Beitz in Essen: »Was Krupp nicht sagt, sage ich«
»UND JETZT DEN DECKEL DRAUF!«
So etwas haben die Direktoren und Bergassessoren noch nicht gesehen. Sie kannten Geschütze und Lokomotiven, Panzer und Schiffe – alle geschaffen aus Kruppstahl. Aber hier, in der großen Essener Werkshalle, steht nun im Jahr 1959 eine metallisch glänzende Kugel von zweieinhalb Metern Durchmesser mit einem kleinen Rundfenster – ein Objekt, das wirkt, als sei es einem Comic-Heft mit Weltraumabenteuern entsprungen, die man neuerdings am Kiosk kaufen kann. Dabei trägt es die irdischen drei Ringe mit dem Namen des Erbauers: »Fried. Krupp.« Die Tiefsee-Tauchkugel ist mit Krupp’scher Perfektion so entworfen, dass sie noch 22 Kilometer unter dem Meeresspiegel dem Wasserdruck standhalten würde – und kein Ozean der Welt ist so tief. Ein Jahr später sinken der Schweizer Meeresforscher Jacques Piccard und der amerikanische Marineleutnant Don Walsh damit in die nachtschwarze, unerforschte Welt des pazifischen Marianengrabens, auf 10 910 Meter unter dem Meeresspiegel – so tief wie kein Mensch vor oder nach ihnen.
Zur Runde in Essen tritt nun Berthold Beitz, in elegantem Anzug und Weste, mit Krawatte und Einstecktuch, jugendlichem Habitus und lockerem Auftreten, das volle Haar nach hinten gekämmt. An die überwiegend grauhaarigen Herren gewandt, deren Begeisterung sich erkennbar in Grenzen hält, fragt er: »Na, war schon mal einer drin?« Die Stahldirektoren schütteln den Kopf. »Na dann«, sagt Beitz, zieht das Jackett aus und klettert in weißem Hemd und dunkler Weste in die Stahlkugel hinein, zur Freude der Fotografen. Kaum ist er drinnen verschwunden, murmelt einer aus dem Kreis der leitenden Krupp-Veteranen vernehmlich: »Und jetzt den Deckel drauf, die Gelegenheit ist günstig.«
EIN EMPFANG, SO KALT WIE EIS
30. Oktober 1953. Mehr als ein Jahr ist vergangen seit jener Geburtstagsnacht, in der Berthold Beitz seine Frau Else mit der Nachricht weckte, man werde bald nach Essen umziehen. Froh hat sie das nicht aufgenommen. Als Beitz am Essener Hauptbahnhof aus dem Schnellzug steigt, weiß er eines ganz genau: An diese neue Heimat wird er sich gewöhnen müssen. Es sind die Jahre, als der Pott noch – oder damals: gerade wieder – kocht. So sagt man an der Ruhr.
Gewiss, im von Bomben verwüsteten Zentrum Essens entwickelt sich eine neue City, werden Warenhäuser gebaut und Bürogebäude. Das Herz der Stadt aber schlägt im Rhythmus der Schwerindustrie, so wie es das seit 1850 immer getan hat. Schwaden von Kondenswasser wehen wie Nebel um die gigantischen Kühltürme der Kokerei Zollverein. Über die dunklen Backsteinhäuschen der Arbeitersiedlungen in Altenessen ragen die Fördertürme und Schlote wie mittelalterliche Trutzburgen.
Die Stadt selbst ist vom Krieg schwer gezeichnet. Als in den Kriegsnächten immer öfter die Sirenen geheult und die Lichtfinger der Flakscheinwerfer nach den Bombern am Himmel gesucht hatten, kursierte in der Arbeiterschaft ein spöttisches Bittgedicht: »Ach, lieber Tommy, flieg doch weiter! Hier sind nur die Ruhrarbeiter. Flieg doch weiter, bis Berlin! Die haben viel lauter geschrien!«
Ihre Bitte wurde nicht erhört. Im Mai 1945 ist der innere Bereich Essens zu 90 Prozent zerstört, mehr als zwölf Millionen Kubikmeter Schutt bedecken die Stadt und nicht zuletzt das Gelände der gigantischen Gussstahlfabrik, die zu weiten Teilen ein Trümmerhaufen ist. Zwei Drittel der Krupp’schen Werke in Essen sind zerstört oder schwer beschädigt. Und vieles, was noch steht, fällt schließlich der Demontage durch die Sieger zum Opfer.
Überall dort, wo das Feuer vom Himmel gefallen ist, stehen noch Ruinen. Hier und da hängt man Werbeschilder an die brüchigen Fassaden. Unverdrossen legen die Essener Schrebergärten in den Brachen an, die der Krieg geschlagen hat. Rund um den alten Wasserturm der »Eisernen Hand« wachsen nun Salat, Kohlköpfe, Rüben.
Etwa zu der Zeit, als Beitz nach Essen kommt, beginnt ein junger Mann durch die Stadt zu ziehen, eine Leica in der Hand. Horst Lang ist Laborant im Photogeschäft Küllenberg am Kopstadt-Platz, hier trifft er den Fotografen Albert Renger-Patzsch, einen Meister seines Fachs. Dieser hat im alten Ruhrgebiet etwas erkannt, was viele, gerade Auswärtige, nicht sehen wollten oder konnten: Schönheit, Würde, Heimat hinter den rauchenden Schloten und Fördertürmen.
Ende der fünfziger Jahre wird der Kölner Fotograf Chargesheimer die Bildreportage Im Ruhrgebiet veröffentlichen und Heinrich Böll ein denkwürdiges Vorwort dazu schreiben: »Die Vorstellung, daß Menschen hier leben, mag dem Fremden, der am Abteilfenster steht, phantastisch vorkommen, obwohl er die Menschen sieht …; er glaubt nicht an diese Menschen, hält sie für Phantome, Verlorene, Verdammte.« In dieser Welt sei die Farbe Weiß »nur ein Traum«. Chargesheimer wiederum hat dazu eine düstere, dunkle Bilderwelt geschaffen. Horst Lang hat das nicht gefallen: »Der ist da mit seinen Vorurteilen durchmarschiert, und die hat er dann fotografiert.«
Auf Langs Bildern ist das anders. Er will nichts verklären und nicht anklagen. Er will zeigen, wie es ist. Da sind Ruß und schwarze Fassaden alter Bergmannshäuser zu sehen, spielende Kinder auf den Bahndämmen und Brachflächen. Da ist der kleine Eckladen im Schatten der Zeche Victoria Mathias an der Altenessener Straße, der den Kumpels die Angebote des Tages anpreist, mit Kreide auf schwarze Schiefertafeln geschrieben: Hähnchen und Hühnerbein, Spinat und Grünkohl, Bier und »tagfrische Milch«. Da sind die Stallungen in den Hinterhöfen der geduckten Borbecker Arbeiterhäuschen und die freilaufenden Gänse, die einen Straßenköter von ihrem Futternapf fortjagen. Und da sind die Jugendlichen am Rhein-Herne-Kanal, die fröhlich am Ufer hocken und übers Wasser auf die Hafenkräne und die Schleppkähne schauen, als blickten sie auf sonnige Gestade des Südens. Das ist der Alltag jener Stadt, in der Berthold Beitz im Herbst 1953 eintrifft und in der er bleiben wird, mehr als ein halbes Jahrhundert lang.
Man wird selbst bei sehr gutem Willen nicht behaupten können, der künftige Essener habe die sensiblen Gefühle des Fotografen Lang für die neue Heimat geteilt. Immerhin war es Beitz, der nach einem früheren Besuch des Ruhrgebiets, nach einer Fahrt entlang der Ruinen und schwarzen Rauch spuckenden Hochöfen seinen verrußten Dienst-Mercedes betrachtet und seiner Entourage kundgetan hatte: »Hier möchte ich nicht tot überm Zaun hängen.« Er erzählt noch heute gern die Anekdote, er habe den »Bochumer Verein« – jenes bedeutsame Hüttenwerk, das später eine Schlüsselrolle beim Wiederaufbau von Krupp durch Beitz spielen sollte – »anfangs für einen Fußballclub gehalten«.
Berthold Beitz’ neue Arbeitsstätte ist sehr wenig dazu angetan, den Kulturschock zu lindern. Krupps Firmenleitung residiert in einem schmucklosen Bau. Er steht direkt neben dem wuchtigen, burgartigen Verwaltungskomplex an der Altendorfer Straße, der wundersamerweise die Flächenbomdardements überstanden hat. Brachen, Ruinen und Hallen mit verrußten, einsam in den Himmel ragenden Dachbalken umgeben die Schaltstelle des einstigen Weltkonzerns.
Die Runde, der Alfried Krupp am 31. Oktober 1953 seinen neuen Mann vorstellt, gleicht, wie der Spiegel Jahre später in einer Titelgeschichte über »Krupps Mörser« – eben Berthold Beitz – schreiben wird, »einem geschlossenen Eisblock«. Vor Alfried Krupps Tür haben die Direktoren gewartet, anders als Beitz, der bereits mit dem Chef in dessen Arbeitszimmer weilt – und allein das schon muss die Herren pikieren. Krupp kommt wie üblich ohne weitere Höflichkeitsfloskeln zur Sache: »Das ist Herr Beitz, der neue Generalbevollmächtigte.« Er habe sein volles Vertrauen.
