Juli 1941 erscheint dort am Zaun ein Wehrmachtsoldat, der höflich auf Deutsch fragt: »Entschuldigen Sie bitte, kann man hier irgendwo Milch oder frisches Wasser besorgen?« Anitas Mutter sagt abends: »Na, die Russen sind wir los. Die Deutschen sind ja doch ein Kulturvolk.«
Die Stadt, die Berthold und Else Beitz am 1. Juli 1941 erstmals sehen, ist alles andere als ein einladender Ort, und sie trägt, von ein paar hohen Verwaltungsbauten und dem Theater abgesehen, kaum Spuren alter K. u. k.-Pracht. Das Gewirr aus Hütten, kleinen Fabriken und den hohen hölzernen Fördertürmen bestimmt die Silhouette der Stadt. Und mittendrin, ohne erkennbare Ordnung, liegen die Behausungen der Einwohner und Arbeiter, niedrige, überwiegend einstöckige Häuser aus Lehm und Holz. Die Straßen sind schmutzig, es stinkt nach Öl. Der zehnjährige Jude Janek Bander, ein Freund von Anita und Jurek, spielt mit seinen Freunden oft am Rand des Flusses Tysmienica, eines trüben, von Ölschlieren bedeckten Gewässers, in dem die Jungen heimlich baden, was streng verboten ist. Nur am Rande der Stadt gibt es einige ansehnlichere Wohnhäuser mit Gärten.
Fast zwei Jahre sind die Russen in Boryslaw gewesen, im September 1939 haben sie das Ölrevier als Teil des polnischen Ostens okkupiert, wie es das Geheime Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes vorgesehen hat. Von den einen werden sie wie Befreier gefeiert, von den anderen wie das personifizierte Böse gefürchtet, und die Fronten verlaufen dabei quer durch die Nationalitäten. Viele junge Juden sind erleichtert, ja begeistert gewesen. Für sie bedeutet die Herrschaft der Kommunisten Schutz vor den Nazis, die Hoffnung auf ein Ende des Antisemitismus und des hasserfüllten Streits zwischen den Nationalitäten Polens, aber auch Befreiung aus hergebrachten Zwängen der Tradition. Janek Bander etwa ist zehn Jahre alt, als die Rote Armee die Stadt besetzt; schon bald ist er bei den jungen Pionieren, trägt stolz das rote Halstuch und singt: »Ich bin ein junger Pionier und steh stets treu zu der Partei …« Die Älteren und gewiss die Orthodoxen sehen dagegen bald, wie sich ihre Befürchtungen bewahrheiten. »Bürgerliche« Juden, Wohlhabende, Unternehmer und willkürlich Verdächtigte verlieren ihre Arbeit, nachts steht der gefürchtete Geheimdienst NKWD vor der Tür. Kurz bevor die Deutschen kommen, sind die Kerker der Tschekisten überfüllt. Auch sehr viele Polen und Ukrainer, des Nationalismus verdächtigt, befinden sich darunter, aber am Ende lernen alle Nationalitäten die dunkle Seite des Sowjetreichs kennen. Der NKWD verschleppt Janek Banders Onkel nach Sibirien, und zu Hause sagt die Mutter: »Die Russen sind doch keine Menschen.« Janeks 17-jähriger Bruder Karol dagegen will sich den roten Soldaten anschließen. Er sitzt schon im Zug nach Osten, als die verzweifelten Eltern ihn endlich aufspüren und anflehen, doch zu bleiben. Schlimmer als unter Stalin, so glauben auch sie, kann es bei den Deutschen kaum sein. »So ist das Schicksal«, sagt Janek Bander heute resigniert. Sein Bruder wird ein Jahr später, 1942, ins Vernichtungslager deportiert.
Das Ehepaar Beitz bezieht im Juli 1941 ein kleines, für hiesige Verhältnisse besseres Haus am Stadtrand. Bis dahin hat Beitz wenig vom Krieg gesehen. Wie vielen Deutschen ist ihm der Krieg anfangs als neuer Waffengang zwischen Europas Nationen erschienen, so wie es viele vorher gegeben hat, zuletzt jenen, in den der Ulanen-Wachtmeister Erdmann Beitz geritten war. Sein Sohn wird nun sehr bald erfahren, dass in diesem Krieg nichts ist wie zuvor. Es sind Szenen des Grauens, auf die ihn nichts vorbereitet hat.
Die deutsche Offensive hat die Rote Armee mit vernichtender Wucht getroffen. Dem NKWD bleibt keine Zeit, seine Gefangenen nach Osten zu schaffen. Aber es ist Zeit genug, sie nicht in die Hände der Deutschen fallen zu lassen. Die Wut der Verlierer und die von Stalin herangezüchtete menschenverachtende Mentalität in seinem Geheimdienst wachsen sich zu einer sadistischen Racheorgie in den Kerkern und Verliesen aus; Tausende Ukrainer, Polen und auch Juden werden gefoltert, verstümmelt und getötet. Selbst für ein System, das seit der russischen Revolution 1917 über Millionen von Leichen im eigenen Land gegangen ist, sind diese Gräuel himmelschreiend.
Die NSDAP-Propaganda schlachtet die furchtbaren Funde dankbar aus. In vielen Städten lässt sie die Leichen fotografieren und die Bilder veröffentlichen. Das alles, schreiben die Nazizeitungen, sei die Schuld der Juden und Bolschewisten. Und fast überall sind es Juden, die von deutschen Soldaten und den schnell gebildeten Milizen der ukrainischen Nationalisten gezwungen werden, die Leichen zu bergen – so auch in Boryslaw. Hunderte Juden müssen den NKWD-Keller in der Panskastraße räumen, unter ihnen, wie der Historiker Thomas Sandkühler in seiner grundlegenden Studie über die »Endlösung« in Galizien überliefert, ein Junge namens Jan Moldauer, der dort die Leichen eines befreundeten Geschwisterpaares findet und später schreibt: »Das waren frische Leichen … Dieser Bursche Kozlowski und seine Schwester waren darunter. Die Brustwarzen des Mädchens, sie war ungefähr 16 Jahre alt, waren wie mit einer Zange herausgezogen, ihr Gesicht verbrannt … Kozlowski hatte nur ein ganz verschwollenes Auge, seine Lippen waren mit Stacheldraht zusammengenäht, seine Hände zerschlagen und ebenfalls verbrannt, die Haut pellte sich, als ob sie mit kochendem Wasser übergossen worden wäre. Sie war nackt, er nicht … Ich sah mir keine weiteren Leichen mehr an, weil ich es einfach nicht konnte. Aber diese waren meine Freunde (gewesen). So wusch ich ihre Körper.«
Das Grauen ist damit nicht zu Ende. Im Gegenteil. Es hat erst begonnen. Auf der Panskastraße liegen in langen Reihen die Toten aus den Kellern, ein furchtbarer Anblick. Die Straßen mit ihren niedrigen Häusern sind voller Menschen, vor allem Ukrainer, sie schreien voller Hass und Entsetzen. Sie schreien nach Rache. Die Juden sind schuld, rufen sie, schlagt sie alle tot! Eine hysterische Menge attackiert nun die Juden.
Beitz, der junge Ölmanager, wird bei einer Fahrt durch die Stadt am Rande Zeuge des Geschehens. Er ist fassungslos: »Die Juden mussten die Leichen waschen, und schon dabei haben Ukrainer viele Juden erschlagen, als ob diese etwas für die Morde des sowjetischen Geheimdienstes gekonnt hätten.« Es ist für ihn »ein ungeheurer Schock«. Besonders erschreckt ihn, dass die Wehrmacht und die SS dem Morden nicht Einhalt gebieten. Die Soldaten stehen dabei und schauen zu, manche feixen, andere machen Fotos; einige von ihnen mischen sich sogar unter die Ukrainer und hetzen Juden durch die Straßen von Boryslaw.
Der 13-jährige Janek Bander sieht vom Fenster aus Menschen mit Sensen, Hacken und Beilen durch die Gassen rennen, einen mörderischen Mob wie bei einem Pogrom des 17. Jahrhunderts. Neben Janek steht ein deutscher Soldat mit schussbereitem Gewehr, ein unwahrscheinlicher, aber sehr wachsamer Beschützer. Den Mann hat jener hohe Offizier zum Schutz der Banders abgestellt, der sich bei ihnen einquartiert hat, in einem der wenigen ansehnlichen Gebäude der Stadt, einem gelben Holzhaus mit einem Garten, den drei markante Bäume zieren. »Sie bleiben hier«, hat er zu dem Soldaten gesagt, »und erschießen jeden wie ein Schwein, der hier eindringen will.« Die Welt ist schwer zu verstehen für einen 13-Jährigen.
Am Vorabend hat Janek gelauscht, als der Offizier nach dem Essen mit Oskar Bander, dem Vater, diskutierte. »Herr Bander, sagen Sie selbst«, hat der Deutsche gefragt, »was sollen wir mit all den Juden tun?« Worauf der Vater erregt antwortete: »Geben Sie uns Arbeit! Oder wollen Sie uns alle erschießen?«
Bei dem Offizier handelt es sich möglicherweise um den ersten Ortskommandanten von Drohobycz, den auch für Boryslaw zuständigen Major Tautenhahn. Der jedenfalls gebietet dem Pogrom schließlich Einhalt und untersagt weitere Ausschreitungen bei Strafe. Da ist das Morden aber schon drei Tage weitergegangen. Am 4. Juli 1941 begraben die Juden von Boryslaw auf dem Friedhof ihre Toten, 183 Angehörige und Freunde. Die Überlebenden mögen hoffen, dass sie das Schlimmste überstanden haben, und das ist es auch, was Beitz denkt: Das Ganze war ein Exzess, hauptsächlich von Ukrainern verübt, der sich nicht wiederholen wird, sobald die Ordnung einmal wiederhergestellt ist. Aber die Bilder der Erschlagenen wird er nicht mehr vergessen. Seine Welt hat begonnen, sich zu verändern.
DER MANAGER UND DIE MÖRDER
Beitz ist, mit seinen 27 Jahren, verantwortlich für eines der wichtigsten Ölgebiete des deutschen Herrschaftsbereichs und für 13 000 Arbeiter. Aus Boryslaw allein kommt die Hälfte der Gesamtförderung der Beskiden-Öl-AG. Reichsmarschall Hermann Göring selbst hat am 22. Juli 1941 angeordnet, die galizischen Förderfelder dem Unternehmen zu übergeben. Als Erstes werden die Schäden behoben, welche die Rotarmisten angerichtet haben. Es hat schlimmer ausgesehen, als es ist. Schon Ende Juli erreicht die Produktion in Boryslaw wieder drei Viertel des Standes vor dem Krieg.
Berthold und Else Beitz richten sich mit der Zeit ein, die Front rückt rasch nach Osten fort. Sie sind froh, als sie schließlich die kleine Barbara zu sich holen können. Die Familie ist wieder vereint. Else Beitz arbeitet nicht mehr, sondern kümmert sich um das Kind. Anfangs fehlt es an vielem. Beitz schickt seinen polnischen Kutscher aufs Land, damit er bei den Bauern Petroleum gegen Lebensmittel tauscht. Der Mann fährt mit dem Pferdewagen los und kehrt abends zurück, mit Kartoffeln, Butter in Kohlblättern, Milch, Brot und Flusskrebsen. Es gibt einen Garten mit Ställen und einen offenen »Landauer«, einen Wagen für Zugpferde, mit dem sich Beitz in der ersten Zeit durch Boryslaw fahren lässt. Später bekommt er einen Mercedes als Dienstwagen. Auch entstehen Freundschaften, etwa mit Hermann (»Jo«) Malz, einem wie Beitz für Personalwesen zuständigen Direktor am Verwaltungssitz der Ölgesellschaft in Lemberg, und dessen Frau. Mit dem Ehepaar Malz feiern sie in Boryslaw Weihnachten, hören Jazzschallplatten und reden wenig Gutes über die Nazis, von denen auch der Katholik Malz nichts hält.
Die Beskiden-Öl wird nach der Eroberung Ostgaliziens noch im Juli neu strukturiert. Ab Oktober 1942 heißt sie »Karpathen-Öl AG« unter dem Vorstandschef Karl Große und seinem Vize Hermann Malz. Noch im selben Jahr steigt die Bedeutung der galizischen Ölfelder für die Kriegswirtschaft noch einmal deutlich: Ende 1942 scheitert der Vorstoß der Wehrmacht auf die reichen Ölfelder jenseits des Kaukasus. Gleichzeitig werden die Raffinerien in Deutschland immer öfter von Briten und Amerikanern bombardiert; Ostgalizien liegt aber noch jenseits der Reichweite ihrer Flugzeuge. Diese gewichtige Stellung des Unternehmens ist sehr bedeutsam für Beitz’ Rettungsaktionen, ebenso ein weiterer, ihn begünstigender Umstand: Die Führung liegt in der Hand von effizienten Managern wie Große, der zwar Mitglied der NSDAP war, sich aber »jeder parteipolitischen Propaganda enthielt«. Für die Spitze der Karpathen-Öl zählt vor allem Effizienz, das bringt sie in einen Gegensatz zur Vernichtungspolitik des Regimes gegen die Juden. Die Karpathen-Öl setzt sich deswegen mehrfach bis zu SS-Führer Himmler für die Schonung der jüdischen Fachkräfte in ihren Reihen ein.
Außer in der Lemberger Zentrale betreibt sie auch im nahen Drohobycz Raffinerien und unterhält dort viele Verwaltungsposten. Aber in der Betriebsinspektion Boryslaw ist Beitz als kaufmännischer Leiter der faktische Chef. Er führt die Geschäfte und vertritt das Boryslawer Fördergebiet nach außen; der zweite Direktor, der technische Leiter Erich Radecke, bleibt neben ihm blass. Beitz hat in seiner Ölstadt ziemlich freie Hand. Er leitet seinen Außenposten mit Effizienz. Der neue Mann bezieht als Sitz der Betriebsinspektion sein Hauptquartier in einem für Boryslawer Verhältnisse modernen, im sachlich-kühlen Stil der zwanziger Jahre errichteten Verwaltungsblock nahe dem Zentrum in der Slowackistraße. Es ist ein großer Betrieb, Beitz hat allein fünfzig deutsche Mitarbeiter, die meist auf dem Firmengelände wohnen.
Das Land, in dem er nun lebt, ist jener östliche Teil Polens, der nicht dem Reich einverleibt wird, das Generalgouvernement, in Krakau regiert von dem Nazibonzen Hans Frank, den seine Höflinge als »König von Polen« bezeichnen. Das Land ist zur Ausbeutung freigegeben, seine Bewohner sind rechtlose Heloten, für die nur ein Gesetz gilt: Wehe den Besiegten!
Beitz, der junge Direktor, handelt anders. Er sieht die Unterworfenen als Menschen. Von Beginn an sorgt er dafür, dass auch die einheimischen Arbeiter ausreichend versorgt und ernährt werden – keineswegs eine Selbstverständlichkeit in den Rüstungsbetrieben des Ostens. Es gibt eine Bäckerei, eine Schweinezucht – und einen regen Schwarzhandel. Beitz gründet sogar eine Genossenschaft mit eigenen Verkaufsläden für die Werksangehörigen und ihre Familien: »So wurden viele tausend Menschen mit Essen versorgt. Das war eine Riesenorganisation, aber sie hat gut geklappt.« Seine Lemberger Vorgesetzten sind sehr von ihm angetan, denn die Ölförderung läuft wieder. Außerdem kommen sie gern beim organisationstüchtigen Beitz vorbei, in der Erwartung, »mit ein paar schönen Speckseiten, Schinken und Butter« zurückzufahren.
Doch es ist, wenn überhaupt, nur ein kurzer Schein von Normalität. Beitz weilt noch keine zwei Wochen in der Ölstadt, als SS-Führer Heinrich Himmler im fernen Berlin folgenden Befehl erlässt: »Gegenüber Wehrmacht ist zu betonen, daß im rückwärtigen Gebiet der höhere SS-Führer Verfügung über alles hat, was dem Reichsführer SS gehört … Auch für den Sicherheitsdienst gilt das Vorstehende.« Das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) hat bereits vor »Barbarossa«, dem Einmarsch in die Sowjetunion, vier Einsatzgruppen gebildet, die dann im Rücken der Front Hunderttausende Morde begehen werden, die Opfer sind zumeist Juden. Dies ist ein Krieg neuer Art, ein Krieg ohne Beispiel: Ein ganzes Volk soll vernichtet werden, aus rassenideologischen Motiven, denen der verhasste Bolschewismus als jüdisch dominierte Gegenwelt gilt. Es ist eine Ideologie des Mordes, die zwanzig Jahre zuvor von Gestrandeten des Ersten Weltkriegs, seelisch Verwahrlosten wie dem jungen Adolf Hitler, in Münchner Bierschwemmen ausgeheckt wurde. Inzwischen ist sie eine tödliche Verbindung mit dem tiefsitzenden Antisemitismus von Teilen der deutschen Gesellschaft eingegangen. Ein möglicher »Führerbefehl« hat sich nicht erhalten, aber die Führung des NS-Staates beginnt nun mit der systematischen Ermordung des Judentums.
Die Werkzeuge des Mordes sind auch in Galizien zunächst die Einsatzgruppen und andere Einheiten der SS, die Gestapo, regional im nahen Drohobycz untergebracht, sowie die Polizei. In Boryslaw wütet ab Herbst 1941 eine relativ kleine Dienstabteilung Wiener Schutzpolizisten unter dem Kommando des Hamburger Leutnants Gustav Wüpper. Die Männer morden, rauben und foltern, ein weiterer Beleg dafür, wie scheinbar »ganz normale Männer« zu Monstern werden. Zu Wüppers Leuten gehört Heinrich Nemec, ein schwergewichtiger, sadistischer Wiener, der sich gern mit jungen Männern umgibt und die neugebildete, bei den Juden als Hort antisemitischer Kollaborateure gefürchtete ukrainische Polizei kommandiert. Ganz im Sinne des Himmler-Erlasses setzt sich in Drohobycz und Boryslaw die SS sehr bald über zaghafte Einwände der Wehrmachtskommandantur hinweg und beginnt ein Regime des Schreckens.
Die Führung der Wehrmacht hat weder die moralische Kraft noch den Willen, den Morden entgegenzutreten. Nicht weit vom Ölrevier, in der alten K. u. k-Festungsstadt Przemyśl, demonstriert dagegen ein mutiger Oberleutnant, was möglich gewesen wäre, wenn die Armee nur gewollt hätte: Als die SS am 26. Juli 1941 erneut Juden deportieren will, lässt Ortskommandant Alfred Battel seine Soldaten die Brücken zur Stadt besetzen und Maschinengewehre in Anschlag bringen. Ein einmaliger Fall, in dem die Wehrmacht Himmlers Häscher unter Androhung von Waffengewalt vertreibt, offiziell zum Schutz der für die Armee arbeitenden Juden. Battel wird dafür 1982, freilich postum, dieselbe Auszeichnung als »Gerechter unter den Völkern« erhalten wie Berthold und Else Beitz.
In Boryslaw dagegen protestiert der Wehrmachtskommandant halbherzig und unentschlossen gegen eine Einmischung von SS und Gestapo in seinen Kompetenzbereich. Ohne Erfolg, denn die Mordmaschinerie läuft an. Der Essener Staatsanwalt und Publizist Bernd Schmalhausen hat 1991 die Berichte dokumentiert, die SS-Hauptscharführer Felix Landau als Chef des »jüdischen Arbeitseinsatzes« bei der Sicherheitspolizei niedergeschrieben hat. Bei der ersten Verhaftungswelle Ende Juli 1941 trifft es vor allem bekannte Boryslawer Juden, außerdem »Intelligenzler« und wahllos herausgegriffene Opfer. »Wir suchen«, schreibt Landau, »nach einem geeigneten Ort zum Erschießen und Vergraben. Nach wenigen Minuten haben wir so etwas gefunden. Die Todeskandidaten treten mit Schaufeln an, um ihr eigenes Grab zu graben. Zwei weinen von allen. Die anderen haben erstaunlichen Mut. Was wohl jetzt in diesem Augenblicke in den Gehirnen vorgehen mag … Eigentümlich, in mir rührt sich gar nichts. Kein Mitleid, nichts. Es ist eben so, und damit ist alles erledigt.« Zwei Opfer sterben nicht gleich, »sie heulen und winseln noch lange. Die Revolverschüsse taugen nichts.«
Registrierung, Zwangsarbeit, Ausplünderung, Ghettoisierung, schließlich Massenmord: Unbarmherzig steigern die Besatzer den Terror gegen die Juden, eine ständige Eskalation, welche die Opfer in Atem hält. Im März 1942 werden die ersten Boryslawer Juden in eine Art Ghetto getrieben, das allerdings in der weitläufigen, von Ölanlagen durchzogenen Stadt noch kein abgesperrter Bezirk ist. Die Lebensmittelrationen sind minimal, Zwangsarbeiten für Juden verpflichtend. Sie leben nun in Angst, am helllichten Tag fortgebracht und erschossen zu werden. Ein »Judenrat« muss Arbeitskräfte stellen und die Wertsachen der Juden abliefern; er spielt in Boryslaw eine so tragische Rolle wie überall anders auch, will retten, was nicht zu retten ist; doch wer kann das vorher wissen?
Der junge Öldirektor Beitz hat die Schreckensbilder aus der Panskastraße nicht vergessen. Sehr bald muss er nun erfahren, dass dies nur der Anfang war und nicht die Ausnahme. Er beschließt, seine Arbeiter vor den Greiftrupps der Verfolger zu schützen – durch einen Trick, der mancherorts in der Rüstungsindustrie und nun auch bei der Karpathen-Öl benutzt wird: Beitz richtet ein eigenes Firmenlager ein, dort leben die Juden mit ihren Angehörigen in relativer Sicherheit. Ihm gelingt sogar das Kunststück, das Lager gelegentlich von der Polizei bewachen zu lassen, damit nicht die Ukrainer oder andere Einheiten eindringen: Jede Aktion gegen die Juden der Boryslawer Ölindustrie, so sein stets wiederholtes Argument, bringe die Produktion ins Stocken und gefährde die Treibstoffversorgung der Wehrmacht.
So wird das Lager »Mraschnitza« zu einer Fluchtinsel. In dem weitläufigen Häuser- und Fabrikkomplex leben mehr als 1400 Juden, dazu viele Angehörige und Menschen, die sich hier verbergen. Bekannt ist das »Weiße Haus«, wie die Arbeiter sagen, drei Wohngebäude, in denen Beitz Fachkräfte mit ihren Frauen und Kindern unterbringt. Außer den Ölarbeitern sind noch weitere Juden in der »Mraschnitza«, die zu den »Arbeitskommandos« namens »Städtische Werkstätten« und »Sägewerk« gehören. Letzteres untersteht nicht der Ölgesellschaft, sondern dem deutschen Privatunternehmer Lackner, der seine etwa hundert Leute ebenfalls gut behandelt und vor der SS zu bewahren versucht. Der Buchhalter Jozef Hirsch aus Beitz’ Büro erinnert sich später: »Er [Berthold Beitz; J. K.] sorgte fuer die Juden im Lager mit Verpflegung und besonders gruendete er ein spezielles Heim … das ›weiße Haus‹. In diesem Hause wohnten Familien mit Kindern … Die Lagerinsassen fanden in Beitz den Schuetzer und wandten sich an ihn mit saemtlichen Bitten, welchen er nachgekommen ist. Wenn irgendein Familienmitglied von der Gestapo geschnappt wurde, bemuehte sich Beitz immer, den freizubekommen.«
Die Brutalität der Deutschen weckt von Beginn an die schlimmsten Befürchtungen. Immer wieder werden Geiseln, »Arbeitsverweigerer« und zufällige Opfer erschossen. Jurek Rotenberg, Sohn der Pianistin Anna, sieht eine Welt aus Bösartigkeit und Gewalt. Der Junge läuft ohne die vorgeschriebene Armbinde mit dem gelben Stern durch die Straßen, aus Trotz, aber auch im Vertrauen darauf, dass ihn sein »arisches« Aussehen schützen werde. Doch polnische und ukrainische Kinder erkennen ihn. Nur wenige Wochen zuvor haben sie neben ihm in der Schule gesessen, jetzt umringen sie ihn, stoßen ihn, zeigen mit dem Finger auf ihn und schreien »Jude! Jude! Jude!«. Wie Schakale kommen sie ihm vor, von einem Hass getrieben, der ihm völlig rätselhaft ist. Doch er hat Glück. Ausgerechnet ein Soldat aus der berüchtigten Reiterstaffel der deutschen Ordnungspolizei kommt vorbei und jagt die Horde mit Fußtritten davon. Er gibt Jurek eine Ohrfeige und sagt: »Verschwinde!«
Aber solches Glück, aus einer Laune der Herrenmenschen erwachsen, ist rar in Boryslaw. Schon 1941 müssen Mutter und Sohn Rotenberg ihre Wohnung verlassen. Immerhin hat Anna eine polnische Freundin, Michalina Krystyna Tympalska. Und da ist Krystynas engste Vertraute, Danuta Bohosiewicz, eine Sängerin, mit der Anna oft musiziert hat und die ihr nun hilft, wo sie kann. Jureks Vater war die rechte Hand von Krystynas Vater im Ölgeschäft, bei der Firma »Petrolea«. Sie lebt in einem großen Haus am Stadtrand, wo ein leitender Angestellter der Karpathen-Öl, ein Mann deutscher Abkunft namens Theodorowicz, mit seiner alten Wiener Tante wohnt. Dort bringt Krystyna Tympalska, mit Wissen des Hausbesitzers, die beiden unter; sie beziehen ein kleines, von den anderen Wohnräumen abgetrenntes Zimmer. Krystyna und Danuta nehmen niemals Geld für ihre Hilfe.
Dem Jungen erscheint es, als seien die beiden Frauen weibliche Ausgaben von Dr. Jekyll und Mr Hyde: Helfer am Tage, scheinbare Freunde der Besatzer bei Nacht. Das Haus der Tympalska wird nämlich bald zum Treffpunkt deutscher Offiziere, leider auch solcher aus SS, Gestapo und Schutzpolizei. Die jungen Damen singen für die Besatzer, die dann schnaps- und heimwehselig einfallen: »Wien, Wien, nur du allein, sollst stets die Stadt meiner Träume sein; dort, wo die alten Häuser stehn, da, wo die schönen Mädchen gehn …« Zu Danutas Bewunderern gehört Fritz Dengg, den Jurek eines Abends bei ihr sieht, ein großer, hochgewachsener Mann in tadellos sitzender Uniform und blankgeputzten Schuhen, der die Sängerin an jenem Abend mit glitzernden Augen mustert. Dengg, Offizier der Gestapo aus Drohobycz, ist auch mit Beitz bekannt und hält Kontakte zur Karpathen-Öl. »Dengg war in sie verliebt«, sagt Rotenberg heute. Als Krystyna und Danuta wieder einen Liederabend geben und Anna Rotenberg am Klavier spielt, serviert Jurek Getränke, ein junger Jude mitten im Kreis der Mörder, was diese natürlich nicht wissen. Die beiden Frauen haben gehofft, so jeden Verdacht zerstreuen zu können. Doch es soll nicht sein.
Vor- und Rückseite eines »R«-Abzeichens. Das »R« stand für »Rüstungsarbeiter« bzw. »Raffineriearbeiter«.
»Wer ist eigentlich die Klavierspielerin?«, fragt Dengg plötzlich. Nur eine Freundin, versichert Krystyna, die auf diese Wendung der Dinge nicht gefasst ist. Jüdin? Nein, nein, versichert die Polin, doch der Untersturmführer lässt nicht locker, vielleicht will er die Gastgeberin durch seine Macht beeindrucken: »Sie hat so jüdische Augen. Und wer ist der Bursche da?« Danuta fällt lachend ein: »Aber das sind doch Armenier, keine Juden!« Dengg zögert. Die Wiener Tante aus Danutas Haus rettet die Lage. Sie verwickelt den Deutschen in ein Gespräch, und Danuta flüstert Anna Rotenberg zu: »Verschwindet, schnell.« Mutter und Sohn huschen aus dem Haus. Danach müssen sie vorsichtiger sein. Bei einem weiteren Besuch öffnen sie die Tür, es ist dunkel, da leuchtet die Glut einer Zigarette auf, und Jurek sieht im Schatten die Umrisse von Soldaten. Einer ruft: »Wer ist da?« Da seien sie, erinnert sich Jurek Rotenberg heute, »wie gehetzte Tiere durch die Felder davongelaufen«.
Am Ende ist es Beitz, der die Rotenbergs rettet – ohne sie überhaupt zu kennen. Gustaw Russ, ein bei der Karpathen-Öl beschäftigter jüdischer Fotograf und Dolmetscher, will sich für sie einsetzen, unterstützt von einem weiteren polnischen Karpathen-Mitarbeiter. Die beiden versprechen, den Direktor um Arbeitserlaubnisse für sie zu bitten, der einzige Weg zu überleben. Und tatsächlich, nach wenigen Tagen bekommen sie die nötigen Kennzeichen und Dokumente. Selbst Jurek, eigentlich noch ein Kind, hat nun, 1942, einen Wimpel aus hartem Fahnentuch, mit einem aufgedruckten Reichsadler und einem »R« versehen. In Verbindung mit dem ebenfalls gelieferten Arbeitsausweis gilt der Junge nun als »Rüstungsarbeiter«, beschäftigt in der kriegswichtigen Industrie.
Wer keine solche Beschäftigung nachweisen kann, der ist gezwungen, sich zu verstecken – in einer so kleinen Stadt mit so vielen potenziellen Denunzianten ein äußerst gefährliches, oft unmögliches Unterfangen. Juden, die zu Hause bleiben, müssen damit rechnen, dass jederzeit ein SS-Kommando oder eine Horde ukrainischer Handlanger auftaucht und sie in den Wald von Bronica oder zu einer anderen Hinrichtungsstätte mitnimmt. Sonst bleibt nur der Fluchtweg durch Wälder und Berge zur fünfzig Kilometer entfernten ungarischen Grenze. Das Land ist zwar mit den Deutschen verbündet, beteiligt sich aber bis zum faschistischen Putsch 1944 nicht an der Judenverfolgung. Doch dieser Weg ist wegen der vielen deutschen Patrouillen riskant; und oft schicken Ungarns Grenzer jüdische Flüchtlinge umgehend zurück.
Der damals 13-jährige Salek Linhard, Sohn des Kürschnermeisters Jitzhak Linhard, erinnert sich: »Wir lebten zu acht mit Verwandten in unserer winzigen Wohnung. Wir hatten kein Geld mehr, konnten nichts zu essen kaufen und wagten uns nicht auf die Straße. Und wir wussten nicht, wie es weitergehen sollte. Es war grauenvoll, und wir sahen keine Zukunft mehr.« Die Wehrmacht stößt im Spätherbst 1941 bereits auf das über 1000 Kilometer entfernte Moskau vor; im Oktober 1941 schreit Hitler vor einer entfesselten Menge im Berliner Sportpalast: »Dieser Gegner ist bereits gebrochen!« Das erfahren die Linhards nur bruchstückhaft, aber sicher erscheint ihnen eines: »Die Deutschen wirkten in diesem Krieg unbesiegbar, und nirgends sahen wir eine Hoffnung.«
Außer eben, vielleicht, durch die Arbeit in der Industrie in Boryslaw, also überwiegend den Ölbetrieben. Zwar hat die SS anfangs die »Entjudung« der Belegschaft angeordnet, doch lässt sich das, angesichts der großen Zahl jüdischer Facharbeiter, nicht aufrechterhalten. In der Karpathen-Öl AG ist jeder fünfte Beschäftigte jüdisch.
Hat die Besatzungsverwaltung anfangs die sofortige Entlassung aller jüdischen Arbeitskräfte angeordnet, so darf auch die Karpathen-Öl ab Oktober wieder Juden beschäftigen. Was Beitz von Beginn an von sehr vielen anderen Rüstungsdirektoren im Generalgouvernement unterscheidet, ist seine Haltung gegenüber diesen Arbeitern. Anderswo sind sie Produktionssklaven, die man vorläufig noch braucht und vielleicht ebendeshalb vor der SS bewahren will. Bei Beitz ist das anders: Er stellt sofort wieder Juden ein, in wachsender Zahl, er begegnet ihnen freundlich und sieht zu, dass sie ausreichend versorgt werden.
So kommt in dieser Zeit der 14-jährige Arthur Birman, der Zwangsarbeit bei einem Fliesenleger zu leisten hat, zum Abdichten des Bades in Beitz’ Haus. »Als ich mit der Binde am Oberarm in die Wohnung kam«, erinnerte er sich später, »wurde ich sogleich zum Frühstück an den Tisch eingeladen« – von Else Beitz. Er geniert sich, isst dann aber doch etwas und bittet die Frau des Direktors, ob er seiner Mutter etwas von dem Frühstück mitbringen dürfe. »Sie packte mir einen Laib Brot, Honig und ein Stück Wurst ein und händigte es mit den Worten aus: ›Das ist für Ihre Mutter. Sie sind ein braver Junge, denn Sie sorgen für Ihre Mutter.‹«
Solche Gesten lassen das Haus des Paares bald »wie eine Insel der Menschlichkeit« erscheinen, so empfindet es Salek Linhard. Obwohl die Details im Rückblick von fast siebzig Jahren nicht mehr ganz zu klären sind, lässt das Ehepaar Beitz 1941/42 Vater und Sohn Linhard eine Weile bei sich im Haus arbeiten. Nach Salek Linhards Erinnerung waren sie dabei in einem kleinen Raum unterhalb der Wohnung beschäftigt, unter anderem fertigten sie Pelze aus der früheren väterlichen Kürschnerei. Jitzhak Linhard ist es nämlich beim Einmarsch der Roten Armee 1939 gelungen, einen Teil seiner Pelze bei einem polnischen Freund zu verstecken, da er fürchtete, dass die Russen deren Besitz mit einer Reise nach Sibirien vergolten hätten. Nun hat er also das Rohmaterial, das er zu Hause, in engsten Räumlichkeiten und unter ständiger Entdeckungsgefahr, nicht bearbeiten kann. Die Gestapo hätte die Felle sofort beschlagnahmt und ihren Besitzer erschossen, da er sie nicht befehlsgemäß abgeliefert hatte. Es scheint, als habe Berthold Beitz Linhard so etwas wie einen sicheren Arbeitsraum geboten, ohne aber selbst mit dessen Geschäften etwas zu tun zu haben. Jitzhak Linhard verkauft die Pelze auf eigene Rechnung auf dem regen Schwarzmarkt von Boryslaw und ernährt damit seine Familie und deren Verwandte, die sonst verhungern müssten. Fast alle Juden müssen auf ähnliche Weise versuchen, sich mit dem nötigen Essen zu versorgen.
Da er fließend Deutsch spricht, entsteht bald ein freundlicher Gedankenaustausch mit dem Direktor: »Beitz schätzte es, wenn er nach der Arbeit in seine Wohnung zurückkehrte, lange mit meinem Vater zu sitzen und sich mit ihm in herzlichem Ton über verschiedene Themen zu unterhalten. Politische Themen wurden dabei nicht ausgeschlossen. Von meiner Seite aus kann ich ruhigen Gewissens schließen, daß Beitz einer der tadellosesten von mir je angetroffenen Menschen war.«
Er unterstützt die Linhards auch später, als sie nicht mehr in seinem Haus sind. »Von da an«, berichtet Salek Linhard heute, »kam jeden Tag bei Dunkelheit die Pferdekutsche des Direktors zu uns nach Hause. Sie brachte Getreide, Brot, Zucker, Öl, Margarine, Brot. Wir haben versteckt, was wir nicht gleich brauchten, und anderen davon abgegeben – es war genug. Beitz hat meinen Vater mehrmals gefragt: ›Braucht ihr noch mehr?‹ Und er hat uns, sagte Vater, mehr gegeben als wir ihm.« Es scheint ihm daher noch heute, als sei »die Familie Beitz von einem anderen Planeten gekommen, einem ganz anderen als die übrigen Deutschen«.
Bis zum August 1942 beschäftigt Beitz im Ölbetrieb eine wachsende Zahl jüdischer Facharbeiter, die er meist persönlich kennt und höflich behandelt. Darüber hinaus versucht er, wie die Beispiele von Arthur Birman und den Linhards zeigen, anderen Boryslawer Juden gezielt zu helfen. Manche kommen voller Misstrauen zu ihm, wie der 39-jährige Buchhalter Jozef Hirsch, der dann zu einem seiner engsten Mitarbeiter wird und sogar eigenständig weitere Juden unter dem schützenden Dach der Ölgesellschaft einstellen darf.
Unter den Deutschen von Boryslaw hat Beitz kaum wirkliche Vertraute. Der zweite Direktor neben Beitz, der technische Leiter der Boryslawer Bezirksinspektion, ist Erich Radecke, eine dubiose Figur. Er stellt sich zwar nicht offen gegen den Kollegen, und nach dem Krieg werden einzelne Überlebende ihn in Briefen an Beitz in ihren Dank mit einbeziehen – offensichtlich, weil er die von Beitz Geretteten gelegentlich und auf dessen Wunsch mit Lebensmitteln versorgt hat. Andererseits ist Radeckes Abteilung von Nazis durchsetzt, er selbst ein Freund von Polizeichef Wüpper; aus Radeckes Büro wird Beitz später bei der Gestapo angezeigt. Jurek Rotenberg, der als Arbeiter den technischen Direktor kennenlernt, empfindet dessen Haltung als judenfeindlich und »nicht vertrauenswürdig«.