Die Direktoren wollen es nicht glauben. Sie wagen zwar keinen offenen Widerspruch, aber ihre Blicke sind eindeutig, und als sich die Runde raunend entfernt, ist nicht schwer zu erraten, um was es geht: Herr von Bohlen muss von Sinnen sein. Alles an Beitz stößt bei der Führungsriege – oder besser: der bisherigen Führungsriege – auf Ablehnung. Er weiß wenig vom Ruhrgebiet, kaum etwas über Krupp, nichts über Stahl. Er ist von einfacher Herkunft, zu einfach aus Sicht seiner Feinde. Und er lässt es sie bald spüren, geradeheraus und ohne falsche Höflichkeiten. »Ihr kocht hier auch nur mit Wasser«, sagt er. In die steife Förmlichkeit des Direktoriums, das sich einmal wöchentlich trifft, passt Berthold Beitz wie ein gut gelaunter amerikanischer Saxophonist zum Gesangsverein für heimatliches Liedgut. Er trägt maßgeschneiderte Anzüge nach neuester Fasson, hat das Aussehen und mitunter das Auftreten eines Filmstars; manchen erinnert er an Clark Gable.
Auch außerhalb des Konzerns stößt Beitz auf Ablehnung. Welten trennen seine Biographie etwa von jener Hans-Günther Sohls, Vorstandsvorsitzender der August-Thyssen-Hütte und einer seiner schärfsten Kontrahenten jener frühen Jahre an der Ruhr. 1972 wird Sohl Vorsitzender des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), von dem sich Beitz stets demonstrativ fernhält. Heute sagt er: »Ich bin ein Mann, der seine Freiheit liebt, ich habe keine Funktionen im BDI gehabt, nicht im Ostausschuss der deutschen Wirtschaft. Ich gehörte dort nicht hin.« So wird er es zeitlebens halten: »Ich gehe meine Wege allein. Was ich hasse, sind all diese gesellschaftlichen Vereinigungen und Rotary-Clubs und wie sie alle heißen.«
Sohl ist nicht nur ehemaliger Krupp-Mann, sondern auch einer der »Märzgefallenen«, also jener Männer, die gleich nach dem Ermächtigungsgesetz im März 1933 hurtig der NSDAP beitraten. Er steigt auf bis zum stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden der Vereinigten Stahlwerke AG. 1945 sitzt er für kurze Zeit in einem alliierten Internierungslager, wo er Günter Henle kennenlernt, den Konzernchef der Klöckner-Gruppe, der in der Adenauerzeit ebenfalls zum mächtigen Netzwerk der Ruhr-Industriellen gehört. Hans-Günther Sohls Gegnerschaft zu Beitz mag zum Teil auch auf Neid und ein dem mächtigen Mann unvertrautes Gefühl der Zurücksetzung beruhen. Jedenfalls hat er später sogar behauptet, eigentlich habe Alfried Krupp zuerst mit ihm, Sohl, gesprochen, ob er Interesse habe, als seine rechte Hand in die Unternehmensleitung nach Essen zu kommen. Beitz sei dann aber »aus Altersgründen« vorgezogen worden. Für diese Version der Geschichte gibt es keinerlei Belege.
Beitz missfällt insbesondere eine Haltung, die Sohl ebenso verkörpert wie Fritz Berg, der BDI-Präsident von 1949 bis 1971 und ein weiterer verlässlicher Feind des Krupp-Generalbevollmächtigten. »Es gab«, so Beitz, »bei ihnen eine sehr ausgeprägte negative Einstellung gegenüber den Gewerkschaften. Aber die Firma würde doch ohne ihre Arbeiter gar nicht bestehen!« Die Attacken von Berg und Sohl gegen die soziale Marktwirtschaft, den freien Wettbewerb und die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der Montanindustrie peinigen deren Architekten Ludwig Erhard, den CDU-Bundeswirtschaftsminister. Von den »Wundertätern« wird die Journalistin Nina Grunenberg später in einem Buch über die Netzwerke der deutschen Nachkriegswirtschaft sprechen. Es sind Netze, die oft schon während der Nazizeit gestrickt wurden: »Die Wirtschaftler, die an der Heimatfront gekämpft hatten, waren da und konnten von Glück reden.«
Bergs Feindschaft zu Beitz ist von Gift durchtränkt. Der bullige BDI-Chef mit dem Schmiss aus deutschnational bewegten Tagen bei der schlagenden Studentenverbindung im Gesicht gehört zum engsten Kreis der Wirtschaftsberater Adenauers; er ist später neben dem Bankier Robert Pferdmenges und BDI-Hauptgeschäftsführer Gustav Stein Mitbegründer der berüchtigten »Staatsbürgerlichen Vereinigung«, mit der es auch Krupps Generalbevollmächtigter noch zu tun bekommen wird. Durch seine Nähe zu Adenauer wird Berg so mächtig, dass selbst die wirtschaftsnahe Frankfurter Allgemeine 1960 den »fatalen Eindruck« beklagt, »daß es offensichtlich Herr Berg ist, der die deutsche Wirtschaftspolitik bestimmt, ein höchst gefährlicher Eindruck …, gefährlich für die Demokratie«. Berg lässt Beitz immer wieder voller Missachtung spüren, dass der ein Außenseiter ist, einer, den nur eine rätselhafte Laune des mächtigen Alfried Krupp zu einem der Topindustriellen an der Ruhr, ja im Bund gemacht haben könne. Er lädt Beitz grundsätzlich nicht zu privaten Feiern ein, auch wenn sonst der ganze Ruhradel dort versammelt ist – die Festivitäten der Industriellen spielen eine wichtige gesellschaftliche Rolle. Er selbst ist Mittelständler aus dem sauerländischen Altena, ein Mann, der es weit gebracht hat. Und er lästert: Da kommt so einer aus Hamburg, der noch nie ein Stück Stahl gesehen habe, und fängt jetzt an, hier Politik zu machen. So redet Berg daher, wie sich ein anderer großer Ruhrindustrieller, Beitz’ langjähriger Weggefährte Günter Vogelsang – 1954 der erste von ihm geholte Konzernrevisor –, im Rückblick erinnert: »Fritz Berg war ein Haudegen.«
Nach der Leipziger Messe 1960 geraten die beiden selbstbewussten Männer heftig aneinander. Auf dem Krupp-Stand hatte Beitz’ Kommunikationsbeauftragter Carl Hundhausen dem DDR-Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht zugeprostet, gemeinsam mit anderen Standleitern aus dem Westen. Diese äußerlich freundliche Geste soll, wie die Beteiligten später beteuern, Ulbricht davon abhalten, in eine seiner gefürchteten politischen Tiraden zu verfallen. Diese Taktik erweist sich zwar als erfolgreich, erscheint dem Kanzler freilich als Zeichen der Willfährigkeit gegenüber dem SED-Regime. Adenauer und Berg verfassen ein scharfes Kommuniqué: »Dieses Auftreten ist für die Interessen der Bundesrepublik und des deutschen Volkes sehr abträglich und verwerflich.« Berg verspricht, die betreffenden Firmenchefs persönlich auf Linie zu bringen. Im Haus des Kanzlervertrauten Pferdmenges trifft er dann freilich auf Beitz und Mannesmann-Generaldirektor Hermann Winkhaus, die wenig Neigung zeigen, sich vom BDI-Boss abkanzeln zu lassen. Beitz erwidert ihm: »Wenn Sie glauben, Herr Berg, Kommissar des Kanzlers für die deutsche Industrie zu sein, dann sind Sie auf dem falschen Dampfer.« Laut Spiegel soll Berg nach der aus seiner Sicht missglückten Begegnung geklagt haben: »Herr Beitz, Sie sind immer so frech zu mir.«
Bergs Aversion wird nicht geringer, als Beitz ihr äußerlich mit aufreizender Gelassenheit begegnet. Einmal, auf der Tanzfläche eines Industrieempfangs, trifft er auf Berg und scherzt: »Herr Berg, eigentlich gehören Sie doch gar nicht zur Industrie. Sie gehören zur Vergnügungsindustrie, sie stellen Matratzen her.« Berg produziert Eisenwaren, darunter Bettfedern. Wer mit dem Firmenchef Alfried Krupp Geschäfte machen will, kommt an dem selbstbewussten, schlagfertigen, auf provozierende Weise unerschütterlichen Generalbevollmächtigten nicht vorbei.
Im Rückblick sagt Berthold Beitz noch heute heiter: »Das mit der Vergnügungsindustrie war natürlich auch nicht sehr geschickt. Berg und Sohl hatten sehr scharfe Vorbehalte gegen mich. Da kommt einer vom Dorf und erhält diese Stellung. Die haben alles versucht, mich aufs Kreuz zu legen!«
Beitz weiß, was für ihn auf dem Spiel steht: »Wenn ich einmal als geschlagener Krieger aus dem Revier flüchten würde, wäre meine ganze Karriere im Eimer.«
POLEN: DIE SCHWIERIGE ERINNERUNG
Aber er schweigt über seine Rettungstaten in Boryslaw. Das ist seine Geschichte, seine allein: »Warum hätte ich über die Zeit in Polen sprechen sollen? Warum? Um mich selber zu belobigen? Ich habe das doch nicht getan, weil es mir irgendwann einmal nützen könnte.« Er will nicht für etwas bewertet werden, was er mit sich selbst ausmacht und was mit seiner Arbeit bei Krupp gar nichts zu tun hat. Er will seine Autorität und seine Erfolge aus sich selbst heraus gewinnen und nicht aus dem Mut, den er in Boryslaw bewiesen hat.