Weit vertrauter ist Beitz eine alte Freundin seiner Frau aus Hamburger Tagen, die aus dem schottischen Edinburgh stammende Evelyn Döring, die er 1942 eigens als Sekretärin nach Boryslaw holt. Ihr ging es wegen einer unglücklichen Liebe nicht gut, und 1941 ist ihr Bruder als Seemann mit dem Schlachtschiff Bismarck untergegangen. So folgt sie in dieser Lebenskrise dem Ruf ihres alten Freundes ins Generalgouvernement. Selbstbewusst, mit ihrer Neigung, bei abendlichen Runden raue Seemannslieder anzustimmen, ein wenig exzentrisch und mit flammend roten Haaren, ist sie bei der Karpathen-Öl eine auffallende Erscheinung; Beitz kann ihr vertrauen. Und sie zeigt Courage, als sie Else und Berthold Beitz aktiv unterstützt: »Wir waren jung, mutig und hilfsbereit.« Wie das Ehepaar ist auch dessen Freundin entsetzt über das, was sie in Boryslaw erleben muss, »wo von Abknallen, Umbringen, Traktieren, KZ-Aktionen … Vergasung leichthin die Rede war«. Oft erfährt Beitz von bevorstehenden Aktionen der SS – es gibt über die eigenen Arbeiter und die deutschen Besatzer viele Kanäle für Informationen; dann warnt er Juden und Polen rechtzeitig, und Teil seines »Warndienstes« ist die verlässliche Sekretärin, die tief beeindruckt ist von ihrem jungen Chef: »Sein Gerechtigkeitsgefühl auch den Polen gegenüber machte ihn auch für diese unglücklichen Menschen zu einer Art Halbgott; in seiner Nähe fühlten sie sich sicher.« Und immerhin, wie die Sekretärin feststellt, hat der dynamische, mit den Mitarbeitern gern scherzende Direktor auch bei den deutschen Angestellten »treue Anhänger«, die sich den Juden gegenüber zumindest korrekt verhalten. Manchmal tun sie sogar noch etwas mehr. Der Prokurist Fritz Blank legt später etwa ein Versteck für die jüdische Familie Klinghoffer auf dem Dach des Verwaltungsgebäudes an, sein Kollege Elmar Precht hilft Evelyn Döring und Beitz, ein jüdisches Kind im Büro zu verbergen. Beitz’ jüdische Mitarbeiterin Hilde Berger bescheinigt daher auch Precht eine »anständige Haltung«.
Berger spricht fließend Polnisch und sitzt in der Boryslawer Karpathen-Verwaltung gleich neben Evelyn Döring. Die junge Jüdin stammt aus der Reichshauptstadt, und Evelyn Döring erscheint sie »als fesche Berlinerin, die unglücklicherweise in Boryslaw – am Ende der Welt – landete, nur weil sie weit zurück mal polnische Vorfahren hatte«. Hilde Berger ist als Kreuzberger Trotzkistin nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in den Untergrund gegangen, 1936 aber von der Gestapo geschnappt worden. Sie sitzt drei Jahre in Haft, versäumt eine einmalige Gelegenheit zur Ausreise nach London und wird dann nach Polen zu ihrer Familie abgeschoben. Mit der Kollegin spricht sie manchmal, wie in längst vergangenen glücklichen Berliner Jahren, über Kunst und Literatur. Einmal weint Hilde Berger hemmungslos über all das Grauen, das sie um sich herum erlebt und das ihr selbst gewiss wäre, hätte Beitz sie nicht zu seiner Sekretärin gemacht.
Und dann ist da Emil Peter Ehrlich, ein echter Agent und getaufter Jude. Den jungen Ökonomen hat der nationalpolnische Widerstand ins Erdölgebiet geschmuggelt. Beitz stellt ihn als Leiter des Rechtsbüros ein, und Ehrlich wird neben dem Buchhalter Jozef Hirsch sein engster Mitarbeiter. Über Ehrlichs Verbindungen zum Untergrund weiß Beitz zunächst nichts – aber das wird sich bald ändern.
DIE ERSTE AKTION: AUGUST 1942
Krankheiten, Hunger, Tod: Für Boryslaws Juden scheint es zu Beginn des Jahres 1942, als könne es nicht mehr schlimmer werden. Etwa 3000 von ihnen sind bereits tot, die übrigen vegetieren unter schrecklichen Umständen dahin. Doch auf der Wannseekonferenz in Berlin, wo alle beteiligten Stellen den Ablauf des Massenmordes planen, besprechen die Verfolger schon den nächsten Schritt: Der Osten soll endgültig »judenfrei« werden. Wer nicht als Folge der Zwangsarbeit »durch natürliche Verminderung« ausfalle, so Reinhard Heydrich, der Chef des Reichssicherheitshauptamtes, müsse anschließend »entsprechend behandelt werden«. Spätestens hier ist es offen ausgesprochen: Kein Jude soll übrig bleiben.
Im Juli 1942 läuft die »Aktion Reinhard« an, in Galizien dirigiert von den SS-Führern Odilo Globocnik und Friedrich Katzmann. Wer als Jude nicht zur Zwangsarbeit taugt, soll »liquidiert« werden, auch wenn die offiziellen Aufträge dies noch verschleiern. Schon im März 1942 hat der Judenrat von Drohobycz 1500 Menschen für den Abtransport auswählen müssen. Die Opfer wurden in Viehwaggons verladen,verhöhnt von betrunkenen Schutzpolizisten. Im nahen Boryslaw sorgen die Berichte von Augenzeugen aus der Nachbarstadt für blankes Entsetzen. Wohin die Züge gefahren sind, nämlich ins Vernichtungslager Belzec, wissen freilich erst wenige. Auch Beitz ist »der Meinung, die Menschen würden ausgesiedelt, und ich habe nicht damit gerechnet, daß ihre totale Liquidierung erfolgte«.
Der große Schlag trifft Boryslaws Juden im Sommer 1942. Am Abend des 6. August fallen SS-Einheiten, Schutzpolizisten und ihre ukrainischen Schergen in der Stadt ein und gehen auf Menschenjagd. Es kommt zu grauenvollen Szenen. Die Deutschen brechen Türen auf, suchen in Kellern und auf Böden nach Verstecken; sie erschießen Alte, die nicht gehen können, auf der Stelle und werfen die Säuglinge des jüdischen Waisenhauses aus den Fenstern. Größere Kinder werden barfuß und unter Prügeln zum Bahnhof getrieben. Dort warten die Viehwaggons für die Fahrt in den Tod.
Jurek Rotenberg sieht das alles von seinem Versteck auf Danutas Dachboden aus. Er will wegschauen, aber die Mutter lässt ihn nicht: »Schau hin, damit du weißt, was sie getan haben!« Atemlos starrt der Junge durch das kleine Fenster, er hat freien Blick, das Haus liegt, leicht erhöht, dem Bahnhof genau gegenüber. Ukrainer und SS-Leute treiben Dutzende, dann Hunderte Juden zusammen. Manche sind gut angezogen, als hätten sie sich für eine Reise angekleidet, sie tragen Gepäck. Andere gehen in Lumpen. Die Kinder aus dem Waisenhaus haben nur Nachthemden an und keine Schuhe. Da fährt ein Wagen vor, und ein Mann steigt aus, den Jurek noch nie gesehen hat. Er trägt Hut und Mantel und geht mitten hinein in das Chaos auf dem Bahnsteig. Bewaffnete SS-Leute treten ihm in den Weg, umringen ihn. Ihr Anführer, ein Offizier, fuchtelt mit den Armen und brüllt auf den Fremden ein, wie sich Jurek Rotenberg erinnert: »Aber er ist ganz ruhig geblieben, wie ein Gentleman unter diesen schrecklichen Männern. Er zeigte auf die Waggons und ging einfach durch auf den Bahnsteig.« Dort verschwindet er aus Rotenbergs Blickfeld. Was macht er bloß, fragen sich der Junge und seine Mutter. Haben sie ihn jetzt erschossen? Aber nach einer Weile kommt der Mann zurück, hinter ihm eine ganze Reihe von Juden aus den Bahnwaggons. Neben seinem Wagen sind einige Laster aufgefahren, die Menschen steigen ein, und die Kolonne entfernt sich.
Der Mann ist Berthold Beitz. Er hat eigentlich auf eine Dienstreise fahren wollen, aber sein jüdischer Buchhalter und leitender Angestellter Jozef Hirsch, der Böses ahnt, beschwört ihn zu bleiben: »Besorgt ging er [Hirsch; J. K.] mit dieser Nachricht zu Herrn Beitz und bat ihn, von der Reise Abstand zu nehmen. Herr Beitz verzichtete auf die Reise und blieb in der Stadt. In der Nacht kam die große Aktion.«
Schüsse, Gebrüll und Schreie der »Aktion« sind bis aufs Betriebsgelände zu hören. Beitz untersagt den jüdischen Angestellten, die noch im Haus sind, das Gelände der Karpathen-Öl zu verlassen. Für andere ist es zu spät. Sie werden zu Hause oder auf der Straße geschnappt und zum Bahnhof getrieben, teils mit Hilfe deutscher Werksangehöriger. Beitz eilt in die Stadt und wird eine Weile bei der Polizei festgehalten, ehe er schließlich mit dem Wagen zum Bahnhof fährt. Und beim Anblick der Kinder, so erklärt er später Thomas Sandkühler, weiß er, dass das Ziel dieser Aktion nur der Mord an all diesen Menschen sein kann:
Ich sah die Kinder mit den gestreiften Schlafanzügen unter dieser Lampe. Dann kamen die anderen, die sie überall hergeholt hatten, dann wurde abgezählt in die Waggons … In welcher Ergebenheit und Demut die dastanden und sich nicht wehrten und wegliefen, immer in der Hoffnung, daß sie doch noch gerettet würden oder irgendwo hinkämen, wo sie überleben würden … [Sie] galten eigentlich gar nichts, die waren Nummer, Ware oder so etwas. Die Polizei da, mit welcher Gleichgültigkeit und Brutalität die die Menschen behandelt haben.
Beitz drängt sich, wie Rotenberg durch sein Dachfenster beobachtet hat, durch die Posten der SS und an einem schreienden Offizier vorbei bis auf den Bahnsteig. Er hört Weinen und Hilferufe aus den Waggons, das Gebrüll der SS-Männer und Polizisten, das Bellen der scharfen Hunde. Noch immer hallen Schüsse, als die Häscher einzelne Juden am Bahnhof erschießen. Beitz läuft an den Waggons entlang und ruft Namen, die er kennt. Er ruft, so laut er kann. Arbeiter der Karpathen-Öl sollen sich melden. Eine vielstimmige Menge schreit zurück: »Herr Direktor, nehmen Sie mich!« – »Ich arbeite bei Ihnen!« Er zieht so viele Menschen heraus, wie er kann, und keineswegs nur seine Leute. So deutet er auf den 21-jährigen Boryslawer Juden Zygmunt Spiegler: Auch der gehöre zu ihm. Spiegler selbst hat Beitz noch nie gesehen, es erscheint ihm, als ob »ein Engel plötzlich in die Hölle kam«. Und er berichtet später, dass Beitz viele Menschen nach ihren Berufen fragt: »Die Antwort schien ihm allerdings ziemlich gleichgültig zu sein, denn er rief auch solche Personen heraus, die als Beruf ›Friseur‹ oder ›Gärtner‹ angaben.« Die SS-Leute geben oft nach, überrascht und überfordert.
Gleichwohl vermag Beitz nicht jedem zu helfen. So kann er die Mutter jener Sekretärin mit den braunen, traurigen Augen nicht retten, über deren Schicksal er fast fünfzig Jahre später bei der Ehrung in Yad Vashem weinen wird. »Ist es erlaubt, Herr Direktor, dann gehe ich auch zurück«, sagt die junge Frau, sie sieht ihn an und steigt wieder in den Waggon, in den ihre Mutter zurückgehen musste. Ein SS-Mann hat sie nicht gehen lassen, weil er nicht glaubte, dass die alte Frau in der Ölindustrie arbeiten könne: »Die geht wieder zurück. Die andere können Sie haben, die schenke ich Ihnen.« Diese Tragödie ist eine Schlüsselszene für Berthold Beitz, für Macht und Ohnmacht, die er in Boryslaw oft im selben Moment spürt. Sie lässt ihn niemals mehr los, er wird sie in späteren Jahren immer wieder erzählen, wie in Jerusalem 1990. Er allein und niemand sonst hätte 1942 am Bahnhof von Boryslaw die Macht und die Kraft, die junge Frau zu retten, aber für ihre Mutter und viele andere kann er nichts tun; bei ihr funktioniert die Legende der Unabkömmlichkeit nicht, mit der er seine Rettungsaktionen oft so erfolgreich tarnt.
Viele Menschen bewahrt er an diesem Tag vor der Fahrt in den Tod, viele der Karpathen-Arbeiter und Angehörige, manche Beschäftigte, deren Familie dennoch nach Belzec transportiert wird, und nicht wenige Juden, die mit seiner Firma gar nichts zu tun haben. Zu den Geretteten gehört Oskar Bander, der als Buchhalter bei der Karpathen-Öl beschäftigt ist – seine Frau arbeitet dort in der Werksküche – und der nach dem Einmarsch der Deutschen im Vorjahr den einquartierten Kommandanten zornig gefragt hatte: »Wollt ihr uns alle erschießen?« Jetzt weiß er die Antwort. Beitz holt ihn aus dem Zug. Aber das Schicksal trifft die Familie dennoch hart an diesem Tag.
Der ältere Sohn Karol hat sich, als die »akcja«, wie die Polen sagen, durch die Straßen tobt, ganz oben in einem der großen hölzernen Fördertürme verborgen, die das Stadtbild dominieren. Ein Freund ruft ihn, der Vater suche ihn, er solle besser zur Karpathen-Öl kommen. Aber als Karol die Stiegen herabsteigt, ist er kurz an einem kleinen Fenster zu sehen, und genau in diesem Moment schaut ein ukrainischer Polizist hoch. Als der Junge unten ist, warten die Menschenfänger schon und bringen ihn zum Bahnhof. Karol hat keinen rettenden Arbeitsausweis. Und der Vater wird Janek, dem jüngeren Sohn, später immer wieder erzählen, dass Berthold Beitz den großen Bruder trotzdem aus dem Waggon holen wollte, aber SS-Männer hätten es nicht erlaubt: »Der ist jung, den nehmen wir mit zur Arbeit!«
Janek und seine Mutter haben für ein Versteck bezahlt und klettern in den großen Kleiderschrank bei einer Ukrainerin. Der Jüngere hört Poltern an der Haustür, dann die rauen Stimmen der Milizionäre: »Juden! Sind hier Juden?« Was wird die Frau jetzt tun?, fragt sich Janek, außer sich vor Angst. Aber die sagt geistesgegenwärtig: »Bei uns? Was denkt ihr denn? Wir sind doch alle Ukrainer! Wir hassen die Juden.« Die Männer rücken ab. So überlebt Janek Bander die August-»Aktion«. Doch sein geliebter Bruder Karol fährt für immer davon. Er wird in Janowska ermordet.
Wie Vater Bander verdanken auch die beiden Linhards, die eine Zeitlang in Beitz’ Haus gearbeitet haben, dem Direktor in diesen mörderischen Hochsommertagen das Leben. Als die SS und ihre Helfer die Opfer durch die Gassen der Ölstadt treiben, sucht Salek, wie er es heute schildert, seinen Vater. Er ist nirgends zu finden. Es ist der Morgen des 7. August. Der Junge schleicht zu Beitz’ Haus und trifft auf die Frau des Direktors, die kleine Barbara auf dem Arm. Sie steht in der Tür und mustert ihn besorgt. »Ist mein Vater hier?« – »Nein«, antwortet Else Beitz, »aber komm jetzt lieber herein.« Sie versucht den verwirrten Jungen, sobald sie ihn in der Sicherheit des Hauses weiß, zu beruhigen: »Möchtest du vielleicht etwas Frühstück?«
Aber Salek hält es nicht aus. Er schleicht sich zurück auf die Straße und sucht weiter, immer im Schatten von Häusern, Werksanlagen, Höfen. Er hört das Hohngelächter der Soldaten, das Schluchzen der Frauen, das Weinen der Kinder; auf der Straße sieht er Blutlachen, aufgerissene Koffer, einen Toten mit klaffender Einschusswunde am Hinterkopf. Als es dunkelt, hat er es bis in die Nähe des Bahnhofs geschafft, ohne erwischt zu werden. Er versteckt sich jenseits der Gleise und beobachtet die Umgebung. Direkt vor ihm ragt eine Werkshalle hoch in die Nacht, und immer wieder treiben die Deutschen und Ukrainer neue Gruppen von Menschen hinein: eine Sammelstelle für die Deportation. Wenn ich eine Chance habe, ihn zu finden, dann hier, denkt Salek. Er nähert sich vorsichtig. Irgendwo muss doch ein Fenster sein, ein Spalt in der Mauer, eine Seitentür. Aber da ist nichts, nur eine Wand aus kaltem, hartem Beton.
Stundenlang harrt er aus, bis er das Getrappel von Pferdehufen hört. Ein Fuhrwagen ist vorgefahren. Es riecht nach frischem Brot, offensichtlich für die Gefangenen im Hangar. Salek bereut längst, dass er bei Frau Beitz nichts gegessen hat. Vor Hunger wird der Junge unvorsichtig. Neben der Karre steht ein Mann vom jüdischen Ordnungsdienst, den er kennt. Er nähert sich dem Wagen und fragt den Hilfspolizisten flüsternd: »Kannst du mir bitte eines der Brote geben? Und weißt du etwas über meinen Vater?« Plötzlich wird er gepackt, er hat eine Sekunde nicht aufgepasst. Ein Deutscher hält ihm ein Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett vors Gesicht: »Was willst du hier? Ab mit dir!«
So kommt er doch noch in den Hangar, aber nicht als Befreier des Vaters, wie er es sich in seiner Phantasie ausgemalt hat. Dutzende Männer drängen sich am Eingang, keiner sagt ein Wort. »Sie standen innen am Tor und warteten, worauf auch immer«, erinnert sich Salek Linhard. Es ist dunkel dort drinnen, es herrscht fürchterliche Enge, die Luft ist zum Schneiden. Einige liegen bewusstlos auf dem Boden, es gibt Tote, deren Herz oder Kreislauf den klaustrophobischen Kerker nicht ausgehalten haben. Der Boden starrt vor Dreck. Salek fragt sich durch: »Wo ist mein Vater?« – »Habt ihr Jitzhak Linhard gesehen?« Und schließlich, in einer Ecke am Ende der Halle, findet er ihn tatsächlich. Sein Vater ist verzweifelt. Er schämt sich, weil seine Frau nun allein im Lager der Arbeiter zurückbleibt, weil der Sohn sich für ihn in Gefahr begeben musste. Und Jitzhak Linhard ist sich sicher, dass sie beide umkommen werden.
Da hört Salek von draußen Motorengeräusche und laute Stimmen. Das Tor wird wieder aufgerissen, jemand brüllt: »Alle Ölarbeiter rauskommen!« Es ist einer der SS-Leute. Es gibt Tumulte am Eingang, ukrainische Milizionäre schlagen brutal mit Gewehrkolben auf die Juden ein. Jitzhak Linhard ist ein großer Mann, er packt den Sohn und schiebt sich nach vorn. Im Gedränge wirft er seinen langen Mantel über sich und Salek und schließt sich dem Strom der Karpathen-Arbeiter an, so schmuggelt er ihn hinaus, vier Beine unter einem Umhang, an den nervösen, brüllenden Posten vorbei.
Als der Junge draußen wieder unter dem Mantel hervorkommt, sieht er Berthold Beitz, kaum dreißig Meter von ihm entfernt. Er diskutiert mit einem deutschen Offizier, der eine Armbinde mit Hakenkreuz trägt. Wortfetzen der Debatte sind zu verstehen: »Der ist auch bei mir!« – »Und der auch, den brauche ich dringend.« – »Und dieser hier steht auf der Liste …« Der Offizier ist laut Sandkühler SS-Obersturmführer Robert Gschwendtner, die rechte Hand des SS- und Polizeiführers im Distrikt Galizien, Friedrich Katzmann, der zentralen Figur des Mordapparates im Generalgouvernement. Mit Gschwendtner, der gern damit prahlt, dass er wieder eigenhändig »ein paar Juden erhängt« habe, streitet Beitz vor den Augen des Jungen um jedes einzelne Leben – und nun, da der Name Linhard aufgerufen wird, um das von Salek. »Wer ist denn der?«, bellt der Offizier. Beitz: »Der gehört auch zu mir.« – »Das geht nicht, er steht nicht auf der Liste.« Beitz gibt Widerworte, Gschwendtner studiert die Liste, unwillig blickt er auf die lange Reihe der anstehenden Juden. Jitzhak Linhard zieht den Sohn geistesgegenwärtig einfach mit in die Gruppe der Geretteten, Salek schaut zurück. Aber Gschwendtner ist längst von neuen Namen abgelenkt und kümmert sich nicht mehr um ihn. Salek zählt rund 220 Menschen, die Beitz aus der Halle geholt hat. Sie haben es geschafft, für dieses Mal.
Die beiden Linhards bringt Beitz kurzerhand bei sich daheim unter, denn noch läuft die »Aktion«. Seinem Fahrer sagt er: »Bring sie bitte in mein Haus.« Er selbst kehrt zurück an den Bahnhof. Salek erscheint die Rettung wie ein unwirkliches Märchen: Eben noch hat er dem Tod ins Angesicht gesehen, nun bekommen sie zu essen. Frau Beitz bringt ihnen Kopfkissen und Decken. Und vielleicht noch wichtiger, so empfindet es der Junge, ist das Mitgefühl, das sie ihnen entgegenbringt. Nach drei Tagen kommt Berthold Beitz zu ihnen, bleich und mit zerfurchtem Gesicht. »Sie sind weg«, sagt er, »die Aktion ist vorbei.«
Auch Anita Lauf hat die Aktion überstanden. Die Menschenjagd ist an dem Haus der Familie Lauf, das weit außerhalb der Stadt liegt, vorbeigegangen. Aber Anita vermisst ihre Tante, Lizzy Lockspeiser. Ihre Mutter Else arbeitet bei der Karpathen-Öl, und sie hat ihrer Schwägerin Lizzy, der Frau ihres Bruders Hermann, ebenfalls einen Job bei Beitz verschafft: »Dort bist du sicher.« Lizzy und Hermann sind 1938, nach dem »Anschluss«, aus Österreich nach Boryslaw gegangen. Doch Lizzy wird nun beim Firmengelände aufgegriffen und mit den anderen Juden zum Bahnhof getrieben. Offenbar helfen deutsche Beschäftigte der Ölgesellschaft der SS, indem sie Hinweise auf Juden geben. Ein Angestellter namens Pietz informiert wiederum Beitz, und wie andere Familienangehörige bittet auch Hermann Lockspeiser ihn, seine Frau herauszuholen. »Ich werde tun, was ich kann«, sagt Beitz.
Der Fall Lizzy Lockspeiser ist von besonderer Tragik. Ihr Name gehört zu jenen, die Beitz im Chaos auf dem Bahnsteig immer wieder laut ruft. Und es muss sich eine Frau gemeldet haben, die dann aus dem Waggon geholt wurde. Jedenfalls erinnert sich Anita Lauf, dass die Familie im Lauf des Tages eine Botschaft von Beitz erhielt: »Die Lockspeiser habe ich.« Die ungläubige Freude der Familie weicht dem erneuten Schock, als Lizzy nicht auftaucht. Sie war nicht die gerettete Frau. »Herr Beitz kannte Lizzy Lockspeiser ja nicht«, sagt Anita Lauf heute, »er trägt keine Schuld – schließlich hat er alles versucht, um sie zu retten.« Aber es soll nicht sein. Die Spur der Tante verliert sich im Vernichtungslager. Für die Nichte ist ihr Schicksal der Inbegriff der jüdischen Tragödie: Nur drei Jahre zuvor, im Frühling 1938, waren Lizzy und Hermann zu Besuch nach Wien gekommen, tief gebräunt vom Skiurlaub in Kitzbühel, glücklich und frisch verheiratet, junge Menschen in einem ganz normalen Land, die das Leben genießen. Doch Lizzy Lockspeisers Leben haben die Mörder nun genommen.
Beitz ist auf dem Bahnhof von Boryslaw bis an die Grenzen seiner Möglichkeiten gegangen. Er hat viele retten können und manche nicht: die Sekretärin, ihre Mutter, Frau Lockspeiser. Aber Hunderte verdanken ihm an diesem Tag ihr Leben. Er tut, woran andere nicht zu denken wagen. Und er tut das in einer Zeit, in der wenig Hoffnung besteht, dass das Regime des Terrors bald enden könnte, im Gegenteil. Das, sagt Salek Linhard heute, müsse man bedenken, um »richtig würdigen zu können, unter welchen Umständen Herr Beitz uns schon 1942 geholfen hat«. Und er hat recht. Die Deutschen sind im Dezember 1941 vor Moskau zurückgeschlagen worden, aber der Sommer 1942 bringt schon wieder einen neuen Siegeslauf der Wehrmacht. Als in den ersten Augusttagen die »Aktion Reinhard« über Boryslaw hereinbricht, stößt gerade Erwin Rommels Afrikakorps, die eroberte britische Festung Tobruk im Rücken, auf Ägypten vor. Die 6. Armee der Wehrmacht zertrümmert im Süden Russlands auf dem Weg nach Stalingrad jeden Widerstand, macht Hunderttausende Gefangene – die ebenfalls ein furchtbares Schicksal erwartet –, und die Wochenschauen melden, eingeleitet von Fanfarenklängen, immer neue Triumphe: »Der Vormarsch der deutschen Kolonnen war auf eine Entfernung von 50 bis 65 Kilometer zu erkennen. Eine gewaltige Staubwolke erhob sich in den Himmel, geschwärzt vom Rauch brennender Dörfer und feuernder Geschütze.« Das sind die Nachrichten, die Beitz im Rundfunk und die Linhards in ihrem Versteck über die polnischsprachige BBC hören.
Und dennoch folgt Beitz der Stimme des Gewissens und stellt sich den Mördern in den Weg. Sein Auftreten, so wie es der junge Jurek Rotenberg von seinem Versteck im Dachgeschoss aus beobachtet, verwirrt die SS-Männer, sie können es sich nicht erklären. Dass ein Mann sich für andere, ihm meist ja völlig Fremde in Gefahr bringt – das ist in ihren Denkmustern nicht vorgesehen. Wer ihnen, wie Berthold Beitz, selbstbewusst gegenübertritt und Forderungen stellt, kann in ihren Augen nur ein sehr mächtiger Mann sein. Es muss da etwas geben, was sie nicht wissen – Gönner in höchsten Positionen vielleicht? Beitz untersteht ja dem Oberkommando des Heeres (OKH). »Darauf«, so Beitz, »berief ich mich immer, das machte Eindruck bei denen. Sonst wären die Rettungsaktionen in Boryslaw gar nicht möglich gewesen.« Beitz trägt stets ein Telegramm aus dem OKH bei sich, das sämtliche Behörden in Boryslaw auffordert, »die für die Aufrechterhaltung der Erdölproduktion erforderlichen Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen«. Als ein hoher SS-Offizier aus Lemberg das einmal liest, gibt er mit den Worten nach: »Aha, so ist die Sache.« Ohne die jüdischen Rüstungsarbeiter aus dem Werk – oder die, die er als solche ausgibt – sei die Treibstoffproduktion in Gefahr, betont Beitz bei den Verhandlungen und erweckt den Eindruck, als sei sein Eingreifen direkt mit dem OKH abgesprochen.
Das ist nicht der Fall. Gewiss, im ganzen deutschen Besatzungsgebiet, gerade in Polen, gibt es einen natürlichen Widerspruch zwischen den Interessen der Rüstungsproduktion und den Massenmorden des Vernichtungsapparates. Die eine Seite will jüdische Facharbeiter behalten, die andere möglichst alle von ihnen töten. Aber nur sehr wenige Manager der Kriegswirtschaft lassen es auf massive Konflikte mit der SS ankommen, und noch weniger tun das uneigennützig, aus Menschlichkeit den Opfern gegenüber. Beitz dagegen spielt die Karte der Rüstungsinteressen, sooft er nur kann: »Ich habe keinen Zweifel daran gelassen, dass ich an höherer Stelle intervenieren würde, wenn sie nicht nachgeben, das hat oft funktioniert – aber nur, weil sie meinen Einfluss überschätzt haben.«
DENUNZIANTEN: BEI DER GESTAPO
Es finden sich freilich genug Deutsche, die austesten wollen, wie es denn wirklich um den Einfluss des selbstbewussten jungen Direktors bestellt ist, der so ein großes Herz für die Juden hat. Beitz’ freundlicher Umgang mit den Verfolgten, ihre Versorgung mit Lebensmitteln, die Einstellungspraxis bei der Karpathen-Öl: All das ist nicht unbemerkt geblieben. Manche »Volksdeutsche« aus Boryslaw, auch Angestellte der Ölgesellschaft, fühlen sich inzwischen als Herrenmenschen, die ihren Judenhass ausleben dürfen. Sie mögen den smarten Manager aus Hamburg nicht, der sich so ganz anders verhält; und auch in der Firma selbst tuscheln leitende Angestellte voller Missgunst.
Evelyn Döring, die rothaarige Vorzimmerdame und Vertraute des Ehepaars Beitz, hat vor allem die Abteilung des technischen Direktors Erich Radecke im Verdacht, heimlich zu intrigieren. Dessen Sekretärin trägt gern ein eigentümliches Lächeln zur Schau, wenn sie den Bürotrakt des kaufmännischen Direktors betritt und sich umsieht: »Frau N. aus Oberschlesien, Ehemann an der Front, 2 Kinder (nette Mädchen) bei Verwandten, war eine geübte Spitzlerin, eine Intrigantin erster Klasse.« Eines Abends erwischt sie Evelyn Döring und Beitz’ polnisch-jüdischen Büroleiter EmilPeter Ehrlich in Beitz’ Büro, er gibt ihr heimlich Polnischunterricht. N. starrt Ehrlich an: Ein Jude darf sich nach Büroschluss hier nicht aufhalten. »Sie arbeiten noch?«, fragt sie lauernd, und mit gespieltem Gleichmut antwortet Fräulein Döring: »Sie sehen es ja.« Aber nur einen Tag später hört Radecke, wie sie in derWerkskantine ein paar Sätze auf Polnisch ausprobiert; und er ruft über alle Köpfe hinweg: »Ihr Polnisch hat einen ziemlich jüdischen Beiklang!« Es bahnt sich etwas an, da ist sich Evelyn Döring sicher.
Schließlich, Ende 1942, bekommt Berthold Beitz eine Vorladung von der Gestapo in Breslau, der für Galizien zuständigen Leitstelle der Geheimpolizei. Er hat längst genug gesehen, um eines zu wissen: Dies kann eine Reise ohne Wiederkehr sein. Voll dunkler Gedanken nimmt er in einem Verhörzimmer Platz, als ein Gestapomann eintritt und zum Erstaunen des unfreiwilligen Gastes sagt: »Bobby, was machst du denn hier? Bist du verrückt?« Es ist Karl-Heinz Bendt, der alte Jugendfreund aus Greifswald. Nun könnte Beitz den anderen aus sehr guten Gründen dasselbe fragen, lässt es aber klugerweise bleiben. Bendt hat bei der Gestapo angefangen, nachdem er im Theologiestudium gescheitert und durchs Examen gefallen ist. Er ist am Morgen von einem Kollegen angesprochen worden: »Wir haben hier einen aus Greifswald. Kommst du nicht daher?« Bendt sah den Namen und hat sofort zu den Kollegen gesagt: »Den übernehme ich.«
Ob er eigentlich wisse, warum er hier sei?, fragt Bendt. Er zeigt Berthold Beitz ein Blatt kariertes Schreibpapier, auf dem steht: »Der Feldwebel der Reserve Beitz begünstigt Juden.« Zu den Unterzeichnern gehören Volksdeutsche aus Boryslaw und Deutsche aus dem Reich, aus dem Kreise seiner Nachbarn, Bekannten, Geschäftspartner, die Sekretärin Radeckes. Sie bezichtigen Beitz, »pro-polnisch eingestellt zu sein und Juden bei der Flucht geholfen zu haben«, und verlangen seine »sofortige Entfernung bzw. Inhaftierung«. Sie haben ihn denunziert und angezeigt. Er ist ein einsamer Mann unter »seinen« Deutschen, die es ganz offenkundig für ein todeswürdiges Verbrechen halten, den Verfolgten zu helfen.
Und Bendt? Der zerknüllt den Papierbogen und wirft ihn in den Ofen, verwarnt den Beschuldigten der Form halber und lässt ihn drei Tage in einer Zelle sitzen. Dann darf Beitz gehen, unbeschadet. Als er nach Boryslaw zurückkommt, weiß er besser als vorher, wer seine Feinde sind. Die aber können sich keinen Reim darauf machen, dass er mit heiler Haut und ohne erkennbare Zeichen von Demut und Furcht aus den Fängen der Geheimen Staatspolizei zurückgekehrt ist. Gerüchte breiten sich aus, der Direktor Beitz habe die allerbesten Beziehungen »nach ganz oben«, vielleicht zu SS-Reichsführer Himmler selbst. Immerhin hat der das Ölgebiet ja der Karpathen-Öl zugeordnet und für eine Weile die Schonung jüdischer Rüstungsarbeiter gestattet. Beitz’ Nimbus wächst erheblich, bei den Opfern wie bei den Tätern. Das wird ihm helfen, denn die härtesten Herausforderungen stehen noch bevor.
Berthold Beitz hat da bereits mehrfach mutig und entschlossen gehandelt, aber bei der Gestapo hätten ihm Mut und Entschlossenheit wohl nichts genutzt. Er hat in diesem Moment höchster Gefahr unfassbares Glück: Er trifft den richtigen Mann zur richtigen Zeit. »Nur deshalb lebe ich wahrscheinlich noch. Die hätten mich ins Konzentrationslager verschleppt«, sagt er heute.
Er hat es Bendt niemals vergessen. Was immer der während des Krieges noch getan haben mochte, Beitz wird sich später, in der Nachkriegszeit, revanchieren, als der Jugendfreund tief gefallen ist. Er verschafft ihm einen Job bei Krupp. Jahrzehnte später lädt er ihn sogar zu einem Empfang in die Villa Hügel ein. Als er Bendt in der Menge entdeckt, macht er ihn mit den Umstehenden bekannt. Die Gäste sind, wie man sich vorstellen kann, nicht wenig irritiert, aber Beitz sagt: »Ohne ihn stünde ich nicht hier.«
»HÄTTE ICH NOCH MEHR TUN KÖNNEN?«
SCHWINDENDE SPIELRÄUME
Für jene, die auf Berthold Beitz hoffen, ist der so unangreifbar wirkende Direktor wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt: Eine jüdische Bürogehilfin, als angebliche Rüstungsarbeiterin von Beitz eingestellt, sagt ihrer Freundin Sabina Haberman, heute Wolanski, einmal, er sei der am besten aussehende Mann, den sie sich vorstellen könne. Die Mädchen sagen, der Direktor sehe aus »wie eine deutsche Ausgabe des Schauspielers Robert Taylor«; und er ist derjenige, wie Wolanski 2010 bei einem Besuch in Essen sagt, »der mir damals in Boryslaw den Glauben an die Menschheit bewahrt hat«. Ein Mädchen wird nach dem Krieg sogar schreiben: »Er war wie Gott persönlich!«
Diese Verehrung ist natürlich auch Ausdruck all der verzweifelten Hoffnungen, die sich auf ihn projizieren, den einzigen Deutschen von Rang und Einfluss in Boryslaw, der den Juden hilft. Und doch sind seine Spielräume begrenzter, als es sich viele Verfolgte vorstellen können. Es ist ein Widerspruch, der sich nicht auflösen lässt. »Ich habe nie das Gefühl gehabt, Herr über Leben und Tod zu sein«, sagt er im Rückblick. »Ich war nicht der liebe Gott.«
In Boryslaw ist der dünne Firnis der Zivilisation zerbrochen. »Alle Beteiligten verhielten sich so, als sei es ganz normal, am helllichten Tag in einer kleinen Stadt eine Jüdin zu erschießen, während ihr kleines Kind neben ihr stand.« Das Opfer ist in diesem Fall eine junge Frau mit gebrochenem Arm, deren Mann Öl-Bohrmeister bei Beitz ist.
Aber an den SS-Offizieren führt kein Weg vorbei, wenn er den Verfolgten helfen will. Er kann nicht offen rebellieren – wie auch? –, denn die Macht dazu hat er nicht. Es würde seinen Feinden und Neidern nur den Anlass geben, ihn verhaften zu lassen. Und wie sehr viele von ihnen diese Gelegenheit herbeisehnen, zeigt die erwähnte Denunziation bei der Gestapo Ende 1942.
Nicht immer fällt es ihm leicht, seine Gefühle zu unterdrücken. »Manchmal hatte ich Hass auf diese Leute.« Etwa auf jenen volksdeutschen Werksangehörigen, der nach einer Razzia in der Kantine Messer und Peitsche am Gürtel trägt und mit seinen Taten prahlt. »Den«, so Beitz im Rückblick, »hätte ich umbringen können.«
Einmal kommt ein junger SS-Mann aus dem berüchtigten Reiterzug der deutschen Polizei ins Werk und besucht seine Freundin. Er sieht einen jüdischen Angestellten, der keine Armbinde mit gelbem Stern trägt – was Beitz erlaubt hat –, und brüllt den Mann an, das nächste Mal werde er auf der Stelle erschossen. Jozef Hirsch, vom Direktor engagierter jüdischer Verwaltungsangestellter der Firma, schildert dessen Reaktion: »Am nächsten Tag war Herr Beitz pünktlich zur Stelle, als der SS-Mann wiederkam. Demonstrativ übersah er die Hand, die dieser ihm zur Begrüßung entgegenstreckte. Dann forderte er ihn auf, sofort zu verschwinden, da er in seinem Büro nichts zu suchen habe. Der SS-Mann kam nie wieder.«
Das ist das Äußerste an Protest, das Beitz sich erlauben darf, und allein das schon ist alles andere als ungefährlich. Er unterliegt vielen Zwängen. Je mehr die Judenverfolgung fortschreitet, je mehr Menschen deportiert werden, je weniger überhaupt noch arbeiten dürfen, je schärfer die Kontrollen werden, desto geringer werden diese Spielräume. Im Übrigen ist er ja nicht Herr über die Karpathen-Öl, sondern bloß ihr leitender Angestellter in Boryslaw.