Das ist ein gewichtiges und sehr persönliches Motiv. Andere mögen hinzukommen. Fast niemand, der im Dritten Reich verfolgte Juden gerettet hat, äußert sich in den fünfziger Jahren öffentlich darüber. So unterschiedlich die Retter als Typus sind, so unterschiedlich dürften ihre Gründe sein, ihre Geschichten nachher für sich zu behalten. Manche fürchten gewiss die restaurative Stimmung der Adenauerzeit. Anders als fünfzig Jahre später, in einer völlig gewandelten Gesellschaft, muss jeder, der eine solche Tat offenbart, mit Abwehr, Leugnung, Selbstrechtfertigung, Neid rechnen, zumindest mit Unverständnis für die Größe seines Handelns. Und einer solchen Reaktion sind manche Retter, oft selbst traumatisiert, nicht gewachsen. Zu ihnen gehört Eberhard Helmrich, wie seine Tochter Cornelia Schmalz-Jacobsen schreibt: »Ich glaube, dass all seine Kraft, die er einmal besessen hatte, einfach aufgebraucht war. Er ist nie wieder richtig auf die Beine gekommen.« Also schweigen viele Retter. Berthold Beitz aber ist einer der mächtigsten Industriellen des Landes und jemand, der Alleingänge trotz massiver Ablehnung daheim nicht scheut, wie er bald mit seinen Reisen nach Polen zeigen wird. 1959 ist er der erste deutsche Unternehmensführer, der sich aus Überzeugung für die Wiedergutmachung einsetzt. Die Furcht vor gesellschaftlicher Ausgrenzung dürfte in seinem Fall demnach wohl kaum ein Motiv für das Schweigen sein.
Auch Helmut Schmidt, der frühere Bundeskanzler, hat erst in den siebziger Jahren von Beitz’ Rettungsaktionen in Boryslaw erfahren. Er erklärt sich das lange Schweigen von Beitz mit einer wesentlich plausibleren These: »Er ist vom Typus durchaus sehr selbstbewusst und weiß, was er wert ist. Nur an Bescheidenheit liegt es wohl nicht, dass er darüber nicht gesprochen hat. Ich glaube, es ist wahrscheinlich eine instinktive Reaktion, die noch aus der Zeit kommt, als er die vielen Menschen dort gerettet hat: ein Instinkt, sich dieser Heldentat nicht zu rühmen.«
Wie alle, welche die Nationalsozialisten und ihre Politik ablehnten, konnte Beitz das nicht offen tun. Er musste heimlich vorgehen, lernen, nur wenigen zu trauen, über Dinge zu schweigen, über die das Herz nur zu gern sprechen würde. »Diese Vorsicht, diese Gewohnheit, dass man darüber am besten nicht spricht, bleibt über den Krieg hinaus bestehen«, sagt Schmidt, »sie wird einfach instinktiv zu einer festen Verhaltensweise, ohne dass man besonders darüber nachdenkt.«
Schmidt hat dies, in einem völlig anderen Fall, bei sich selbst erlebt: »Ich habe während der Nazizeit im Dritten Reich niemandem erzählt, dass ich einen jüdischen Großvater hatte, aus Sorge, dass es rauskommt. Wir haben unsere Abstammungspapiere manipuliert. Ich habe darüber nie geredet. Und irgendwann habe ich es meinem Freund Valéry Giscard d’Estaing erzählt.« Und erst als der französische Präsident, nach seiner Amtszeit, seine Lebenserinnerungen aufschreibt, fragt er Helmut Schmidt: »Darf ich das schreiben, dass du mir das erzählt hast?« Und erst da ist ihm aufgefallen, dass er noch Jahrzehnte danach fast niemandem vom jüdischen Großvater erzählt hat: »Das habe ich aus Instinkt getan.«
Das würde auch zu Beitz’ Reaktion auf die furchtbaren Erlebnisse von Boryslaw passen und zu seinem Menschenbild, das sich durch Polen deutlich verändert hat. Er hat ein Misstrauen entwickelt, das er selbst so beschreibt: »Ich bin pessimistischer geworden, den Menschen gegenüber skeptischer.« Die Folge des Misstrauens ist eine gewisse Distanz, die viele nicht vermuten, die Beitz in Hamburg oder Essen als charmanten und humorvollen Gesprächspartner erleben, also einen alles andere als kontaktscheuen Menschen. Aber die Distanz ist da, und nur wenige wirkliche Freunde überbrücken sie.
Beitz trägt die Polen-Erfahrung im Herzen und nicht auf der Zunge. Gleichwohl hegt er eine kräftige Spur Verachtung für all jene – und das sind auch bei Krupp nicht wenige –, die nach 1945 den Krieg so verherrlichen, als sei es ihre beste Zeit gewesen. »Nach 1945«, so Beitz, »gab es viele, die geprahlt haben, was für große Männer sie damals gewesen seien. Sie interessierten mich nicht.«
Noch aufschlussreicher als das Verhalten von Beitz ist ohnehin das seiner Umgebung. Es stimmt zwar, dass er selbst nicht über Boryslaw spricht, nicht einmal mit Alfried Krupp. Und dennoch, wer es wissen will, der kann es erfahren. Alfried Krupp muss es gewusst haben, vielleicht hat er Beitz gerade auch deswegen ausgesucht – einen moralisch unbelasteten Mann mit Rückgrat. Er hat sich dazu nicht geäußert. Zwar erwähnen gelegentlich Zeitungsartikel über Alfried Krupps Wunderknaben nebenbei auch dessen Einsatz für die Verfolgten, aber einen eigenen Beitrag scheint das in den fünfziger Jahren niemandem wert zu sein. In der Bundesrepublik ist das Wissen um Beitz’ Rettungsaktionen in den Jahren 1942 bis 1944 noch immer etwas, dem man scheu ausweicht. Von »untadeligem Benehmen« ist in Zeitungsberichten über den Krupp-Bevollmächtigten die Rede; es ist, als verfielen die Verfasser in ein dunkles Raunen über Dinge, die man besser nicht laut und öffentlich erörtert. In einer seitenlangen Titelstory über Beitz schreibt selbst Der Spiegel 1959 ganz en passant: »Mehrmals holte er jüdische Arbeiter, die deportiert werden sollten, aus den Eisenbahnwaggons heraus.« Bemerkenswerterweise ist die an Krupp stets interessierte angelsächsische Presse weit offener. So schreibt der britische Observer 1961: »Beitz steht in hohem Ansehen, weil er von Anfang an und mit allen möglichen Listen und Täuschungen Juden und Polen vor der SS gerettet hat, oftmals unter beträchtlichem persönlichem Risiko.« So sagt die Stille um Beitz’ Rettungstaten in Boryslaw am Ende wohl mehr über die Nachkriegsgesellschaft und Beitz’ Umfeld aus als über ihn selbst. Man hätte es wissen können, wenn man nur gewollt hätte. Allein die Ahnung, dass der Krupp-Generalbevollmächtigte sich wohl wesentlich untadeliger verhalten hat als man selbst, schürt bei manchen Aggressionen. Günter Vogelsang erinnert sich an eine besonders infame Äußerung, die BDI-Präsident Berg gern unter Vertrauten fallen gelassen habe: »Da hat der Beitz im Krieg sieben dreckige Juden gerettet …«
Hier zeigt sich mehr als bloß der Zynismus der Macht. Die Bemerkung zeugt von einer psychologischen Abwehrhaltung, die hier bemerkenswert widerwärtig, aber in der Ära Adenauer durchaus weit verbreitet ist. Der frühere SPD-Politiker Wolfgang Clement, ehemals Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens und mit Beitz auch aus dem Kuratorium der Krupp-Stiftung gut bekannt, glaubt heute, dass Beitz’ Vergangenheit in Polen einen sehr wunden Punkt bei seinen Kontrahenten berührt hat, auch wenn das niemand aussprach. Wer selbst unter der Nazidiktatur, in welcher Funktion auch immer, mitgemacht habe und dann jemanden wie Berthold Beitz treffe, »für den ist es sehr schwer, damit umzugehen. Jemand wie er ist dann ja wie ein lebender Vorwurf gegen einen selbst: Warum hat der so etwas geschafft? Was habe ich mir im Vergleich vorzuwerfen?«
»MAN MUSS DIE MACHT ZU GEBRAUCHEN
WISSEN«:
DER NEUE BESEN
In Essen muss sich Beitz nun durchsetzen. Die erste Maßnahme des Generalbevollmächtigten ist eine Petitesse innerhalb der Hausverwaltung, in Wahrheit aber eine spöttische Botschaft an die Widersacher: Unterschätzt euren Gegner nicht. Beitz veranlasst, dass die Paternoster, die behäbigen hölzernen Personenaufzüge an der Altendorfer Straße, künftig schneller laufen sollen.