Manchmal fühlt er hilflosen Zorn. Bei der erwähnten Mordtat, als ein Wiener Schutzpolizist im Februar 1943 vor seinen Augen eine junge Mutter erschießt, herrscht er den Mann an: »Was machen Sie denn da, das ist ja schlimm, was Sie da machen!« Was soll’s, die habe doch eh nicht mehr arbeiten können, entgegnet der Schütze im boshaftesten Wiener Schmäh, und als Beitz Anstalten macht, das entsetzte Kind an sich zu ziehen, sagt der Todesschütze: »Das Kind bleibt hier.« Was soll Beitz tun? Er kann nicht Gewalt anwenden, an niemanden appellieren, keiner würde ihm helfen. Er sagt: »Ach Mensch, drehen Sie sich doch mal um. Kommen Sie morgen mal zu mir …« Und wirklich, der Mörder lässt das Kind gehen. Anderntags kommt der Mann tatsächlich. Beitz schenkt ihm eine lederne Aktentasche.
Das Schicksal der jüdischen Kinder gehört zu den grauenhaftesten Eindrücken des Ehepaars Beitz in Boryslaw. Im August 1942 sieht er die verstörten kleinen Geschöpfe aus dem Waisenhaus, wie sie im kalten Licht einer Bahnhofslampe vor den SS-Männern kauern. Kinder zu beschützen ist aber auch für Beitz äußerst schwierig – ihnen kann er kein rettendes »R« ausstellen, höchstens für Halbwüchsige wie Jurek Rotenberg, der sich einfach drei Jahre älter gemacht hat. Beitz versteckt ein Kind in seinem Büro, bezahlt polnische Familien dafür, dass sie heimlich jüdische Kinder aufnehmen – so kann er eine Reihe von Kindern vor dem Tod bewahren.
Auch Else Beitz empfindet das Schicksal der Kinder als grauenvoll. Es bewegt sie, selbst Mutter einer Zweijährigen, zutiefst. Manchmal sitzen bereits am frühen Morgen Menschen auf den Stufen zu ihrem Haus und strecken die Arme aus: »›Meine Frau haben sie heute Nacht genommen!‹ – ›Mein Kind ist weg!‹ Oh, es war fürchterlich.« Es lässt sich wohl kaum eine größere Belastungsprobe für eine junge Ehe denken als die apokalyptischen Verhältnisse von Boryslaw. Doch die junge Frau, die übrigens ganz anders als ihr Mann nicht aus konservativem Elternhaus stammt – ihr Vater ist ja linker Sozialdemokrat –, steht stets an seiner Seite; und nach dieser Probe wird die Ehe nichts mehr auseinanderbringen. Else Beitz ist mit Barbara daheim, und immer öfter suchen die Verfolgten dort Hilfe. So einmal 1942, als zwei jüdische Männer vor der Tür stehen. Sie hat beide noch nie gesehen. »Was wünschen Sie, bitte?«, fragt sie, und die Männer bringen ihr Anliegen vor. Sie, die Frau des Direktors, möge bitte einen Jungen verstecken.
Frau Beitz zögert. Ihr Mann ist früh zur Arbeit gefahren, wenn sie nun ein Kind versteckt, kann sie sich und ihre Familie in tödliche Gefahr bringen. Aber sie sieht die Not in den Augen der Männer und hört ihnen zu. Das Kind sei blond und blauäugig, sagt einer, sie könne immer sagen, das ist der kleine Sohn von Verwandten. Und sie kann, sie will die beiden nicht wegschicken und das Kind dem Tod ausliefern. Schließlich erklärt sie sich einverstanden. Der Kleine wohnt für einige Zeit tagsüber bei ihnen, abends wird er wieder abgeholt. Er spielt mit Barbara und gewinnt Vertrauen zu der fremden Frau, die ihm ihr Haus geöffnet hat. Eines Tages bleibt er fort. Else Beitz weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Aber sie muss das Schlimmste befürchten.
Es ist nicht der einzige Fall, wie sich Berthold Beitz erinnert: »Manchmal kamen auch abends Juden zu uns nach Hause, sie saßen vorn auf der Treppe und baten um Hilfe. Meine Frau hat die Kinder im Haus versteckt. Mit Kindern war es schwer, denn ich konnte die Leute ja nur rausholen, indem ich sie als unabkömmliche Arbeitskräfte ausgegeben habe … Das ging mit Kindern leider nicht. Aber einige haben wir im Haus verborgen. Wir konnten diese Hilfe nicht verweigern. Es war irgendwie selbstverständlich. Meine Frau hat das alles mitgemacht.« Die junge Frau zeigt einen bemerkenswerten Mut. Was sie am meisten fürchtet, sind die Patrouillen der Reiterpolizei. Die Streifen tauchen überraschend auf, sie sind auf der Suche nach Juden, die sich auf der Straße zeigen könnten. »Wenn die erschienen wären, als meine Frau gerade ein Kind ins Haus ließ, wäre sie ins Konzentrationslager gekommen«, sagt Beitz heute. 2008 wird auch Else Beitz als »Gerechte unter den Völkern« ausgezeichnet.
Im Februar 1943 hat die SS etwa 300 Juden aufgespürt, die sich ohne Erlaubnis in Arbeitstrupps eingeschmuggelt hatten. Die Sicherheitspolizei sperrt diese Menschen zwei Tage ins »Colosseum«-Kino und schafft sie dann zum Schlachthof, wo sie erschossen werden sollen. Unter ihnen ist die Frau eines Arbeiters der Karpathen-Öl, Lea Altbach. Als Beitz davon erfährt, rast er mit seinem Mercedes hinterher, überholt den Transport und versperrt mit seinem Wagen die Straße. Frau Altbach sei seine Sekretärin, behauptet er. Beweisen Sie das, fordern die SS-Leute. Beitz schwindelt ihnen vor, die Papiere seien noch in seinem Büro, und bleibt so hartnäckig, bis Lea Altbach in seinen Wagen steigen darf. Aber deren Schwester und kleine Kinder sind da bereits am Schlachthof erschossen worden. Kleine Kinder können nicht arbeiten – damit haben sie für die Nazis ihr Leben verwirkt.
Beitz versucht es dennoch. »Ich hatte doch selbst eine Frau und die kleine Barbara«, sagt er im Rückblick dazu, und am Abend sprechen Else Beitz und er oft über das Schicksal der Kinder. Nun fühlen sie nach, was Eltern empfinden, denen Söhne und Töchter entrissen werden. Unter den Opfern im »Colosseum« befindet sich die Familie eines jüdischen Buchhalters von Beitz, Mina Horowitz mit ihrer zweijährigen Tochter Rehle. Die Wächter entreißen die Kleinkinder gleich zu Beginn des Massakers den Müttern und erschießen sie beim Schlachthof. Betäubt und apathisch bleibt Mina Horowitz zurück, als jemand ruft: »Beitz ist gekommen!« Sie hört ihren Namen und blickt auf. Vor ihr stehen Berthold Beitz und der gefürchtete Wüpper von der Schutzpolizei. Wieder muss Beitz um jedes Leben ringen, und es gelingt ihm tatsächlich, eine Reihe von echten und angeblichen Mitarbeiterinnen herauszuholen. Mina Horowitz aber hat einen neunjährigen Jungen, der neben ihr stand, an sich gezogen: »Blitzartig durchzuckte mich der Gedanke, ich könnte vielleicht ein anderes jüdisches Kind anstelle meines eigenen retten.« Beitz fragt sie: »Ist das wirklich Ihr Kind?« Sie sagt fest: »Ja.« Er sieht sie an und führt beide mit aus dem Kinosaal. Mina Horowitz und den Jungen, Dunio Schapiro, nimmt er anschließend mit in sein Büro, damit der Kleine wirklich in Sicherheit ist. Beitz hat, wie er ihr sagt, gewusst, dass es nicht ihr Kind ist. Sie war Mutter eines zweijährigen Mädchens. »Am selben Tag abends«, wird Horowitz dreißig Jahre später schreiben, »übergab ich ihn [den Jungen; J. K.] seinem Vater. Das Kind kam leider in einer der nächsten Aktionen um. Mit meiner Tat hatte ich offenbar die Aufmerksamkeit von Herrn Beitz erregt, denn während seiner Anwesenheit im Büro sagte er meinem Mann, er solle ihn benachrichtigen, wann auch immer ich in Gefahr sei. Dann würde er sich bemühen, mir zu helfen. Und tatsächlich sortierte er mich gleichzeitig mit anderen, an deren Namen ich mich nicht mehr erinnere, dreimal seit dieser Zeit aus der Sammelstelle aus.«
Am Tag des Massakers vom Schlachthof kommt Berthold Beitz wieder ins Büro und setzt sich zu Hilde Berger, kalkweiß, das Gesicht tief zerfurcht. Er sagt zu ihr: »Eines Tages wird das deutsche Volk für seine Verbrechen büßen müssen.« Er hat an diesem Tag, dem 15. Februar 1943, weit mehr als fünfzig Juden das Leben gerettet – für diesen Tag. Ihr Leben wird weiter in höchster Gefahr sein, und viele von ihnen überleben den Krieg dennoch nicht. Die Zahl der Opfer des Schlachthofmassakers liegt bei mehreren Hundert.
Zu Beginn des Jahres 1943 hat die SS bereits mehr als 6000 Boryslawer Juden in die Vernichtungslager deportiert oder erschossen. Nach dem Februarmassaker löst die SS das Ghetto auf, viele Juden werden in die Vernichtungslager deportiert, etwa 1000 weitere am Boryslawer Schlachthof erschossen. Schupo-Chef Wüpper tötet dabei zahlreiche Menschen persönlich, er ist betrunken und scheint das Morden zu genießen. So ist die Maschinerie des Todes, »die Bestie«, wie sie der Schriftsteller Elie Wiesel nennt: Sie sucht ihre Opfer und will keinen übrig lassen. Die jüdischen Viertel von Boryslaw sind schließlich menschenleer.
Die restlichen Juden in der Stadt sind entweder im Zwangsarbeiterlager für jüdische Rüstungsarbeiter, einer alten Reiterkaserne, notdürftig geschützt oder harren in Verstecken aus. Anfangs untersteht es noch der Karpathen-Öl selbst, dann, im Oktober 1942, übernimmt die SS die Bewachung und zäunt das Lager ein. Das ist die Folge eines Befehls von SS-Reichsführer Himmler selbst, der den Rüstungsarbeitern paradoxerweise eine Atempause verschafft. An ihn hatte sich der Generaldirektor der Karpathen-Öl in Lemberg, Carl Krauch, gewandt: Die wahllosen Deportationen von Juden, unter ihnen auch zahlreiche Träger von »R«-Abzeichen, gefährdeten die für die Fronten so wichtige Ölproduktion – dasselbe Argument, das auch Beitz in der Boryslawer Betriebsinspektion immer wieder bemüht. Krauch freilich geht esnicht um die Menschen, ihm geht es darum, dass sein Betrieb läuft. Als Folge befiehlt Himmler, die jüdischen Rüstungsarbeiter in bewachten Zwangsarbeiterlagern – Drohobycz und Boryslaw– zu konzentrieren, aber vorerst zu verschonen. Beitz’ Arbeiter hausen also dort mit ihren Familien. Im Juli 1943, nach dem jüdischen Aufstand im Warschauer Ghetto, ändert der Reichsführer SS seine Meinung wieder und befiehlt, in naher Zukunft alle Juden aus Rüstungsbetrieben im Generalgouvernement zu entfernen.
Berthold Beitz stellt 1943 immer mehr Menschen als angeblich unabkömmliche Rüstungsarbeiter bei der Karpathen-Öl ein, die es in Wahrheit gar nicht sind. Im Juni 1943 hat die SS die Ghettos, auch die von Drohobycz und Boryslaw, endgültig »liquidiert«. Es bleiben die Juden in den Zwangsarbeiterlagern, die nach Himmlers Kehrtwende die nächsten Opfer sind. In den folgenden Monaten, als die meisten dieser Lager im Generalgouvernement schon geräumt sind oder kurz vor der Auflösung stehen, bleibt jenes in Boryslaw dank Beitz’ hartnäckigen Kampfes eine rettende Insel. Doch die Bedrohung wächst auch hier enorm. Beitz ist jetzt isolierter denn je, und seine Schutzbefohlenen sind beileibe nicht alle qualifizierte Fachkräfte. Der Überlebende Edmund Novak erinnert sich später: »Aus der Liste der eingestellten und im Lager befindlichen Juden ergibt sich, daß dort viele Schneider, Schuster, Frisöre, Hausfrauen, Näherinnen, Wäscherinnen, Jugendliche ohne Beruf, Kaufleute und andere eingestellt waren, die keine Ahnung von den Grundlagen der Arbeit in der Erdölindustrie hatten.« Der Boryslawer Jude Emil Wiksel, den Beitz in Sicherheit bringt, nachdem ein Schutzpolizist dem 44-jährigen Mann elf Zähne ausgeschlagen hat, schreibt später, »daß ich auf meiner Arbeitsstelle keineswegs unersetzbar war«.
Beitz muss also stets größte Vorsicht walten lassen. Ein falscher Zug, und die Gestapo hätte jenen Anlass, auf den seine Feinde schon so lange warten. Seine Rückkehr aus Breslau hat sie überrumpelt, sie sind vorsichtiger geworden; doch schon Anfang 1943 unternehmen sie einen neuen Versuch. Zwei Gestapobeamte erscheinen in seinem Büro bei der Karpathen-Öl: Jetzt sei es so weit, er komme in ein Konzentrationslager oder ein Strafbataillon. Er muss sie nach Drohobycz begleiten, denn er wird als Fluchthelfer verdächtigt. Die SS hat zwei jüdische Mädchen geschnappt, die gefälschte »arische« Arbeitsnachweise der Karpathen-Öl Boryslaw bei sich hatten; die Dokumente tragen die Unterschrift »Beitz«. Doch der weiß von nichts.
Der jüdische Untergrund im Arbeitslager versucht, Menschen aus Boryslaw hinauszuschmuggeln – unter anderem mit Hilfe manipulierter Dokumente. Beitz weiß nicht, dass einige Mitglieder der Gruppe Nachschlüssel zu seinem Büro und seinem Panzerschrank besitzen. Die jungen Männer steigen nachts ein und benutzen Stempel und Vordrucke für ihre Fälschungen, um damit Leben zu retten. Nur ist mit einem Mal das Leben des Retters in Gefahr, was sie natürlich nicht im Sinn hatten. Zwi Heilig beschreibt das Dilemma der Gruppe: »Wir alle wußten, daß Beitz den Juden half, und wir waren sicher, daß die Gestapo dies auch wußte … Wir empfanden große Sympathie für Beitz, und wir wußten, daß, wenn er gehen würde, wir alle sterben würden. Deshalb beschlossen mein Bruder Mates und ich, ihm zu helfen.« Noch während die Gestapo Beitz in der Nachbarstadt vernimmt, steigen die beiden erneut in das Büro ein und hinterlassen die auffälligsten Spuren ihrer Tat. Damit ist der Direktor entlastet, der ja das perfekte Alibi hat: Er sitzt zum Verhör bei der Gestapo. So unterblieben, schreibt Bernd Schmalhausen, der diese Episode überliefert hat, »weitere Untersuchungen, bei denen die tiefe Verstrickung von Berthold Beitz in die Bemühungen um die Rettung jüdischer Menschen vermutlich entdeckt worden wäre«. Beitz selbst erscheint die Szene im Rückblick weniger bedrohlich als die erste Vorladung nach Breslau.
Dem Tode nah kommt der junge Direktor ein halbes Jahr später bei einem Waldspaziergang mit seiner Frau. Nur ist es diesmal nicht die Gestapo, die ihm nach dem Leben trachtet. Mehrere Schüsse fallen, die Schützen sind hinter Bäumen verborgen. Beitz, der oft eine Pistole trägt, schießt zurück, dann herrscht wieder Stille. Niemand ist getroffen worden. Es müssen polnische Untergrundkämpfer gewesen sein; ob sie ihn erkannt haben, ist unklar. Anderntags erzählt er Ehrlich davon. Der kommt vier Tage später zu ihm und sagt: »Herr Beitz, Sie können ohne Gefahr spazieren gehen. Niemand wird auf sie schießen.« Beitz beginnt zu ahnen, dass sein Mitarbeiter ein gut vernetzter Mann ist. »Aber dass er eine wichtige Rolle im Widerstand gegen die Deutschen gespielt hat, wusste ich nicht.« Weitere Anschläge auf Beitz gibt es nicht.
So setzt er sein Rettungswerk fort. Oft informiert ihn sein eigener Warndienst um die unermüdliche Evelyn Döring. So ist es im Fall von Salek Linhards Onkel, der für seinen Dienst in der deutschen Armee während des Ersten Weltkriegs das Eiserne Kreuz erhalten hat. Er ist Bäcker, und Salek erinnert sich bis heute an die besten Vanilleplätzchen von Boryslaw. Noch lange fühlt sich der Onkel sicher und bleibt in seinem Haus; offenbar genießt er eine Weile Protektion aus der Wehrmacht. Aber Linhard erinnert sich, wie Beitz seinen Vater Jitzhak gewarnt hat: »Ihr Bruder ist nicht mehr sicher. Ich weiß es aus einer sehr zuverlässigen Quelle.« Jitzhak Linhard warnt den Bäcker, aber der will das Wagnis einer Flucht mit Familie nicht eingehen. Wenige Tage später wird der Bruder ermordet, ein Unbekannter schießt abends durch das Fenster. Die Schutzpolizei deportiert anschließend die Frau und die beiden Töchter; Linhard gelingt es nur, eines der Mädchen, Batja, wieder freizubekommen.
Oft flehen verzweifelte jüdische Angestellte Beitz um die Rettung von Angehörigen und Freunden an. So auch im Fall von Janek Bander und Ludwig Hiss. Letzterer ist der beste Freund von Jurek Rotenberg; er hat als Kind gleich nebenan gelebt und das Klavierspiel von Anna Rotenberg durch die dünnen Wände der elterlichen Wohnung gehört.
Die beiden Jungen haben in einer kleinen Scheune eine doppelte Wand aus Holzlatten gezimmert und so einen hohen Zwischenraum geschaffen, der sich von innen verschließen lässt. Ganz oben schieben sie als Zwischendecke Bretter hinein, auf denen sie tagsüber liegen. Selbst wenn die falsche Wand entdeckt wird, scheint so der Raum dahinter leer zu sein. »Die Deutschen haben jede Nacht gesucht«, sagt Janek Bander heute, »und dann kamen sie ganz nahe.« Er hört das Gebrüll: »Wo sind die Juden?«
Durch die kleinen Spalten zwischen den Holzlatten sehen sie die Lichtkegel der Taschenlampen, mit denen die Verfolger den Raum durchsuchen. Er scheint leer zu sein, aber die SS-Männer bleiben und beraten sich. Warum gehen sie nicht weg?, denkt Janek. Dann sagt eine Stimme: »Hier ist keiner. Wir können weitergehen.« Die Versteckten atmen auf: Das war Bernard Eisenstein, der Leiter der »jüdischen Polizei«. Doch auf einmal zerrt jemand an den Latten, die schließlich nachgeben – der Blick in den Hohlraum ist frei. Ein SS-Mann leuchtet hinein: »Keiner drin.« Wird der Trick funktionieren? Kommen sie noch einmal davon?
Doch da ruft eine Frau: »Das ist doch nicht möglich! Sie müssen da drin sein. Sehen Sie doch, die Bretter wurden von innen verriegelt.« Jetzt leuchtet der Mann auch nach oben – die Jungen sind entdeckt und werden heruntergezerrt. Die Frau, stellt Janek mit Entsetzen fest, ist eine Jüdin aus Boryslaw, die von ihrem Versteck gewusst und die Menschenjäger hergeführt haben muss. Sie sieht ihn nicht an, als er unter Prügeln und Tritten aus der Scheune geführt wird.
Man bringt die beiden Jungen ins Gebäude der ukrainischen Polizei, in einen der früheren NKWD-Folterkeller, wo der Leidensweg der Boryslawer Juden zwei Jahre zuvor begonnen hat. Der Boden ist mit stinkendem Wasser bedeckt, dreißig Juden sind zusammengepfercht. Über Stunden stehen und hocken sie dort, einmal mehr ohne Hoffnung. Zu den Eingeschlossenen gehört auch die jüdische Frau aus der Scheune. Ludwig Hiss ist zu schwach, um sie zu hassen. Er fragt nur resigniert: »Warum hast du das gemacht? Warum hast du uns verraten?« Es stellt sich heraus, dass die Deutschen sie, wie sie das nennen, als »jüdischen Greifer« benutzt haben: Wenn du uns hilfst, lassen wir dich leben. Sie werden ihr Versprechen nicht halten.
Am Nachmittag reißt einer der Ukrainer die Eisentür auf: »Bander! Hiss! Zu Nemec, kommt!« So schlecht ihre Lage auch ist – eine Vorladung zu Nemec bedeutet, dass es immer noch schlimmer kommen kann. Er holt uns zu seinem Vergnügen, denkt Bander, um uns zu quälen, bevor er uns umbringt. Jeder weiß, dass Nemec ein Psychopath ist, der im »Colosseum«-Kino eingesperrte Juden nur zum Spaß erschossen und sich an der Angst der Opfer geweidet hat, wer wohl als Nächster an die Reihe komme. Mit klopfendem Herzen steigen sie die Treppen im Polizeigebäude hoch. Der feiste Wiener erwartet sie bereits in seinem Büro.
Bei ihm ist der Dolmetscher, der Wiener Dr. Reizses. Er ist, was die Jungen nicht wissen, mit Beitz gut bekannt und arbeitet öfter für ihn; er wird den Krieg überleben. Nemec fragt Janek Bander auf Deutsch: »Willst du leben?« – »Ja, Herr.« Der Wiener grinst: »Warum eigentlich?« Janek sagt: »Ich bin noch jung.« Ludwig tritt nervös von einem Fuß auf den anderen und will etwas sagen, aber der Polizeichef schlägt ihn brutal: »Halt dein Maul!« Er starrt die beiden an, dann macht er unverhofft eine abfällige Handbewegung zu Reizses: »Schick sie weg, sie sollen weg!« Sie wissen nicht, wie ihnen geschieht, bis sie sich draußen vor der Eingangstür wiederfinden. »Lauft«, sagt der Dolmetscher eindringlich, »lauft zur Ölfabrik, zu Beitz ins Büro!«
Sie rennen quer durch die Stadt, stürmen in das Verwaltungsgebäude der Karpathen-Öl, wo niemand sie aufhält, und finden Beitz’ Büro. Dort wartet Jitzhak Bander, sprachlos vor Glück. Er umarmt die Halbwüchsigen. Im Büro sitzt ein großer Mann in einem Anzug, Vater Bander küsst Janek und sagt: »Herr Direktor, da sind sie.« Berthold Beitz lächelt die beiden an, sagt einige beruhigende Worte und weist seine Mitarbeiter an, ihnen sofort ein »R« zu verschaffen, den lebensrettenden Wimpel aus Tuch. Fortan sind die Jungen, ungelernt und ohne jede Ahnung vom Ölbetrieb, unabkömmliche Arbeiter der deutschen Rüstungsindustrie.
Wie konnte das geschehen? Janeks Vater hat sich, kaum dass er von der Verhaftung des Jungen erfuhr, unter Tränen direkt an Beitz gewandt: »Mein Sohn wurde verschleppt. Nur er ist mir geblieben, nur noch ein Kind habe ich. Wenn er in den Tod gehen muss, gehe ich mit ihm.« Beitz verspricht seinem Angestellten, nach dem Jungen zu forschen. Und wie er es gemacht hat, weiß Janek Bander aus den Erzählungen des Vaters heute noch: »Er hat Hildebrand angerufen.«
TODESSPIEL: BEITZ UND DER SS-MANN
Friedrich Hildebrand – geboren 1902 in Syke bei Bremen, Untersturmführer der SS, seit Juli 1943 Kommandant des Zwangsarbeiterlagers – ist ein typisches Produkt des Terrorapparats. Als kleiner kaufmännischer Angestellter mit abgebrochener Lehre tritt er schon 1931 der SS bei. 1939 wird er zur Waffen-SS einberufen, ohne aber jemals an der Front eingesetzt zu werden. Nach einer schweren Tuberkulose-Erkrankung rät ihm ein Arzt, statt zurück zur Truppe lieber ins Generalgouvernement zu gehen. Die Luft im besetzten Polen, so der Mediziner mehrdeutig, sei gesünder. Hildebrand dient sich dort hoch, ist 1942 dabei, als Gestapo und SS gewaltsam das Ghetto von Drohobycz zu räumen beginnen. In einem Gespräch mit dem Stabsführer Ost der SS bekennt er anschließend sogar, »ein Grauen habe ihn erfaßt«, aber »Befehl ist eben Befehl, da kann ich nichts dagegen machen«. Zum 1. Juli 1943 wird er von Katzmann persönlich zum Kommandanten der beiden Zwangsarbeiterlager Drohobycz und Boryslaw ernannt, und in Boryslaw trifft er Berthold Beitz, dessen jüdische Arbeiter dort interniert sind; es ist für beide eine schicksalhafte Begegnung.
Der Untersturmführer, ein großgewachsener Mann, wird von den Insassen manchmal als »der schöne Hildebrand« bezeichnet. Sein Verhalten den Juden gegenüber ist von Beginn an zwiespältig und grenzt an Paranoia, es ist so zwiespältig wie sein ganzes Persönlichkeitsbild. Noch seinen Richtern wird auffallen, »daß sich Hildebrand als treusorgender Familienvater erwies«; obwohl »ihm seine Gattin energisch zusetzte«, weigerte er sich meist, »eine notwendig gewordene körperliche Züchtigung seiner Kinder auch auszuführen«. Er gilt als ruhig und ordentlich – und so übt er auch seinen Beruf aus, den des Mörders. Mal übt er Milde, mal ist er williger Vollstrecker. Einerseits gibt es ihm bekannte Menschen, die er bewusst schont. Andererseits geht Hildebrand noch als »Judenbeauftragter« in Katzmanns Stab bei den Aktionen in Drohobycz gnadenlos vor, etwa im Juni 1943, als er auf dem Hof der Keramischen Werke Frauen und Kinder antreten lässt. Eben noch wähnten diese sich in relativer Sicherheit, nun sehen sie den SS-Offizier, in der einen Hand eine Pistole, in der anderen eine Reitpeitsche. Er lässt die kleine Anita Eisenfuß den Händen ihres weinenden Vaters entreißen, sie gibt dem Vater ihren Mantel und sagt: »Nimm den Mantel, du kannst dir Brot dafür tauschen, ich gehe doch zu meiner Mutti!« Die Mutter ist bereits früher von den Deutschen erschossen worden. Zu einem 17-jährigen Mädchen sagt Hildebrand: »Du bist zu schwach zur Arbeit. Ich gebe dir eine leichtere im Himmelskommando.«
Bei einer anderen Aktion in Drohobycz, am 12. Juni 1943, teilt er eine Jüdin namens Dornstrauch als arbeitsfähig ein, ihren vierjährigen Sohn Marius aber nicht. Weil die Mutter ihn nicht dazu bewegen kann, ihr das Kind zurückzugeben, geht sie mit diesem hinüber in die Gruppe der Todgeweihten, und als der Ehemann und Vater abends von der Zwangsarbeit heimkehrt, sind beide bereits tot. Bei derselben Aktion kommt es zu einer weiteren schrecklichen Szene. Hildebrand stellt sich vor die Frau eines Technikers, die mit ihren beiden Kindern angetreten ist: Eines dürfe sie behalten, sagt er, das andere nicht. Sie müsse sich entscheiden. Dieses grausame Todesspiel, das einen Menschen zwingt, ganz bewusst eines seiner Kinder zu opfern, ist auch von anderen SS-Männern im Osten bezeugt. Was die Täter dabei empfinden, vielleicht den Genuss entgrenzter Macht über andere, muss ein Rätsel bleiben. Die fassungslose Mutter wählt eines ihrer Kinder aus, das andere wird ihr dann sofort entrissen. All die »nicht Arbeitsfähigen« werden schließlich im nahen Wald von Bronica erschossen. Wenige Wochen später wird Friedrich Hildebrand offiziell Kommandant der beiden Zwangsarbeiterlager.
Kurz darauf, am 10. Juli, rettet Berthold Beitz, der natürlich schon von Hildebrand gehört hat, den 22-jährigen Markus Greber, einen jüdischen Arbeiter einer Kistenfabrik. Hildebrand erklärt deren Belegschaft für »nicht kriegswichtig« und lässt sie erschießen. Greber aber kann gerade noch entkommen und flüchtet zu Leon Morski, dem Bäcker bei der Karpathen-Öl. Der wiederum bittet Beitz um Hilfe, und der Direktor stellt Greber als »Bauarbeiter« ein.
Die Spielräume für die Rettung von Menschen werden 1943 enger und enger. Beitz erfährt jeden Tag mehr die Grenzen seiner Macht. In dieser Lage findet er ausgerechnet in Friedrich Hildebrand einen Hebel, um weit mehr für die Verfolgten zu erreichen, als ihm alleine möglich wäre. Fast alle noch lebenden Juden von Boryslaw sind im Zwangsarbeiterlager untergebracht, und über ihr Schicksal entscheidet der Lagerleiter, eben jener Hildebrand. Das Firmenlager ist beinahe ein »Fluchtpunkt«, den zu bewahren nur einem Unternehmen von der Bedeutung der Karpathen-Öl möglich ist. Janek Bander und Ludwig Hiss hat Beitz offensichtlich über direkte Intervention bei ihm freibekommen, obwohl er die beiden praktisch nicht kannte. Beitz erkennt die psychologische Schwachstelle des SS-Mannes. Irgendwo tief drinnen muss bei Hildebrand, den angesichts der ersten Erschießungen noch »das Grauen« gepackt hat, ein Rest von Gewissen sein, vor allem in stillen Stunden, wenn er nicht im Rudel der SS-Leute steht. Der Öldirektor, dem SS-Lagerchef intellektuell weit überlegen, baut eine Art Beziehung zu ihm auf, als er bemerkt, dass Hildebrand in gewisser Weise zu ihm aufschaut. »Er war ein sehr einfacher, ja dummer Mensch. Es war nicht so, dass er Wachs in meinen Hand gewesen wäre; aber er hat sehr oft gemacht, was ich ihm gesagt habe. Er hat mich irgendwie bewundert.« Vielleicht spürt Hildebrandt in dem anderen eine moralische Überlegenheit, die ihn trotz aller Gefühlskälte nicht unberührt lässt. Vielleicht ist es auch eine Art gespaltener Persönlichkeit bei dem SS-Untersturmführer, der einerseits am Schlachthof Exekutionen überwacht, in Beitz’ Nähe aber verschüttete Züge seines Wesens wiederentdeckt. In jedem Fall kann er sich, wenn er Beitz hilft, selbst bescheinigen, ebenfalls moralisch zu handeln – eine von außen gesehen perverse, für Hildebrand aber womöglich entscheidende Logik. Er lässt zu, dass Beitz für erträgliche Zustände unter seinen Arbeitern im Lager sorgt, etwa durch ausreichendes Essen aus der Werkskantine, denn die offiziellen Rationen für Juden reichen zum Überleben nicht. Die schmutzigen Dinge überlässt er in Boryslaw gern seinen Leuten. Später vor Gericht wird Hildebrand ganz ernsthaft behaupten, er habe sich »in Boryslaw stets bemüht, meine menschliche Seite zu zeigen«.
Für Beitz bietet Hildebrand eine einmalige Gelegenheit. Er hält ihn, gewiss, für einen Mörder und einen Mann von sehr geringem Verstand. Erstmals aber vermag er einen der wichtigsten Handlanger des Regimes in Boryslaw in seinem Sinne zu beeinflussen und mit dessen Autorität im Apparat der Nazis Dinge zu bewegen, die ihm sonst unmöglich gewesen wären. Er selber könnte schwerlich zu Nemec gehen und die Freilassung zweier Halbwüchsiger wie Bander und Hiss aus dem Gefängniskeller fordern. Hildebrand dagegen genügt dafür ein Anruf.
Und da ist zum Beispiel die Geschichte mit Hilde Berger. Es ist eine Geschichte, die Beitz sehr viel später häufig erwähnen wird, weil sie ein Schlaglicht auf die Umstände wirft, unter denen er in Polen handeln musste. Dass er sie, die Jüdin, überhaupt als Verwaltungsangestellte und nicht direkt in der Rüstungsproduktion beschäftigt, ist 1943 bereits untersagt. Darüber hinaus erlaubt er ihr wie den anderen Juden, das Stigma, den obligatorischen gelben Stern, im Büro abzulegen. So kommt es, dass Hildebrand, der in Oberschlesien übrigens eine Frau und zwei Kinder hat, ein Auge auf die junge Frau wirft; sie ist eine attraktive Erscheinung mit dunklem Haar und hohen Wangenknochen. Er sieht sie einmal in Beitz’ Büro und sagt beim Abschied: »Mensch, Herr Beitz, da haben Sie aber eine hübsche Sekretärin. Kann man die mal treffen?« Beitz antwortet: »Lassen Sie das lieber bleiben, sie ist Jüdin.« Erst da fällt Hildebrand auf, dass Hilde Berger ja gar nicht die Armbinde mit dem Stern trägt, ein nach den Maßstäben der SS todeswürdiges Delikt. Der Untersturmführer könnte die Frau jetzt einfach mitnehmen und Beitz gleich dazu, und tatsächlich will Hildebrand Hilde Berger sofort verhaften. Aber Beitz überredet ihn, sie in Ruhe zu lassen: Er brauche sie unbedingt wegen ihrer Sprachkenntnisse. Und der SS-Mann gibt schließlich nach.
Es ist ein mörderisches Spiel, das Beitz mit der SS spielt, eines, in dem er sehr wenige Trümpfe besitzt und der Gegner die Regeln bestimmt, bar aller Werte, mit denen Berthold Beitz aufgewachsen ist. »Ich musste Hildebrand benutzen, wenn ich etwas für die Verfolgten erreichen wollte«, sagt Beitz. Sein Vertrauter Ehrlich schätzt, dass der Direktor allein über den Lagerchef mindestens 100 Juden vor dem Tod bewahrt hat. Allzu engen privaten Umgang mit Hildebrand, etwa gegenseitige Besuche, vermeidet Beitz, aber er spielt mit ihm Tennis und geht mit ihm zur Jagd, wobei er die Gelegenheit nutzt, sich für seine Schutzbefohlenen zu verwenden.
Tatsächlich ist die Todesrate im Zwangsarbeiterlager Boryslaw weit geringer als in anderen Arbeitslagern. Dennoch können jederzeit die SS, die Reiterstaffel oder Nemec’ Ukrainer auftauchen und eine der ständigen »Selektionen« beginnen. Dann durchsuchen sie das Lager nach »Arbeitsuntüchtigen« und nehmen jedes Mal etliche Juden mit. Beitz holt eine große Zahl von ihnen mit Hildebrands Hilfe – schließlich ist dieser der Kommandeur des Lagers – in letzter Minute zurück, bevor die Erschießungskommandos antreten. So ergeht es auch Emil Peter Ehrlich, Beitz’ Büroleiter, der sogar auf dem Betriebsgelände festgenommen und verschleppt wird, und Mina Horowitz, deren Kind ermordet wurde.
UNTER WÖLFEN: DIE EINSAMKEIT DES RETTERS
»Niemand hat Grund gehabt, (sich) über Ihr persönliches Vorgehen zu beklagen. Es ist eben eine Lebenskunst, immer nur Gutes zu schaffen und des anderen Unglück zu verstehen … speziell in einer Zeit, wo wir Menschen uns eher als Wölfe gegenüber treten.«
Die Kunst, das Unglück zu verstehen: Es ist ein großes Kompliment, das Leon Morski zwei Jahre nach dem Krieg Berthold Beitz ausspricht, in einem Brief aus Stettin. Morski, Bäcker bei der Karpathen-Öl, überlebt den Holocaust dank Beitz, und das Bild von den Wölfen ist ebenso traurig wie passend. Nicht nur die Opfer sind allein unter Wölfen, auch die Retter sind es ja.
Sie sind so allein, dass sie oft nicht einmal etwas von anderen Helfern wissen. Jeder behält sein Geheimnis für sich. Überall sind die Wölfe, keinem, fast keinem, kann man trauen. Berthold Beitz ist Teil der Karpathen-Öl, deren Management die jüdischen Rüstungsarbeiter schützen will. Was immer seine Vorgesetzten über seine Hilfsaktionen wissen mögen, er wird von ihnen nicht belangt. Sein Einsatz für die Verfolgten hat aber humanitäre Gründe, keine betriebswirtschaftlichen. Das Unternehmen ist ihm von Nutzen, aber kein Verbündeter. Also bleibt er allein. Beitz hatte mit dem deutschen Kreislandwirt Eberhard Helmrich zu tun, der in Drohobycz eine Gärtnerei betrieb und dort viele Juden rettete, indem er sie versteckte und aus der Stadt schleuste. Beide Männer saßen oft beieinander. »Wir redeten über dies und das«, sagt Beitz heute, »aber keiner von uns vertraute sich dem anderen an. Erst nach dem Krieg erfuhr ich, dass Helmrich zusammen mit seiner in Berlin lebenden Ehefrau Donata Rettungsaktionen für Juden durchgeführt hat. Misstrauen, Angst vor Denunziation verschlossen uns den Mund.« Else Beitz hat Helmrich erlebt »als besonnenen, sehr ruhigen Mann, der uns durch sein Schweigen vielleicht beide schützen wollte. Ich hatte den Eindruck, er lebte in einer Welt für sich.« Helmrichs Tochter, die FDP-Politikerin Cornelia Schmalz-Jacobsen, ist sich heute sicher, »dass mein Vater schon damals über Beitz’ politische Einstellung und dessen Rettungsanstrengungen genau Bescheid wusste, denn er hat schon sehr früh darüber gesprochen … Möglich, dass ihm andere davon erzählt haben, zum Beispiel Mitglieder des Judenrates.« Beitz hat aber erst lange nach dem Krieg von Helmrichs Taten erfahren.