Das Reich der alten Direktoren ist eine geschlossene, für Außenstehende kaum durchschaubare und noch weniger zu beeinflussende Welt. Eine Welt mit ihren eigenen, oft schwerfälligen Abläufen, in Generationen gewachsen und noch dazu durch Arbeitsverträge abgesichert, auf die jeder Staatsdiener neidisch gewesen wäre. Genau deshalb nennt man die Krupp-Angestellten ja auch noch nach Sitte des 19. Jahrhunderts Krupp-Beamte, ganz offiziell organisiert im »Kasino-Verein Kruppscher Beamten«. Jedem der Direktoren ist ein Arbeitsbereich unterstellt, in dem er fast nach Belieben schaltet und waltet. Krupp gleicht 1953 einem zerfallenen Königreich, beherrscht von mächtigen Teilfürsten, die eifersüchtig über ihre Privilegien und Territorien wachen. Die lange Abwesenheit des Firmenbesitzers hat ihre Autonomie ins scheinbar Unerschütterliche wachsen lassen. Wer über das Geld verfügt, hat die Macht. An der Hoheit über das Geld entscheidet sich denn auch Beitz’ erste harte Machtprobe. Nur wenige Tage lässt der langjährige Krupp-Mann Johannes Schröder, seit kurzem Direktor für Finanzen des Gesamtkonzerns, verstreichen, dann erklärt er vor der örtlichen Presse, in seinen, ihm unterstellten Abteilungen gingen die Gelddinge außer ihm niemanden etwas an und gewiss nicht den Herrn Beitz. Das ist eine offene Kampfansage – und der Neue nimmt sie an. Erneut zitiert Alfried Krupp die Direktoren in sein Arbeitszimmer, erneut können sie nicht fassen, was ihnen der Konzernchef ohne erkennbare Gefühlsregung und vor allem ohne jede weitere Debatte mitteilt: Der Generalbevollmächtigte Beitz sei selbstredend für »alle geschäftlichen Angelegenheiten zuständig« – und damit auch für die Finanzen. Audienz beendet.
Schröder ist nicht irgendwer. Er ist Finanzchef des Konzerns, hat mit den Rüstungsplanern des Dritten Reichs gekungelt wie gekämpft und später im Namen Alfried Krupps mit den Alliierten über die Zukunft des Konzerns gestritten. Lange Zeit führt er sogar das Privatkonto von Alfried Krupp. Und er ist es, der weiter aufbegehrt und sich flotte Sprüche anhören muss. Für derlei habe er in seinen Betrieben kein Geld, schnappt er, als ihm Beitz einige Reformvorschläge ans Herz legt. Beitz fragt ironisch, er habe bisher geglaubt, das Geld des Konzerns gehöre Alfried Krupp und nicht Johannes Schröder. Ob er sich da vertan habe? Auch Direktor Fritz Wilhelm Hardach wird von Beitz gemaßregelt: Wie er dazu komme, sich ohne Rücksprache eine teure neue Dienstlimousine zuzulegen? Dabei ist Beitz beileibe kein Beißer, der die Macht um ihrer selbst willen schätzen und sein Selbstgefühl aus der Zahl der Untergebenen ziehen würde, die er täglich demütigt. »Macht war für mich niemals ein Wert an sich«, sagt er heute. »Aber: Man muss die Macht zu gebrauchen wissen, wenn es nötig ist.«
Und wenn es nötig ist, verlässt sich Alfried Krupp auf ihn. Gleich zu Beginn wird Beitz einmal von Alfried Krupps Mutter eingeladen, der 66-jährigen Bertha Krupp. Man trifft sich in ihrem Haus zum Tee, und nach allerlei höflichen Worten kommt die Gastgeberin auf ihren Sohn zu sprechen, auf Alfried, den Firmenerben und Alleininhaber. Es ist nicht zu verkennen, dass sich die Mutter darum sorgt, ob er der enormen Belastung durch die tägliche Führung eines Großkonzerns, und noch dazu eines Großkonzerns in Nöten, psychisch gewachsen ist. »Unangenehme Dinge«, sagt sie zu Berthold Beitz, »macht er nicht so gerne.«
Bei den Jüngeren im Haus findet Beitz dagegen bald eine eingeschworene Fangemeinde. Er kann streng und sehr fordernd sein, aber er ist auch gelassen, hört moderne Musik, kann mit den Leuten reden, hasst sinnlose Förmlichkeiten, macht Scherze und ist nicht arrogant. Günter Vogelsang erinnert sich vor allem daran, »dass Beitz ein lockerer und fröhlicher Chef war. Das war eine Art, die mir als Rheinländer gut gefiel.« Beitz ist jovial mit Untergebenen, manchen begrüßt er mit einem Klaps auf die Schulter.
Im Übrigen steht der Neue nicht ganz allein gegen alle, denn er ist nicht der einzige Generalbevollmächtigte. In den ersten beiden Jahren steht ihm ein Kruppianer von echtem Schrot und Korn zur Seite, nämlich der schon 67-jährige Friedrich Janssen, der Besuchern salopp zu erläutern pflegt: »Ich war mit Alfried in Nürnberg und im Kasten.« Im April 1953 hat Alfried Krupp den Veteranen, der 1948 mit ihm auf der Anklagebank gesessen hatte und wie er mehrere Jahre in Landsberg inhaftiert war, zum Bevollmächtigten ernannt – eine Übergangslösung, wie jedem klar ist, schon allein wegen Janssens Alter. Janssen hat neben Schröder mit den Alliierten um die Zukunft der Firma gerungen. Eine eindrucksvolle Erscheinung mit seinem fast kahlen Schädel und den dichten schwarzen Augenbrauen, folgt Janssen dem bezeichnenden Wahlspruch »Es ist schön, wenn man den eigenen Dreck an den Füßen hat«. Altersmild und loyal, bleibt er der Ablehnungsfront gegen Beitz fern, ja, er wird für diesen vielmehr sogar so etwas wie ein väterlicher Freund. Er führt ihn durch die Hitze der Stahlwerke und den Lärm der Produktionshallen ebenso wie durch das verschlungene Reich der Krupp’schen Führungshierarchien mit ihren Intrigen und Fallstricken. In deutlichem Kontrast zu seinem jüngeren Kompagnon ein Fußballfan im fußballverrückten Ruhrgebiet, klärt er Beitz mit einschlägigen Metaphern über ihre Rollenverteilung auf: »Also ich bin Szepan, und Sie sind Kuzorra, verstanden? Ich gebe die Vorlagen, und Sie schießen die Tore!«
Es geht also um die Macht im Konzern, aber nicht nur um sie. Altes Denken steht gegen neues, die Vergangenheit gegen eine noch höchst unsichere Zukunft. Krupp, dieses zerfallene Imperium des Stahls, ist ein Mythos, im Guten wie im Bösen. Es wird nie mehr sein können, was es einmal war. Berthold Beitz fühlt dies instinktiv. Gewiss, Führungsstrukturen lassen sich ändern, und Beitz wird genau das bald tun. Das ist schwer genug. Schwerer, in vielen Fällen unmöglich ist es, die Mentalität zu ändern.
Den Beharrungswillen der Direktoren spürt Beitz bei jedem der täglichen Telefonate, in denen sie gegen Änderungen protestieren oder ihn durch kühle Förmlichkeit spüren lassen, dass sie seine Zeit im Konzern für sehr begrenzt halten. Er spürt ihre Ablehnung, wenn er ihnen im Konferenzsaal an der Altendorfer Straße mitteilt, dass künftig keine Prokuristen ohne seine und Alfried Krupps Zustimmung zu bestellen sind. Er weiß, wer gemeint ist, wenn das Direktorium wünscht, künftig »über Einstellungen leitender Herren und die Einstellungsregelungen (insbesondere über die Gehaltsregelung) unterrichtet zu werden, da«, so die dürren Worte des Sitzungsprotokolls, »andernfalls nachteilige Auswirkungen auf die bei Krupp bestehende Personalpolitik befürchtet werden«.
Die Ursachen für das Festhalten am Alten liegen auf der Hand: Erst hat das NS-Regime Krupp in den Dienst der Aufrüstung und dann des Krieges genommen. Anschließend kamen die Befreier, die den gefürchteten Kanonenkonzern unter erneute strenge Kuratel stellten, ihn im Grunde unter der Last der Auflagen, Vorschriften und Drohungen klein halten, wenn nicht gar ersticken wollten. Im Interview mit dem amerikanischen Journalisten Gordon B. Young äußert sich Beitz 1958 über die Zeit vor seinem Antritt in Essen: »Die alten Herren von Krupp hatten gar keine Chance, ihren Kopf zu benutzen oder Initiativen zu ergreifen …« – und er fügt, wie es seinem Besucher erscheint, mit dem Lächeln eines »Gentleman Gangster« hinzu: »… selbst wenn sie es gewollt hätten.«
Beitz greift schon 1954, unterstützt von Janssen, mit harter Hand in die Führungsstrukturen des Konzerns ein. Das halbfeudale Herrschaftssystem ist damit Vergangenheit. Das Direktorium besteht nun aus lediglich noch vier Mitgliedern und zwei Stellvertretern, und, wichtiger noch, Beitz schafft sich einen eigenen, wohlorganisierten Stab.