Beide sind einsam in einer Welt ohne Recht und ohne Richter. Gewiss, Beitz hat seine Frau und Helfer im Büro wie Evelyn Döring. Aber es kommt auf ihn an, auf seine einsamen Entscheidungen, und weder die Einsamkeit noch die Entscheidungen kann ihm jemand abnehmen. Schon im Reich gibt es wenige Deutsche, die den Opfern helfen; weit mehr machen die Judenverfolgung aus Opportunismus oder Überzeugung mit. Die Haltung der meisten Deutschen zur Judenverfolgung ist von Gleichgültigkeit geprägt, »von der Bereitschaft«, so der Antisemitismusforscher Wolfgang Benz, »nicht an das Grauenhafte zu denken, Unerwünschtes nicht wahrzunehmen«. Unter den Besatzern in Boryslaw ist das noch weit schlimmer. Nicht Apathie und Verdrängung prägen die Mehrheit der Deutschen dort, nein, die meisten innerhalb des örtlichen Okkupationsregimes sind Teil des Mordapparates oder unterstützen ihn zumindest bewusst. Wenn Berthold und Else Beitz also, wie sie sagen, »einfach als Menschen handeln«, dürfen sie nicht auf Verbündete hoffen. Sie widersetzen sich einem Staat, der die Unmenschlichkeit zum System gemacht hat, müssen mit und unter Leuten leben, deren verrohtes Handeln und Denken sie nicht fassen können. Berthold Beitz hat weder damals noch später je begreifen können, was »ganz normale Männer« zu Mördern werden lässt: »Ich weiß es einfach nicht. Mit welcher Selbstverständlichkeit sie auf ihre Opfer schossen, mit welcher Leichtigkeit, ohne Gefühlsregung – als wären sie beim Tontaubenschießen. Ich fürchte, wenn man die Menschen loslässt, sind nicht wenige wie Raubtiere.«
Die Einsamkeit des Ehepaares in Boryslaw ist der Spiegel, in dem Schuld und Mitschuld so vieler anderer nur umso deutlicher zu erkennen sind. Die Erfahrungen, die Else und Berthold Beitz in Polen machen, sind das genaue Gegenteil dessen, was sich die Nachkriegsgesellschaft – durchaus in beiden Teilen Deutschlands – mehrheitlich einzureden versuchte: dass am Holocaust Hitler schuld war, die SS, »die Nazis«, eine kleine Minderheit.
Aber in Boryslaw stimmt das nicht. Da ist die Wehrmacht, die weder Kraft noch Mut hat, Pogrome zu unterbinden; im Gegenteil, viele Soldaten beteiligen sich gar, wie etwa jene, die in Boryslaw aus Spaß am Quälen jüdische Zwangsarbeiter dazu zwingen, von einer Brücke in flaches Wasser zu springen, wobei sich die meisten schwer verletzen. Da ist die Zivilverwaltung, die aktiv bei der Organisationeines beispiellosen Völkermordes mitwirkt, als sei die »Entjudung« von Stadtvierteln und Dörfern ein ganz normaler dienstlicher Vorgang im Amtsalltag. Da sind die Arbeitsbehörden, die ebenfalls zu Herren über Leben und Tod werden, denn wer nicht arbeiten kann oder darf, wird bald des Todes sein. Da sind deutsche Vorarbeiter in den Betrieben, die sich als Herrenmenschen gerieren und der SS bei der Menschenjagd helfen, deutsche Kollegen, die bei der Gestapo »Judenhelfer« anzeigen. Da ist die Schutzpolizei, eine Bezeichnung, die als grausame Farce erscheint angesichts der Mörder in Uniform, die das Recht bewahren sollten und es täglich mit Füßen treten. Da ist die Reichsbahn, welche die Opfer mit großem Aufwand fortschafft, am Ende noch vor der nahenden Front. Und da sind die Rüstungsbetriebe, die sich, wenn auch selten aus moralischen Gründen, in einem tatsächlichen Interessenkonflikt mit der SS und den anderen Vollstreckern der »Endlösung« befinden – nämlich durch den Wunsch, ihre jüdischen Facharbeiter zu behalten – und die doch am Ende fast immer nachgeben.
Natürlich haben nicht alle Beteiligten alles gewusst oder auch nur gebilligt. Kollektive Schuld gibt es nicht. Aber alle diese Institutionen des Besatzungsregimes zusammen bilden das gewaltige Räderwerk eines einer wahnhaften Ideologie entsprungenen, einzigartigen Völkermordes, wie der Historiker Eberhard Jäckel schreibt: »Nie zuvor hatte ein Staat beschlossen, eine von ihm bestimmte Menschengruppe einschließlich der Alten, der Frauen, der Kinder und Säuglinge ohne jegliche Prüfung des einzelnen Falles möglichst restlos zu töten, und diesen Beschluss mit nur allen möglichen Machtmitteln in die Tat umgesetzt.« Und nur wenige wagen es, sich dem Ganzen zu widersetzen.
Berthold und Else Beitz aber wagen genau das. Was sie getan haben, bezeichnen Historiker neuerdings als »Rettungswiderstand«. Es ist ein Begriff, der manches für sich hat; doch hätte das Ehepaar Beitz damals in Boryslaw wenig mit ihm anfangen können. Sie gehören nicht dem politischen Widerstand an und empfinden ihr Handeln auch nicht als solchen. Berthold Beitz ist zwar Feldwebel der Reserve und als Ölmanager dem Oberkommando des Heeres direkt unterstellt, hat aber keine Verbindung zur Militäropposition etwa des 20. Juli. Auffällig sind Ausmaß und Intensität der Rettungsaktionen des Ehepaars Beitz für Menschen, die ihnen persönlich oftmals völlig unbekannt sind. Beide sind nicht antisemitisch eingestellt, aber sie haben zu Juden bis dahin wenig Kontakt gehabt, und die Verfolgten von Boryslaw hat keiner von beiden vorher je zu Gesicht bekommen. Auf die »Begünstigung« von Juden stehen schwere Strafen. Konzentrationslager oder Tod wären die sichere Folge.
Beitz erklärt seine Handlungen im Rückblick so: »Ich war kein Held, ich habe einfach als Mensch gehandelt.« Das ist der entscheidende Punkt: der menschliche Impuls, der immer drängender wird, je scheußlicher die Szenen sind, die er in Boryslaw erlebt: »Ich musste es einfach tun.« Was er dort sieht, schon beim Pogrom in den ersten Tagen der Besatzung, verstößt gegen alle Werte, mit denen er aufgewachsen ist, vor allem aber ist es eine spontane humane Reaktion. Er sieht verzweifelte, entrechtete, völlig unschuldige Menschen und empfindet mit ihnen: »Ich habe aber gar nicht viel nachgedacht, als ich versuchte, so viele Juden wie möglich für meinen Betrieb zu reklamieren und so zu retten. Nein, ich habe darüber eigentlich gar nicht nachgedacht. Ich habe spontan gehandelt, aus dem Gefühl heraus.« Noch etwas mag hinzukommen: »Wir waren sehr jung. Wäre ich älter gewesen, hätte ich vielleicht mehr über die Gefahr nachgedacht.«
Spontaneität allein aber ist es nicht. Er ist innerlich frei genug, zu handeln und zu widerstehen, diese Freiheit ist die Quelle seiner Kraft. Er handelt instinktiv und rasch – gleichgültig wegzuschauen erlaubt ihm sein Gewissen nicht. Er hätte freilich, wie so viele andere, ein angewiderter Zuschauer sein können, der die Mordtaten missbilligt, sich aber mit hilfloser Geste abwendet: Was kann man schon tun?
Beitz beweist, dass man sehr wohl etwas tun kann. Dabei geht es in vielen Fällen zu wie in einer antiken Tragödie: Schon morgen kann in Boryslaw die Rettungstat von heute umsonst gewesen sein, weil der eben noch vor dem Tod Bewahrte der SS erneut in die Hand fällt oder eine weitere »Aktion« beginnt. Helmrichs Tochter Cornelia Schmalz-Jacobsen wird später in einem Buch über ihre Eltern schreiben: »Die Geschichten der Geretteten und ihrer Rettung sind nicht so eindeutig oder gar so einfach, dass sie sich ohne weiteres einordnen oder etikettieren ließen.« Beitz wird in seinem langen Leben noch manches Mal wach liegen und sich fragen: »Hätte ich noch mehr Menschen retten können?« Es wäre wohl kaum möglich gewesen. »Aber die Frage treibt mich immer noch um«, sagt er heute. Es gibt so viele Leben, die er nicht retten kann in Boryslaw. Oft ist er erfolgreich, aber oft verspürt er auch eine furchtbare Ohnmacht gegenüber dem gewaltigen Vernichtungsapparat, der in dieser Welt ohne Gnade und Moral Tausende Menschenleben verschlingt. Ein Einzelner kann ihn nicht stoppen. Hätte er also mehr Menschen retten können? Welche Antwort gibt er sich? Kann man sich auf eine solche Frage überhaupt eine Antwort geben? Er sagt schlicht: »Ich stelle mir die Gegenfrage: Wo? Und wann? Ich bin doch an den Rand des Möglichen gegangen.« Er, Beitz, muss sogar etwas tun, wenn er nicht selbst das Vertrauen in das Leben verlieren will. Das Gefühl der Ohnmacht wäre für ihn unerträglich, schlimmer als das Wagnis, das er eingeht; die Hilflosigkeit würde ihn ein Leben lang begleiten als ständiger Selbstvorwurf, nicht gehandelt zu haben. Berthold Beitz handelt also, geschützt von einem inneren Panzer: »Ich musste innerlich sehr hart sein. Wenn ich zu sensibel gewesen wäre, wäre ich dort in Boryslaw verrückt geworden.« Verrückt geworden wäre er wohl, wenn er nichts getan hätte.
Vielen Menschen geht es so, die im Dritten Reich unfreiwillige Zuschauer von Gräueltaten waren. In seinem erfolgreichen Roman Am grünen Strand der Spree schildert der Schriftsteller Hans Scholz 1955 vor dem Hintergrund der eigenen Kriegserfahrungen das Trauma eines Soldaten, der in Lettland Zeuge eines Massakers an Juden durch die SS-Einsatzgruppen wird und seine Erlebnisse niederschreibt. Erstarrt verfolgt er, wie zuletzt ein kleines jüdisches Mädchen erschossen wird: »Da sinkt ein Schleier, zart gemustert, von einzelnen blassen Schneeflocken, als flüstere irgendwo jenseits der Grenzen des stummstockenden Himmels sich das Wörtchen: Gnade. Es schneit. Einer der Schützen beugt sich über das Kind. Die Kleine wird noch während ihrer Ohnmacht erschossen. Das ist die Gnade.« Der Soldat hastet entsetzt davon, vor den Schuldgefühlen aber wird es für ihn kein Entkommen geben: »Er rennt, er rennt, der feige Herr aus Deutschland, rennt zu den Bahndämmen.« Und meldet bei seiner Kompanie: »Auf Wache nichts Neues!« – »Danke, alles in Ordnung, Willms?« – »Jawohl, Herr Hauptmann!«
Beitz läuft nicht davon. Manchmal, wie am Bahnhof 1942 oder im »Colosseum«-Kino 1943, holt er Dutzende, ja Hunderte Menschen wieder heraus. Aber an den meisten anderen Tagen ist es ein zähes, kraftraubendes Ringen um jedes einzelne Leben. Um das von Janek Bander, um das von Jurek Rotenberg, um das von Ludwig Hiss, die er alle gar nicht kennt, Kinder von Mitarbeitern, die sich in ihrer Not an ihn wenden. Niemals kann er vorhersagen, ob er diesen Kampf um jedes Leben gewinnen wird oder nicht – oft genug kann er ihn gar nicht gewinnen. Aber eines kann er nachher von sich behaupten, oder lassen wir es Janek Bander für ihn sagen: »Wenn ich eines weiß, dann das: Herr Beitz hat wirklich alles versucht, um uns zu helfen.« Er hat viele nicht retten können, das treibt ihn noch immer um. Manchmal aber gelang es gegen alle Wahrscheinlichkeit: »Das tröstet mich bis heute.«
Er ist allein, als er vor wütenden SS-Männern steht, sie herausfordert, als er nicht nachgibt, was auch immer sie sagen und wie laut sie auch brüllen. Beitz spürt instinktiv, wie er Macht über seine Widersacher gewinnen kann, psychologische Macht, denn eine andere hat er nicht. Evelyn Döring, eine seiner wenigen Vertrauten in dieser Welt ohne Vertrauen, hat das so beschrieben: »Die SS-Männer standen wie erstarrt irgendwie machtlos dieser überwältigenden Persönlichkeit – und Herr Beitz trug doch zivil! – gegenüber. Ein anderer wäre an seiner Stelle glatt von der SS erschossen worden. Wer diese Zeit nicht miterlebt hat, kann sich kaum ein Bild davon machen, in welcher Lebensgefahr Herr Beitz geschwebt und seine Getreuen geschwebt haben.«
»Ich stand auf dem Bahnsteig und spürte so etwas wie eine große innere Sicherheit«, sagt Beitz heute, »wenn ich Angst gehabt hätte, wäre ich verloren gewesen. Ich durfte keine Angst haben, und ich hatte sie auch nicht.« Er tut das Richtige, und dafür muss er handeln, sofort, hart und entschlossen. »Das war das Wichtigste, entschieden zu handeln und nicht lange zu überlegen: Was soll ich nur tun, da steht die SS, daneben die Polizei, wie gefährlich ist das denn jetzt? Nein, ich bin ganz kühl und kalt geblieben.« Er weiß selbst nicht recht, warum. Im Jahr 2009 erzählt er einmal jungen Auszubildenden einer Geschichtswerkstatt von ThyssenKrupp von Boryslaw. Es wird ganz still im Raum, als er am Ende wie zu sich selbst sagt: »Es war, als ob eine andere Person neben mir gestanden hätte, ein anderer Berthold Beitz. Als ob ich gar nicht ich selber gewesen sei.« Aber vielleicht ist es in Boryslaw auch gerade umgekehrt: Vielleicht ist er gerade dort ganz er selbst.
Er ist in Boryslaw auch äußerlich eine beeindruckende Erscheinung: groß, blond, blauäugig, gut gekleidet, ein Mann, der seinem Gegenüber unbeirrt in die Augen blickt und nicht erkennen lässt, was in ihm vorgehen mag. Nicht wenige höhere SS-Offiziere, die ja oft selbst keineswegs ihrem Idealbild der »arischen Rasse« entsprechen, dürften sich wünschen, sie sähen so aus. Er strahlt, kaum dreißig Jahre alt, eine Autorität aus, die sie erst durch Macht, Gewalt und Peitschenhiebe zu erzwingen versuchen.
Vom einfachen Chargen bis zum mächtigen SS-Sturmbannführer – sie alle sind es gewohnt, Furcht zu verbreiten, die Stärkeren zu sein, die Demut, die Angst, die Unterwerfung anderer zu erleben. Bei Beitz ist es anders: Ihn umweht der Nimbus, er genieße die Protektion mächtiger Gönner im Reich, und deshalb wagen sie es nicht, ihn anzurühren. Er nutzt das für seine Rettungsaktionen, und im Rückblick sagt er: »Ich kenne die Deutschen. Wenn man fest, klar und bestimmt auftritt, dann respektieren sie einen. Wenn man weich ist oder verzweifelt, bringen sie einen um.« Er ist bis an die Grenzen des Möglichen gegangen: »Ein Fehler, und ich hätte niemandem mehr helfen können. Dann wäre ich ein toter Mann gewesen.«
Wie der Historiker Raul Hilberg feststellte, hatten »die humanitären Helfer äußerlich gesehen wenig gemeinsam«. Der Nazismus stieß sie ab, aber eine politische Überzeugung, welche sie geeint hätte, gab es nicht. Albert Battel, den Offizier und Retter von Przemyśl, trennten Welten von Valentin Beck, einem Volksdeutschen aus dem polnischen Zolkiew, der als notorischer Säufer, Schürzenjäger und sogar als Nazi galt und dennoch mehrere jüdische Familien in einem Keller über Jahre vor den Mördern verbarg. Den moralisch prinzipienfesten Menschen Berthold Beitz trennt vieles von Oskar Schindler, dem bekanntesten deutschen Judenretter, dem Glücksritter, Frauenheld und Parteimitglied, der doch die Stimme des Gewissens in sich entdeckte und dem mehr als 1200 Menschen ihr Leben verdanken. Unter ihnen war übrigens auch Beitz’ 1944 aus Boryslaw deportierte Sekretärin Hilde Berger, die sogar die berühmte Liste Schindlers getippt hat. Was sie aber alle eint, ist die Menschlichkeit unter einem Regime, das die Unmenschlichkeit auf seine Banner geschrieben hatte.