Beitz hat damit in der Organisation nachvollzogen, wozu ihn Alfried Krupp per Handschlag gemacht hat. Er ist, stets in Treue zum Besitzer, dessen Mann an der operativen Spitze. »Er unternahm bei Krupp nichts ohne mich«, sagt Beitz heute. »Und wenn es etwas zu tun gab, sollte ich das machen.« Nur das Einzelunternehmen Krupp hat einen derart machtvollen Posten anzubieten, er ist einzigartig in der deutschen Industrie selbst der fünfziger Jahre.
GOLD AUS ALEXANDRIA, ABRECHNUNG IN ESSEN
In einem großen, eingespielten Apparat ist auch der willensstärkste Reformer verloren, wenn er über keine eigenen Truppen verfügt. In seiner Stabsabteilung sammelt Beitz deshalb Getreue um sich. »Meine jungen Leute«, pflegt er zu sagen, »lassen sich von keinem dreinreden.« Außer von Berthold Beitz natürlich.
Einer der jungen Herren ist Kurt Schoop, geboren 1921, der erfolgreiche Werbeleiter von Edeka. Beitz kennt ihn seit einem Verbandstag der Handelskette 1953, für den Schoop Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard als Redner gewonnen hat. Peinlicherweise bleibt ein Ehrengast aus, der direkt in der ersten Reihe neben dem CDU-Minister sitzen sollte. Das sieht natürlich nicht gut aus. Gleich wird die Veranstaltung beginnen, und während Schoop noch überlegt, was bloß zu tun sei, erblickt er einen sehr gut gekleideten Herrn heraneilen, der unschöne Verwünschungen über die Lufthansa und ihre Verspätungen ausstößt: Berthold Beitz. Dieser hat, wie er berichtet, mit Bundeswirtschaftsminister Erhard ins Gespräch kommen wollen, am besten in entspannter Atmosphäre vor all den Reden. Aber nun scheint es zu spät zu sein. Schoop erkennt seine Chance. »Aber das ist doch kein Problem«, versichert er dem aufgebrachten Gast, »Sie sitzen doch direkt neben ihm.« Ein starker Auftritt. Beitz heuert Schoop bald danach an.
Und so steigt der junge Mann 1954 mit großen Erwartungen aus dem Eilzug Hamburg–Essen. Von Essen-West muss er die Straßenbahn in die Innenstadt nehmen; die Waggons sind überfüllt, Schoop klammert sich außen an eine Haltestange, mühsam seinen Koffer balancierend. So geht es rumpelnd durch die düsteren Straßen. Erschöpft will er zu Mittag essen und betritt ein sehr schlichtes Lokal namens »Zum alten Ritter«. Plötzlich geht das Licht aus – der Strom bleibt weg. Und da noch Wohnungsnot herrscht in der von den Bomben heimgesuchten Stadt, schläft er anfangs zur Untermiete auf dem Sofa einer verwitweten älteren Dame. Willkommen in Essen.
Als nächster Mitstreiter kommt Günter Vogelsang, ein 34-jähriger Wirtschaftsprüfer aus Krefeld. Sein erster großer Coup als Wirtschaftsprüfer war es, dem Stahl-Großhändler Willy H. Schlieker sieben Millionen Mark zurückzuverschaffen, die dieser zu viel an Steuern bezahlt hatte. Seither gilt Vogelsang trotz seiner jungen Jahre in der Branche als Profi.
Vogelsang ist zu Beginn der fünfziger Jahre mit dem Vorstandsvorsitzenden der Hamburger Vereinsbank, Hugo Frohne, ins Geschäft gekommen, für den er untersucht, wie sich beim Kauf und Bau von Handelsschiffen Steuern sparen lassen. Frohne ist sehr zufrieden mit der Arbeit des jungen Beraters, und eines Vormittags im Jahr 1954 ruft er ihn wieder an. Er kenne da einen Herrn Beitz in Essen, »und der sucht so einen Mann wie Sie«. »Aber der kennt mich doch gar nicht«, entgegnet Vogelsang. Das, meint Frohne, lasse sich ja ändern. »Ich habe Sie beschrieben. Gehen Sie doch mal mit ihm essen.«
Und so kommt es, dass Vogelsang und Beitz bald darauf im Essener Hof speisen. Hier treffen sich also im Frühjahr 1954 zwei Männer, deren Lebenswege von nun an immer wieder eng miteinander verwoben sein werden. Hier Beitz, der charmante, in Gruppen wie selbstverständlich locker und wortgewandt auftretende Topmanager mit dem Sinn für die großen Linien der Unternehmensführung, dort Vogelsang, über den Die Zeit einmal schreibt, er habe »die Statur eines trainierten Boxers und die fröhliche Unverwundbarkeit eines erfolgreichen Torschützen«. Der knurrige, zu Wortkargheit neigende Mann mit dem trockenen Witz ist ein Systematiker und Zahlenmensch. Rasch erfasst er die komplexesten und verzwicktesten Prüfberichte, deren Anblick, geschweige denn Lektüre für Berthold Beitz eine körperliche Pein wäre. Und doch eint die beiden mehr, als es zunächst scheinen mag: ein ausgeprägter Instinkt, Chancen zu erkennen und zu nutzen, ein nicht zu bescheidenes Selbstbewusstsein, Skepsis und Furchtlosigkeit gegenüber Autoritäten und großen Namen, Unabhängigkeit von anderen – auch voneinander, wie sich viel später zeigen wird.
Beitz gefällt der sieben Jahre jüngere Mann, der ihm da gegenübersitzt, und so fragt er ihn geradeheraus: »Haben Sie Lust, zu Krupp zu kommen?« Doch Vogelsang lehnt ab: »Tut mir leid. Aber ich bin Freiberufler, ich möchte keinen Chef haben.« Beitz indes lässt nicht locker, und Vogelsang sieht sich schließlich die Hand des Krupp-Generalbevollmächtigten schütteln, der ihm Autonomie im Job und »ordentliche Bezüge« (Vogelsang) zusagt. Wie betäubt fährt Vogelsang zurück, der Beitz’schen Beredsamkeit erlegen.
Was weiß er eigentlich von Krupp? »Krupp und Kanonen, sicher«, meint er dazu heute. »Aber das war vorbei.« Vogelsang kommt nicht wegen Krupp, so wie es ist. Er kommt wegen Berthold Beitz und dem, was dieser aus Krupp zu machen verspricht. Beitz wiederum handelt in auffallender Parallele zu seinem eigenen Engagement in jener Hamburger Regennacht ein Jahr zuvor: Er vertraut seiner Intuition und holt Leute von außen, die sich gleich ihm erst durchsetzen müssen und denen er das auch zutraut. Vogelsang ist sehr eingenommen von seinem Chef, und so sagt er heute, 55 Jahre später: »Wenn du mit Berthold Beitz etwas verabredest, dann gilt das so. Er ist absolut zuverlässig.«
In einem Privatunternehmen, das keine Aktionäre, Aufsichtsräte und Bilanzpressekonferenzen kennt, ist der Revisionschef ein wichtiger Mann. Von Beginn an gibt Beitz dem jungen Manager freie Hand: »Prüfen Sie kalt, nüchtern und ohne Rücksicht auf die Person. Es gibt für Sie nirgendwo Grenzen.« Daraufhin tut Vogelsang so, als wolle er die Füße auf den Schreibtisch seines Chefs legen. Der nimmt es gelassen: »So selbstbewusst sollen Sie nun auch wieder nicht sein.«
Vogelsang ist genau drei Tage im Haus, da lässt Beitz ihn rufen. Weit hat er es nicht. Er sitzt nur drei Türen entfernt auf der »grünen« Etage, wie man das Stockwerk der Chefs in Würdigung des dort ausgelegten grünen Flurteppichs bezeichnet. Beitz mustert den leicht beunruhigten Mitarbeiter mit einer Miene, die nichts verrät. Und es wird nicht besser, als er sagt: »Kaum sind Sie drei Tage hier, machen Sie mir schon Ärger.« Vogelsang kann sich beim besten Willen nicht erinnern, in so kurzer Zeit Anlass für einen Rüffel von höchster Stelle geliefert zu haben, doch man weiß ja nie. Hier bei Krupp ist alles anders. »Ich wüsste nicht, warum«, entgegnet er. Beitz fährt im selben, unauslotbaren Tonfall fort: »Ja, wissen Sie das nicht, dass mich schon einige meiner altverdienten Direktoren angerufen haben? Was ich denn da für einen frechen Hund engagiert hätte, der passe doch nun wirklich nicht ins Haus Krupp.« Vogelsang beginnt zu ahnen, was ihn hergeführt hat: sein Besuch bei Dr. Herrmann am Vortag.
Hans Herrmann, zuständig für Maschinenbau und Verarbeitung, ist der dienstälteste Direktor des Hauses Krupp, ein rundlicher Mann von ausgeprägtem Selbstbewusstsein und mit allen Allüren eines Unterkönigs ausgestattet. Im Herbst 1944, mitten in der anbrechenden Götterdämmerung des NS-Regimes, hatte er durch Intervention von Hitlers oberstem Rüstungsplaner Albert Speer die Leitung der technischen Werftbetriebe bei Krupp übernommen – er sollte den U-Boot-Bau im Konzern zu Höchstleistungen peitschen. Herrmanns Vorgänger Franz Stapelfeldt, der bei Speers Stab als »Versager« in Ungnade gefallen war, hatte die Gestapo mitgenommen und eingekerkert. Vielen im Betrieb galt Herrmann als rücksichtslos, intrigant und egozentrisch.
Im Krieg also stramm dabei, hat Herrmann seine Karriere im Unternehmen fortgesetzt und seine Position während des Interregnums von Alfried Krupps Landsberger Gefängnisjahren sogar noch ausgebaut. Er fühlt sich sicher, wäre da nicht dieser neue Generalbevollmächtigte. Manchmal schreibt Herrmann »ergebenst« Briefe an Beitz, in denen er über Mitarbeiter und andere Direktoren herzieht, gegen sie intrigiert (»Das Mindeste, das geschehen muß, ist, daß R. verwarnt wird«) und dafür die eigenen Leute empfiehlt (»Er ist der richtige Mann. Er hat Hirn und Brutalität.«). Andererseits ignoriert er Beitz’ Anweisung, wonach kein Direktor mehr gleichzeitig in mehreren Krupp-Gesellschaften zum Vorstand gehören dürfe.
Wenig erstaunlich also, dass Vogelsang beim Altdirektor Herrmann nicht auf einen warmen Empfang hoffen kann. Der junge Mann wird vorgelassen. Herrmann begrüßt ihn so lauernd wie leutselig mit einer Überraschungsfrage: »Bitte schön, Herr Vogelsang, nehmen Sie Platz. Sind Sie evangelisch oder katholisch?« Vogelsang, dem die gönnerhaft-autoritäre Attitüde des Älteren missfällt, fragt zurück: »Wie hätten Sie es denn gern?« Vogelsang erinnert sich heute mit der ihm eigenen trockenen Gelassenheit: »Und schon war ich wieder draußen.«
Als Vogelsang Beitz nun diese Geschichte erzählt, kann der ein Lächeln nicht mehr unterdrücken. Dann wählt er die Nummer von Herrmanns Hausanschluss und sagt: »Herr Herrmann, der Herr Vogelsang ist jetzt hier bei mir im Büro. Ich habe den Mann eingestellt, und ich weiß selber nicht, ob er evangelisch ist oder katholisch, aber wissen Sie was? Es ist mir auch egal.« Durch den Hörer ist wütender Widerspruch zu vernehmen, doch Beitz beendet das Gespräch bündig: »Konfessionszugehörigkeit ist nicht das Kriterium, nach dem wir hier Leute einstellen.« Tatsächlich soll es, wie Beitz jedenfalls argwöhnt, unter den Direktoren die Praxis geben, protestantische Bewerber zu bevorzugen, was er von Beginn an als unsachlich bekämpft hat. Zu seinem Revisionschef sagt er lachend: »Wenn mir in Ihrer Lage diese Antwort eingefallen wäre, wäre ich stolz.«
Im Jahr 1957 bekommt Vogelsang Besuch von einem Sachbearbeiter, den er als sorgsamen, umsichtigen Mann kennengelernt hat. Der Angestellte ist auf Beträge gestoßen, die regelmäßig von einer Krupp-Kasse in Essen abgehoben und dann als Ausgaben in Alexandria verbucht werden. Dort in Ägypten ist Krupp an mehreren Brückenbauprojekten beteiligt. Angeblich werde das Geld benötigt, um die heimischen Auftraggeber einzuladen, sprich: zu bestechen. Merkwürdig, denkt Vogelsang, in Ägypten haben doch eben erst die jungen Offiziere um Nasser geputscht, und wenn die jetzt schon Zuwendungen aus Essen in ihre Privatschatullen stecken, dann muss alles, was er in der Zeitung über die neuen Machthaber und ihre moralischen Ansprüche gelesen hat, Unsinn sein.
Vogelsang schickt einen erfahrenen Prüfer an den Nil. Der Mann stößt prompt auf Ungereimtheiten. Das besagte Geld sei gar nicht an Nassers Leute geflossen. Es werde vielmehr, so habe der Herr Direktor Herrmann im fernen Essen angeordnet, in roh geschmiedeten kleinen Goldringen angelegt, also in sehr teurem Schmuck. Der Emissär, misstrauisch geworden, weiß außerdem zu berichten, dass niemand anderes als Frau Herrmann alle paar Monate nach Alexandria reise und das Gold abhole. Mitarbeiter raunen, sie fahre jedes Mal mit einer Goldkette um den Hals zurück nach Deutschland.
Vogelsang spricht bei Herrmann vor, der ihn ungnädig empfängt. »Darf ich fragen, Herr Direktor, wofür die Goldketten sind, die in Alexandria gekauft werden? Nur um es hier richtig zu verbuchen.«
»Das geht Sie überhaupt nichts an. Sie können nicht als kleiner Revisionschef einen Direktor kontrollieren.« Und wieder sieht Vogelsang die Tür des Direktors von außen. Diesmal jedoch wird es eng für Herrmann. Vogelsang informiert Beitz, der Aufklärung über die Verwendung des Firmengeldes fordert.
Herrmann unterschätzt seinen Gegner auf beinahe schon bemitleidenswerte Weise. Was immer ihn in dieser Situation dazu gebracht haben mag, seine Frau zu Else Beitz in das Essener Privathaus des Generalbevollmächtigten zu schicken und ihr als Geschenk einen der Alexandriner Goldreifen zu überreichen: Einen schlechteren Einfall als diesen kaum verhohlenen Versuch der Bestechung hätte er nicht haben können. Noch am selben Abend berichtet Else Beitz ihrem Mann von der seltsamen Besucherin, und damit ist Herrmanns Zeit bei Krupp abgelaufen. Vogelsang ist anderntags dabei, als Beitz Herrmann in dessen Büro anruft. Herrmann weiß keine Antwort auf die Frage, mit welchem Geld das Gold bezahlt worden sei, und Beitz setzt nach: »Stimmt die Geschichte, die Herr Vogelsang herausgefunden hat, oder stimmt sie nicht?« Doch, sie stimme, druckst der Direktor herum. Beitz befiehlt dem Unglückseligen: »Packen Sie Ihre persönlichen Sachen zusammen und verlassen Sie sofort das Haus. Und betreten Sie es nie wieder.« Eine kleine Möglichkeit lässt er dem Verdatterten noch, wenigstens nach außen hin das Gesicht zu wahren: »Ich möchte jetzt ein Schreiben von Ihnen haben, dass Sie wegen eines drohenden Herzinfarkts in Pension gehen müssen. Sonst werfe ich Sie eigenhändig hier raus.«
Berthold Beitz selbst berichtet die Geschichte noch immer gern: »Es heißt ja immer, ich hätte ihm fünf Minuten gegeben, seinen Schreibtisch zu räumen und das Haus zu verlassen. Da sieht man, wie die Leute übertreiben. Ich gab ihm mindestens eine halbe Stunde.«
Es ist eine Demonstration der Macht. Beitz hat den mächtigen Krupp-Direktor fristlos entlassen, und wichtiger noch, er hat dies ohne Rücksprache mit dem Firmenchef getan. Alfried Krupp befindet sich gerade auf einer Asienreise und ist nicht erreichbar. Alle Hoffnungen der alten Riege, er werde seinen offenbar irrlichternden Generalbevollmächtigten nun endlich in die Schranken weisen, verfliegen nach Krupps Rückkehr rasch. Beitz erklärt dem Firmenchef, dass er Herrmann hinausgeworfen hat und warum. Alfried Krupp sieht Beitz lange an, führt mit einer charakteristischen Geste den Zeigefinger an die Unterlippe, zieht sie leicht zurück und sagt schließlich: »Ist richtig, Herr Beitz.« Kein Wort mehr. »Das hat gewirkt«, sagt Beitz im Rückblick.
FREMDE ODER FREUNDE? DIE FAMILIE VON BOHLEN
Sie ist 24 Jahre alt und sehr schön, sie fährt ein höchst elegantes Mercedes-Cabrio 190 SL, schwarz mit roten Ledersitzen. Sie besitzt einen weißen Pudel, ihr Schoßhündchen, und mindestens ebenso liegt ihr das Adressbuch am Herzen, das Namen und Telefonnummern nicht weniger Herren von mehr oder minder gehobenem Stande enthält. Rosemarie Nitribitt ist eine Prostituierte, eine Dirne, wie man in den fünfziger Jahren sagt. Sie ist vom Düsseldorfer Straßenstrich aufgestiegen zum Objekt der Begierde mancher Männer aus »besseren Kreisen«, auch dies ein Ausdruck jener Zeit. Im Herbst 1957 wird sie vermisst. Zwei Polizisten öffnen schließlich die Tür zu ihrem Apartment in der Frankfurter Innenstadt. Es ist der 1. November, Allerheiligen. Innen kläfft wie von Sinnen der Pudel – neben der Leiche Rosemarie Nitribitts. Sie ist erwürgt worden.
Harald von Bohlen und Halbach, 42 Jahre alt, hat offensichtlich enge Kontakte zu ihr gepflegt. In ihrer Wohnung findet sich ein Bild von Alfried Krupps jüngstem Bruder, außerdem Geschenke von ihm. Die Mordermittler brauchen nicht viel Spürsinn, um dem nicht mehr ganz jungen Mann aus der Ruhrdynastie unangenehme Fragen zu stellen.