In ihrem beeindruckenden Bericht über ihre Eltern, das Ehepaar Helmrich, schreibt Cornelia Schmalz-Jacobsen über die Retter, die nach dem Wunsch der Gedenkstätte Yad Vashem »zu Helden des deutschen Volkes werden« sollten: »Daraus ist nichts geworden. Aber zu Helden oder gar zu Heiligen wollten sie selbst ja gar nicht gemacht werden. Doch eine Leitlinie für die nachwachsende Generation zu ziehen wäre sicher in ihrem Sinne gewesen.« Dass viele – und gerade die Überlebenden – nach Auschwitz nicht an der condition humaine verzweifelt sind, verdanken sie Menschen wie den Helmrichs und Berthold und Else Beitz. Für Helmut Schmidt, den früheren Bundeskanzler, ist deren Rettungsinitiative das Gegenstück zum Versagen so vieler: »Was beide in Polen auf sich genommen haben, ist eine ungeheure humanitäre Leistung – sie zeigt, wozu die Menschen auch im Guten fähig sind.«
»LAUFT IN DIE WÄLDER«: DAS ENDE 1944
Wahrscheinlich hätte Beitz schon seit Sommer 1943 ohne seinen Druck auf Hildebrand nicht mehr viel ausrichten können. So ist es ihm gelungen, mehr als 1200 Juden als echte oder angebliche Rüstungsarbeiter bei der Boryslawer Betriebsinspektion der Ölfirma durch das fürchterliche Jahr 1943 zu bringen. Im November jedoch spitzt sich die Lage weiter zu, als die Karpathen-Öl auf Druck der SS beginnt, »nach strengem Ermessen zu entscheiden, wer wirklich für uns als Fachkraft unersetzlich bzw. äußerst wichtig ist und wen wir evtl. abgeben können … Dies kann dazu führen, daß uns beispielsweise zwei Drittel genommen werden, ein Drittel, die aber besonders wichtig für uns sind, für uns um so sicherer sind.« Ähnliche Schritte erwarte man nun auch vom Direktor Beitz in Boryslaw. Dieses Schreiben ist typisch für die Kapitulation der Rüstungswirtschaft vor dem Vernichtungswillen des Regimes. Angesichts der zurückweichenden Ostfront hat die Ermordung der letzten überlebenden Juden Vorrang vor allen anderen Erwägungen – eben auch den ökonomischen. Für Beitz und seine Schutzbefohlenen ist diese Entwicklung eine Katastrophe. Der Kreis der Juden, den er »legal« noch zu schützen vermag, wird noch einmal deutlich kleiner, und auch seine eigene Lage wird nicht gerade dadurch besser, dass er tatsächlich sehr viele Menschen beschäftigt, die nicht das sind, für das er sie ausgegeben hat, nämlich unersetzliche Facharbeiter in der Ölproduktion. 384 von noch 1231 bei ihm beschäftigten Juden gelten fortan als »entbehrlich«; offenbar aber hat Beitz anschließend die Liste der bei ihm beschäftigten Juden systematisch verändert, »um ungelernte Arbeiter und Hilfskräfte auf dem Papier zu Facharbeitern zu befördern«.
Zu diesem Zeitpunkt ist Berthold Beitz’ Zeit in Boryslaw allerdings fast schon abgelaufen; doch solange er noch da ist, bleiben auch die »entbehrlichen« Juden aus dem Arbeitslager am Leben. Schon 1943 wäre er einmal beinahe an die Front eingezogen worden, im März 1944 ist es dann endgültig so weit. Die Wehrmacht, die nach den furchtbaren Verlusten an der Ostfront den Mangel an kampffähigen Männern zu spüren beginnt, durchkämmt nun die Unternehmen. Im Volksmund nennt man das »Heldenklau«, und der erwischt nun den Feldwebel der Reserve Berthold Beitz. Er hat es längst geahnt. »Meinen Leuten habe ich gesagt: Haut ab, lauft in die Wälder.«
Er ist durchaus im Bilde über das, was im Umfeld der Stadt geschieht. Längst nämlich haben die letzten Juden von Boryslaw begonnen, in unwegsameren Waldstücken getarnte Bunker und Höhlen anzulegen; teils bezahlen sie Polen für diese Arbeit. Keiner hegt mehr Illusionen über die Absicht der Besatzer, die Juden der Stadt möglichst vollständig zu ermorden. Zu denen, die in mühseliger Kleinarbeit einen solchen Bunker aus der Walderde schaufeln, gehört Janek Bander. Manchmal sieht er deutsche Patrouillen, die den Wald durchstreifen. Aber allzu intensiv, so stellt er zu seiner Erleichterung fest, sind die Nachforschungen nicht. Offenbar wissen die Verfolger nichts Konkretes über die geheimen Verstecke.
Auch Salek Linhard hat sich in die Wälder abgesetzt, nachdem ihn sein volksdeutscher Chef in der Ölraffinerie schwer verprügelt hat. Das Verbrechen des Jungen: Er sollte dem Mann mittags Suppe bringen, stolperte aber über einen Stein und verschüttete den Teller. Als er den Hass in den Augen seines Peinigers sieht, geht Salek in die Wälder, er weiß, wohin. In Boryslaw, denkt er, wartet nichts als der Tod.
Der Bunker ist noch nicht fertig, aber Salek bleibt als Einzigertrotzdem auch in den Nächten dort. Er kann nirgendwo mehr hin, ein halbwüchsiger Junge allein mit all seinen Ängsten unter dem weiten Sternenhimmel. Tagsüber hilft er, die raffiniert unter Baumstämmen getarnte Anlage weiter auszubauen. Dann jedoch kommt ein Freund aus Boryslaw mit einer Nachricht, und Salek glaubt, sein Herz bleibe stehen: »Die Gestapo hat deinen Vater verhaftet.«
Ein zweites Mal zieht Salek Linhard los, um den Vater zu befreien. Die Freunde vom Bunker wollen ihn beinahe mit Gewalt zurückhalten: Jeder, der vom Versteck weiß und in die Hände der Nazis fällt, bringt das Leben aller anderen in Gefahr. »Bleib hier«, rufen sie, »es hat keinen Sinn! Du kannst ihn nicht mehr retten.« Es kümmert Salek nicht. Er läuft zwanzig Kilometer durch die Wälder nach Boryslaw und erreicht die Stadt bei Anbruch der Dunkelheit. Wenn einer helfen kann, denkt er, dann ist es Beitz.
Salek geht vorsichtig durch die vertrauten und doch so gefährlichen Straßen. Jeder Bekannte kann ein Feind und Verräter sein, hinter jeder Hausecke können die Ukrainer lauern. Am frühen Morgen, als die Sonne schon am Himmel steht, gelangt er zum Haus der Familie Beitz und klopft hastig. Doch der Direktor ist bereits ins Büro gefahren. Else Beitz öffnet, und wieder, wie anderthalb Jahre zuvor, bittet Salek die junge Frau um Hilfe: »Die haben Vater verhaftet, und nur Ihr Mann kann ihm helfen.« Else Beitz sieht den Jungen traurig an, dann sagt sie: »Warte hier, ich rufe ihn an. Mehr kann ich leider nicht tun.« Salek steht im Vorraum und hört sie mit ihrem Mann sprechen, dann kommt sie zurück. »Hör zu, Salek: Er hat gesagt, er wird alles versuchen. Geh zurück dahin, wo du sicher bist.« Er werde eine Nachricht erhalten, sobald es möglich ist.
Zwei Tage bleibt Salek bei seiner Schwester in Boryslaw, dann kommt Beitz’ jüdischer Buchhalter. Er sagt: »Ich komme im Auftrag von Herrn Beitz, es tut ihm sehr leid und mir auch. Dein Vater ist leider tot. Er lebte schon nicht mehr, als du nach Boryslaw kamst. Die Gestapo hat ihn mit nach Drohobycz genommen und dort erschossen.«
So gehört Jitzhak Linhard zu jenen, die Berthold Beitz am Ende doch nicht retten konnte. Er hat ihn 1942 auf dem Sammelplatz am Bahnhof vor der Deportation bewahrt und später als Rüstungsarbeiter dem Zugriff der SS entzogen, aber am Ende hat es nicht gereicht. Doch was mit dem Vater misslingt, gelingt mit dem Sohn. Salek verdankt sein Leben dem deutschen Direktor, der 1942 vor der Halle am Bahnhof mit Nachdruck erklärt hat: »Der Junge da gehört zu mir.« Und eines sagt Salek bis heute voller Überzeugung: »Herr Beitz hat meinen Vater nicht retten können. Aber ich bin sicher: Er hat es versucht.«
März 1944. Seine engsten Mitarbeiter, wie Evelyn Döring, lädt Beitz zum Abschied noch einmal in sein Haus ein. Es ist ein trauriger Abschied. Else fährt mit der kleinen Barbara zu den Schwiegereltern nach Greifswald, Beitz selbst muss zur Wehrmacht einrücken. Noch einige Wochen hängt sein Namensschild an der Bürotür. Und immer wieder fragen Hilfesuchende: »Wann kommt der Direktor zurück?« Immerhin ist er ja schon zweimal wiedergekommen, 1942 nach der Reise zur Gestapo und im Jahr darauf nach der ersten Einberufung. Mit der ihr eigenen Entschlossenheit sichert sich Evelyn Döring einen der Stempel mit dem Schriftzug »Beitz« und stempelt damit noch manches rettende Dokument. »Solange das Schild ›BEITZ‹ an der Tür hing, hofften alle, sie würden ein Wiedersehen begehen können«, wird sie Beitz später schreiben. Sie selbst weiß es besser: Er wird nicht mehr zurückkommen.
DIE ÜBERLEBENDEN
Wie viele Menschen insgesamt Berthold Beitz ihr Überleben verdanken, ist nicht exakt zu beziffern. Allein bei der »August-Aktion« der SS im Jahr 1942 waren es mehrere hundert Juden. Leider sind viele, die er zum Beispiel vor den Deportationen 1942 gerettet hat, in den folgenden Jahren doch noch ermordet worden, als immer weniger Juden übrig blieben und die Spielräume für ihre Rettung dramatisch kleiner wurden. Andere, wie Mina Horowitz, hat er gleich mehrmals herausgeholt. Manche der von ihm bis dahin beschützten Juden starben dann nach dem März 1944, als Beitz eingezogen wurde und die SS zwischen April und Juli die jüdischen Zwangsarbeiter deportierte. Auch Hilde Berger, Arthur Birman und Jozef Hirsch wurden damals verschleppt, überlebten jedoch. Von den Lagerinsassen wiederum ist eine größere Anzahl rechtzeitig geflohen, wie Beitz es ihnen geraten hatte. Es gibt andere, wie Jurek Rotenberg, den Beitz persönlich gar nicht kannte und dessen Leben er dennoch durch Ausgabe eines »R«-Abzeichens gerettet hat. Es dürften insgesamt mehrere hundert Menschen sein, die dank seiner 1945 noch am Leben sind.
Fast siebzig Jahre später leben nur noch wenige Zeitzeugen, die von Beitz gerettet wurden. Viele sind nach Beitz’ Abberufung 1944 auf dramatischen Wegen in die Freiheit gelangt, etwa die Personen, die für dieses Buch ihre Erlebnisse geschildert haben:
Janek (heute: Jacov) Bander, Jahrgang 1929, überlebt dank des rettenden »R«-Abzeichens. Im März 1944 flüchtet er in einen der versteckten Waldbunker, geht dann aber in eine Falle der Schutzpolizei. Gemeinsam mit seinem Vater Oskar wird er bei der letzten großen Deportation aus Boryslaw, nach der Räumung des Zwangsarbeiterlagers durch Hildebrand im April 1944, ins Konzentrationslager Plaszow deportiert und dort Opfer einer »Selektion« durch den berüchtigten Auschwitz-Arzt Josef Mengele: »Er ließ uns alle nackt antreten und stand vor uns, in einem weißen Pelzkragen, umgeben von einem Hofstaat von Offizieren. Mit einer Handbewegung sortierte er die Männer aus: Stärkere nach links, die Schwachen nach rechts.« Janek soll nach rechts, wechselt aber heimlich die Reihe. So überlebt er einmal mehr. Vater und Sohn werden nach Westen deportiert und müssen in einem Bergstollen Zwangsarbeit leisten, beim Bau der deutschen Düsenjäger Me 262. Durch Schläge eines Wächters wird Oskar Bander verletzt; er hat eiternde Wunden am Arm. Als sein Sohn auf dem Krankenrevier nach ihm fragt, bekommt er zur Antwort: »Der ist tot.« Sie haben ihm eine Giftinjektion gegeben. Vor der nahenden Front ins österreichische Lager Ebensee verschleppt, ist Janek Bander dabei, als sich die Häftlinge einen Tag vor Kriegsende weigern, »auf Evakuierung zu gehen«. Dann sind die Amerikaner da.
Bander emigriert nach Israel, tritt der Eliteeinheit der »Golani«-Brigade bei und kämpft als Soldat in den Kriegen von 1948, 1967 und dann 1973 im Yom-Kippur-Krieg, dort ist er dabei, als Israels Armee im Gegenangriff den Suezkanal überquert. Er hasst die Deutschen nicht, sagt er, denn es gibt Berthold Beitz – und die Riederers in Dietenheim. Die Bauernfamilie hat 1944 eine halbwüchsige jüdische Zwangsarbeiterin aus Polen buchstäblich von der Straße aufgelesen und, als Polin getarnt, bei sich versteckt. Es ist Mania, Janeks große Liebe und spätere Frau.
Ludwig (heute: Larry) Hiss, geb. 1928, Jurek Rotenbergs Freund und Nachbar, den Berthold Beitz gemeinsam mit Janek Bander aus den Fängen des Sadisten Nemec befreit hat, wird nach dem Krieg als Kriegswaise in die USA gebracht. Dort will ein reiches jüdisches Ehepaar den einsamen Jungen aus Polen adoptieren, aber Ludwig weigert sich. Seine Eltern sind tot, ermordet, und er wird zu niemandem mehr Mutter und Vater sagen, wie gut sie es auch meinen mögen. Er läuft einfach davon, meldet sich freiwillig bei der US-Armee. Später bringt er es zum erfolgreichen Immobilienunternehmer. Er lebt in Ann Arbor, Michigan. Larry Hiss hält weiterhin Kontakt zu seinen alten Freunden aus Boryslaw. Über Beitz sagt er heute: »Ich weiß nicht, wie er es gemacht hat, aber er hat uns und viele andere da rausgeholt. Er hat mir den Glauben an die Menschen zurückgegeben.«
Anita Lauf (heute: Anita Nirgad): Das Mädchen, das Jurek Rotenberg auf dem Schulhof in Boryslaw so bewundert hat, Nichte der unglücklichen Lizzy Lockspeiser, überlebt mit ihren Eltern und ihrem Onkel Hermann außerhalb von Boryslaw. Mit Hilfe eines Dienstmädchens kommen sie im Haus einer streng katholischen Familie unter, die es als Christenpflicht versteht, den Juden zu helfen. Sie wird ihnen immer dankbar sein, aber sie weiß auch noch, wie die Hausherrin sie beim Brotbacken einmal fragt: »Wo nehmt ihr Juden denn eigentlich das christliche Blut für die Mazze [das jüdische Brot; J. K.] her?« Die halbwüchsige Anita stammelt verwirrt: »Meine Mama nimmt beim Teig kein Blut.« – »Deine Mama nicht«, sagt die Frau begütigend und mit vollem Ernst, »aber viele andere …« Nach Wien zurück gehen sie nicht. Ihr Vater sagt, er wolle in einem Land leben, in dem er sich nicht für seine Existenz rechtfertigen müsse. 1950 wandert die Familie nach Israel aus. Anita Lauf heiratet einen israelischen Diplomaten und hat zwei Töchter. Sie lebt heute in Tel Aviv.
Salek (heute: Bezalel) Linhard überlebt in dem kleinen Waldbunker nahe Boryslaw, in dem sich 19 Menschen zusammendrängen. Sein Vater hat das letzte Geld ausgegeben, um seinen beiden Kindern diesen Platz im Versteck zu kaufen, ehe er selbst ermordet wurde. Doch Saleks Schwester Clara kommt nicht, weil sie ihren Freund nicht zurücklassen will; der Platz, für den sich Jitzhak Linhard geopfert hat, bleibt leer. Salek schreit vor Wut und Verzweiflung. Die Deutschen fassen Clara kurz vor der Ankunft der Roten Armee in Boryslaw und deportieren sie nach Auschwitz. Bei der Befreiung durch die Rote Armee im Januar 1945 wiegt sie noch 29 Kilo. Der junge Linhard hat Rache im Herzen. Er will es den Deutschen heimzahlen und tut es, er wird ein harter, junger Soldat unter dem Sowjetstern. Als Rotarmist der 153. Schützendivision ist er 1945 beim Sturm auf die Festung Breslau dabei. Es sind Kämpfe ohne Gnade. Später emigriert er nach Israel und macht dort Karriere bei der Polizei. Salek – neuhebräisch: Bezalel – Linhard wird schließlich Polizeikommandeur der Stadt Ashdot.
1971 liest er in der Zeitung, Herr Berthold Beitz von Krupp aus Essen werde Israel besuchen, da seine Stiftung die Hebräische Universität in Jerusalem unterstützt. Er fragt sich: »Ist das der Mann, dem ich mein Leben verdanke?« Es kommt zu einem bewegenden Treffen. »Er erinnerte sich an mich als einen Jungen mit schönen, lockigen Haaren … und an meinen Vater, mit dem er, so sagte er, sehr interessante Gespräche geführt habe.« Das Ehepaar Beitz bittet Salek, nun Bezalel, Linhard, sie während des Besuchs zu begleiten. Er fährt auch mit ihnen nach Yad Vashem. Bevor Beitz zwei Jahre später dort als »Gerechter unter den Völkern« ausgezeichnet wird, hat auch Salek Linhard den Rechercheuren von Yad Vashem seine Geschichte erzählt.
Jurek (heute: Jerzy) Rotenberg und seine Mutter Anna haben doppeltes Glück. Im November 1943 kommen sie ausgerechnet im Keller eines Boryslawer Hauses unter, das der berüchtigte Wiener Schutzpolizist Heinrich Nemec beschlagnahmt hat. Es gehört einem jüdischen Zahnarzt. Wie manch andere seines Schlages ist auch Nemec gelegentlich auf rohe Weise sentimental – dann ist er so verzückt über die eigene Güte, dass er einige Juden leben lässt, in diesem Falle den Zahnarzt. Er gestattet dem Mann sogar, im Keller des eigenen Hauses ein Versteck für seine Familie einzurichten. Dort kommen nach der »Aktion« im November 1943 kurz auch Jurek und Anna Rotenberg unter: Der Mediziner holt so viele Juden wie möglich in dieses unwahrscheinlichste Versteck in ganz Galizien. So hören sie in ihrem überfüllten Bretterverschlag, wenn der betrunkene Österreicher wieder einen Tobsuchtsanfall hat und seinem unfreiwilligen Gastgeber droht: »Scheißjud, brauchst ned glauben, dass I di übrig lass. Die vorletzte Kugel gehört dir. Du bist Dreck, du betrügst mich. Erzähl kein’ Schmäh. Ich weiß, dass da welche im Keller sind.« Aber er wird nicht nachsehen. Bald flüchten die Rotenbergs, erneut mit Hilfe der Freundin Krystyna, und finden Unterschlupf bei einer polnischen Bauersfrau. Dort halten sie sich versteckt, bis zur Befreiung durch die Rote Armee im August 1944. Über Schlesien und Italien emigrieren sie 1950 nach Israel. Anna bleibt dort Pianistin, der Sohn wird Schiffsmakler im Hafen von Haifa und bereist die Meere. In den fünfziger Jahren dient Jurek als Grenzwache in Jerusalem, nahe der Hebräischen Universität. Er hat ein Gewehr, aber er liebt es nicht. Seine Gesundheit bleibt nach den Jahren der Entbehrungen angeschlagen. 2001 fährt er mit Larry Hiss nach Boryslaw in die Ukraine. Danutas Haus, von dessen Dachluke aus er Beitz’ Eingreifen auf dem Bahnhof beobachtet hat, steht noch. Der alte Garten ist verwahrlost, Autowracks stehen darin. Nichts erinnert an früher.
Das Schröder-Piano übersteht den Krieg, versteckt bei Krystyna Tympalska, und eine abenteuerliche Reise quer durch Europa und über das Mittelmeer. Jurek Rotenberg spielt noch immer darauf.