Harald von Bohlen hat schwere Jahre hinter sich. Als Soldat geriet er 1944 in sowjetische Kriegsgefangenschaft und hatte Pech genug, dort erkannt zu werden. Einen Vertreter der bekannten Ruhrdynastie gaben die Russen so bald nicht frei. 1953, als Berthold Beitz seine Geschäfte in Essen aufnimmt, ist Harald von Bohlen noch immer zur Zwangsarbeit in einem russischen Erzbergwerk bei Swerdlowsk. Er kommt erst nach Konrad Adenauers Besuch in Moskau 1955 heim. »Und nun«, erinnert sich Berthold Beitz, »hatte der Junge im Leben einigen Nachholbedarf. Er hat auch bei der Nitribitt gewohnt.« Nun ist das die Ära Adenauer. Man hält auf Moral und Sitte oder das, was man dafür ausgibt; viele Prominente waren mit der Nitribitt bekannt, die Gebrüder Sachs etwa und der Rüstungsindustrielle Harald Quandt. Die lüsternen Enthüllungsstorys der Gazetten enthalten bald Details, welche die Leserschaft mit wohligem Schaudern aufnimmt. Der Name von Bohlen fällt freilich nicht. Dafür sorgt der Vertraute seines Bruders, der seine Kontakte nutzt.
»Alfried«, so erinnert sich Berthold Beitz, »saß totenblass da und sagte: ›Herr Beitz, was machen wir denn bloß?‹« Beitz antwortet, wie so oft: »Lassen Sie mal, ich kümmere mich darum.« Er redet mit Harald selbst, mit dem Generalstaatsanwalt, und da nichts dafür spricht, dass der Krupp-Bruder als Täter in Frage kommt, konzentriert sich die Kriminalpolizei nur noch in einem Maße auf ihn, das es erlaubt, ihn und mit ihm den Firmennamen aus der Öffentlichkeit herauszuhalten. Harald von Bohlen wird diskret an einem Sonntag vernommen, niemand sieht ihn kommen und gehen. Beitz interveniert guten Gewissens: »Der Harald war es nicht, davon war ich zutiefst überzeugt. Der arme Kerl hat sie nicht umgebracht, dafür war er viel zu harmlos. Vielleicht läuft der Mörder ja heute noch frei herum.« Der Täter wird nämlich nie gefasst.
Rosemarie Nitribitt wird in Düsseldorf beerdigt. Auf ihrem Grabstein steht: »Nichts Besseres darin ist denn fröhlich sein im Leben.«
So traurig die Episode anmutet, sie zeigt eines: Selbst wenn es um die Familie geht, ist Berthold Beitz der wichtigste Vertraute von Alfried Krupp.
Acht Kinder hatten Gustav und Bertha Krupp. Eines starb bald nach der Geburt. Der jüngste Sohn, Eckbert (geb. 1922), ist noch 1945 an der italienischen Front gefallen. Claus (geb. 1910), der Zweitälteste, ist schon 1940 mit seinem Messerschmitt-Jagdflugzeug abgestürzt. Weil sich Harald (geb. 1916) 1951 noch in russischer Gefangenschaft befindet, wird Alfried bei seiner Entlassung aus Landsberg nur von seinem Bruder Berthold (geb. 1913) draußen in der Kälte erwartet. Zwischen den beiden Brüdern gibt es einen Hauch von Nähe. So sitzt Berthold auf dem Beifahrersitz des silbernen Porsche, als Alfried erstmals nach Zuoz fährt, um seinen Sohn Arndt zu sehen. Außerdem hat Berthold während der Haftjahre des älteren Bruders diskret geholfen, den Konzern durchzubringen. Später wird er eine eigene Industriekarriere machen, jenseits der Firma Krupp.
Alfried hat zwei Schwestern, Irmgard (geb. 1912) und die jüngere Waldtraut (geb. 1920). Noch am Leben ist zu dem Zeitpunkt auch seine Mutter Bertha, die im September 1957 stirbt.
Finanziell sind die Dinge zwischen Alfried und der Familie eigentlich geregelt, aber eben nur: eigentlich. Durch den Mehlemer Vertrag zwischen Krupp und den Alliierten von 1953 hat Alfried unter der Auflage, den Konzern zu »entflechten«, sein Vermögen zurückerhalten. Der Vertrag hat ihn als Alleinerben zugleich verpflichtet, den vier noch lebenden Geschwistern sowie Arnold, dem Sohn des verstorbenen Bruders Claus, je fast elf Millionen Mark zu zahlen. Alfried bezahlt, und die Familie ist draußen. So sieht er es, so will er es, und doch liegt just hier der Keim für Konflikte, die erst nach Alfrieds Tod in aller Schärfe losbrechen werden.
Berthold Beitz bemüht sich um ein gutes Verhältnis zur Familie, und mit vielen, etwa mit Berthold und Arnold, gestaltet es sich freundlich. Ob hässliche Bemerkungen der Geschwister über Beitz und seine einfache Herkunft, wie sie gelegentlich kolportiert werden, gefallen sind oder nicht: Allein durch seine Position und das enge Vertrauensverhältnis zu Alfried Krupp muss Beitz automatisch in die Schusslinie geraten, sobald die Familie Konflikte mit dem ältesten Bruder und Firmenchef hat.
Das Abkommen von Mehlem hat zu viele Details offen gelassen. Vor allem die Frage, was geschieht, wenn Alfried einmal stirbt. Sein Sohn Arndt, fern im Schweizer Internat, ist noch zu jung für eine Nachfolge. Soll dann, wie Alfried Krupp eine Weile überlegt, Bruder Berthold bis zu Arndts dreißigstem Lebensjahr dessen Stellvertreter sein? Doch das traut er ihm nicht zu. Und wer müsste schließlich die ungeheure Erbschaftssteuer zahlen? Die ungeklärten Fragen führen jedenfalls dazu, dass Alfrieds Schwester Waldtraut und ihr damaliger Mann, Henry Thomas, schon in den fünfziger Jahren Rechtsstreitigkeiten gegen Alfried beginnen.
Außer zu Bertha Krupp hat Beitz nur zu Tilo von Wilmowsky, dem Ehemann von Berthas Schwester Barbara, ein engeres, ja herzliches Verhältnis. Der alte Freiherr, die gute Seele des Hauses, hat wie Beitz die Nazis verabscheut. Die ganze Macht des Hauses Krupp hatte ihn jedoch nicht vor der Gestapo retten können, die ihn 1944 wegen Verbindungen zum Widerstand verhaftete. Er überstand das Konzentrationslager Sachsenhausen und die Todesmärsche 1945. Wilmowsky überschaut altersweise das Wohl und Wehe des ganzen Konzerns. Die Erbquerelen besorgen ihn, und er versteht, was Alfried Krupp an Beitz hat. Er mag den jungen Mann und gibt ihm manchen Rat. Dann wieder empfiehlt er ihm einen Frankfurter Herrenschneider – »er galt schon in der kaiserlichen Zeit als einer der besten in Deutschland, Frau Krupp ließ für sich und ihre beiden Töchter von ihm arbeiten«. Und er warnt Beitz, die Kräfte nicht zu überspannen. Einmal schreibt er an Else Beitz und zitiert einen Brief, den Alfred Krupp 1871 an die Prokuristen der Firma gerichtet hat: »›Mein Verlangen ist, daß die Herren Chefs an eigener Arbeit weniger haben sollen, daß sie aber eine Menge starker Kräfte heranziehen und diese die Arbeit tun lassen, selbst aber vorzugsweise auf Übung der Wachsamkeit sich beschränken, damit sie alle ein hohes Greisenalter erreichen.‹« Und von Wilmowsky kommentiert: »Wäre das nicht auch heute eine sehr gute Mahnung an den verehrten Herrn Gatten?«
Wilmowsky ist es auch, der Beitz früh vor den Ansprüchen von Alfrieds Geschwistern warnt und den Geist des Gründervaters Alfred Krupp beschwört. »Für Alfred Krupp«, schreibt er im August 1956, »stand die Einheitlichkeit der Leitung allen anderen Rücksichten voran – also das Ziel, das Ihnen und mir vorschwebt. Er hat mehrfach ausdrücklich betont, daß das Wohl der anderen Familienmitglieder dahinter zurückzutreten habe.«
Es gibt noch jemanden, der Beitz erheblich größere Sorgen bereitet als die Geschwister: Vera Hossenfeldt, Alfrieds zweite Frau.
Nach seiner Haftentlassung ist Alfried Krupp zunächst einmal abgetaucht. Er geht auf Reisen und frönt seinem alten Hobby, der Fotografie. Der Einsame, im Verhältnis zu Frauen zeitlebens weder mit Geschick noch Glück gesegnet, trifft schließlich eine selbstbewusste, extrovertierte Frau, für die es ein Leichtes ist, ihn zu erobern. Die blonde Deutsch-Amerikanerin, Anfang vierzig, hat bereits drei Ehen hinter sich, was in den frühen fünfziger Jahren als skandalös gilt. Sie ist eine alte Bekannte Alfrieds aus Studienzeiten und hat ihm viele Briefe ins Gefängnis geschrieben. Im Rückblick meint Beitz: »Sie saß wie die Katze vorm Mauseloch, und als Alfried rauskam, da hat sie ihn sich geschnappt.«
Alfried Krupp heiratet Vera 1952 in Berchtesgaden und reist mit ihr anschließend durch halb Europa, unstete Flitterwochen, die zu Monaten werden. Essen mit seinen Schloten ist ihr aber bald langweilig. Wenigstens muss sie nicht in die Villa Hügel ziehen, den düsteren Palast von Alfrieds unglücklicher Kindheit. Am Rande des Hügelparks lässt sich ihr Mann ein modernes, helles Haus bauen, ein Schmuckstück der Fünfziger-Jahre-Architektur, der lichte Gegenentwurf zum Familiensitz der frühen Jahre. Aber es wird kein Ort des Glücks.
Anfang 1954 kann sich Berthold Beitz, freundlich gesagt, des Verdachts nicht erwehren, dass es Vera weniger auf Alfried als vielmehr auf dessen Vermögen abgesehen hat. Als Beitz wieder einmal bei einem Abendessen im »Essener Hof« ausspannt, an seinem Stammplatz in der Ecke, kommen fünf Amerikaner herein und sind bald in ein für seine Ohren gewiss nicht bestimmtes Gespräch vertieft. Nur wissen sie nicht, wer da ein paar Tische weiter sitzt und gut Englisch versteht. Es sind Bekannte von Alfrieds Frau Vera, und sie entwerfen laut Beitz folgenden Plan: Der gesamte Export der Firma Krupp soll über die USA geleitet und abgewickelt werden, und Präsidentin der dafür zu schaffenden Körperschaft mit Sitz jenseits des Atlantiks werde Vera selbst. »Die haben gedacht: Bei nächster Gelegenheit kassieren wir das alles«, erinnert sich Beitz. »Sie wäre Präsidentin gewesen, und ihr Mann hätte nicht einmal zu ihr einreisen dürfen.« Aufgrund seiner Verurteilung in Nürnberg erhält Alfried Krupp nämlich kein Visum für die Vereinigten Staaten.
Anderntags, in der Frühe, ruft Beitz in Alfried Krupps Büro an. Eine Tür weiter konferiert der Konzernchef bereits mit den Amerikanern. Beitz sagt: »Herr von Bohlen, kann ich gerade zu Ihnen hinüberkommen? Es gibt etwas zu besprechen. Ich würde auch gern die Herren vom Direktorium dabeihaben.« Krupp erwidert: »Nun, ich habe hier gerade Besuch, Freunde aus Amerika.« Aber eben um die geht es Beitz ja. Die »Freunde« sind gerade dabei, Alfried Krupp ihre Pläne vorzulegen, freilich ohne zu erwähnen, wie leicht sie ihn ausbooten könnten. Alle Blicke richten sich auf Beitz, der schließlich das Wort ergreift: »Ich war gestern im Essener Hof und habe alles gehört, was Sie gesagt haben. Ich rate Herrn von Bohlen dringend ab, auf diese Vorschläge einzugehen.« Zu Krupp selbst sagt er kurz nach der geplatzten Sitzung: »Wenn Sie das tun, dann gehe ich wieder.« Am Ende aber hört Alfried Krupp auf seinen Rat, und Veras Exportgesellschaft bleibt ein Luftschloss. Es ist keine Freundschaft, die da zwischen Vera und dem Generalbevollmächtigten ihres Mannes entsteht.
1956 verlässt Vera ihren Mann. Die Ehe wird geschieden, die Treulose abgefunden, wenn auch nicht mit den Reichtümern, die sie sich vorgestellt hat. Nicht alle haben das negative Bild geteilt, das Berthold Beitz von ihr gewann. Liselotte Schoop, die Frau seines Protokollchefs, hat Vera oft gesehen und einen ganz anderen Eindruck gewonnen: »Sie war eigentlich eine Klassefrau. Aber sie wollte fröhlich sein, leben und ausgehen. Und Alfried war eben vor allem für die Firma da.«
Alfried Krupp begräbt Vera tief in seinem Herzen. Die Einsamkeit, der er kurz entronnen war, umschließt ihn erneut wie eine dunkle, undurchdringliche Wolke. Und umso wichtiger wird für ihn Berthold Beitz.
»IHR ZERBERUSSE, WAHRT NUR EUER
REICH«:
KAMPF UM KRUPP
Es ist lange her, seit dieses Haus ein fröhliches Fest gesehen hat. Dunkel und drohend steht es da, als hause in seinen zahllosen Räumen noch ein böser Geist, der Tragödie und Niedergang des Hauses Krupp verschuldet hat. An diesem Novemberabend des Jahres 1955 aber ist die Villa Hügel hell erleuchtet, klirren die Champagnergläser, und heitere Stimmen erfüllen die Säle. Vor dem Hauptportal fahren im Licht der fünfarmigen Kandelaber Limousinen vor, als sei die alte Zeit auferstanden, als Kaiser Wilhelm und seine Entourage zu Gast waren. Schließlich öffnet sich eine Seitentür der Bibliothek, und Alfried Krupp tritt ein, hager, hochgewachsen, asketisch, neben ihm seine Frau Vera, ganz die schicke First Lady des Reiches aus Stahl. Die Fluchtgedanken, die sie bereitshegt, sieht man ihr nicht an, als sie charmant lächelnd durch die Reihen schreitet. Nüchtern und knapp begrüßt Alfried Krupp, der sonst Empfänge meidet, die Gesellschaft aus aller Herren Länder: Fast hundert Mitglieder des diplomatischen Korps sind aus der Bundeshauptstadt Bonn auf den Hügel gekommen, sehr viele von ihnen aus Staaten, die es zehn Jahre vorher noch gar nicht gab.
Auch die Firma Krupp präsentiert sich als Produkt einer neuen Zeit. Anderntags werden die Gäste durch das weitläufige Imperium an der Ruhr geführt, betrachten die Glut der Hochöfen in Rheinhausen, die Walzstraßen und die vielen Dinge, die der Konzern herstellt, darunter sogar Gebisse aus Spezialstahl und falsche Zähne. Nur eines sehen sie nicht: Waffen. Krupp produziert keine mehr. Als die Diplomaten wieder zurück in die kleine Stadt am Rhein fahren, nehmen sie außer Flachmännern aus Kruppstahl noch eine Botschaft mit: Das Reich der Kanonenkönige existiert nicht mehr, und hat es dieser neue, weltoffene Konzern deshalb verdient, von den Siegermächten immer noch wie ein Ausgestoßener behandelt zu werden? Nach wie vor wollen die Alliierten den gewaltigen Industriebesitz von Krupp zerschlagen. Alfried Krupp aber setzt auf das Motto seines Vaters Gustav, der 1912 auf dem Hügel ein – später abgesagtes – Ritterspiel für den Kaiser geben wollte, um bei der Generalprobe selbst blechern unter seinem Topfhelm hervorzurufen: »Ihr Zerberusse, wahrt nur euer Reich!« Damals war Alfried ein Kind, das als Knappe verkleidet auf einem Pony auf die Bühne reiten sollte. Nun ist er, was er nach dem Willen des Vaters zu werden hatte: Herr des Hauses Krupp, und er ist entschlossen, sein Reich zu wahren.
Krupp produziert 1953 wieder – Brücken und Kräne, Lastwagen und Lokomotiven, Schiffe und Turbinen, ganze Industrieanlagen und Dentistenwerkzeug, Feinmechanik und Großbagger. Und das ist noch nicht alles. Der Konzern tut, was Alfried Krupp gefordert hat: »Alle Arbeiten und Aufträge hereinholen, wie sie sich uns bieten.«
Das ist die Haben-Seite, immerhin. Doch beim Soll sieht es finster aus, und das hat, einmal mehr, mit dem versunkenen Reich der Kanonenkönige zu tun. Die alliierten Auflagen haben Krupp das Herzstück genommen oder vielmehr nehmen wollen: die Zechenbetriebe, die Stahlhütten. Krupp ist ein Stahlkonzern, der keinen Stahl erzeugen darf. Dieser massiven Beschränkung hat Alfried Krupp, nur dank McCloys Amnestie der Landsberger Gefängniszelle entronnen, zustimmen müssen.
Am 4. März 1953 wird das bereits erwähnte Mehlemer Abkommen geschlossen, benannt nach dem idyllischen und unzerstörten Bonner Vorort am Rhein, wo der Alliierte Hochkommissar residiert. Hier, in Sichtweite des Drachenfels und des Siebengebirges, haben einst die Kölner Kaufleute und Industriebarone ihre Villen errichtet. Die alliierten Vertreter sind im weitläufigen Haus der Bankiersfamilie Deichmann untergebracht. Wo also einst die Mächtigen der deutschen Wirtschaft Bedeutung und Reichtum zur Schau stellten, soll nun die Macht ihres bekanntesten Vertreters gebrochen werden, der Firma Krupp.
Alfried Krupp hat die Unterzeichnung delegiert und weilt mit seiner Frau Vera zum Skifahren im schweizerischen Sankt Moritz. Drei Großmächte und ein einzelnes Privatunternehmen besiegeln ein Abkommen, das vielen als Todesurteil für Krupp erscheint. Krupp darf Stahl nur noch verarbeiten, aber nicht mehr selbst produzieren – der Firma soll damit die industrielle Basis genommen werden. Binnen fünf Jahren muss Krupp die Eisenerzgruben, die Zechen in Bochum, Essen und weiteren Orten und, schlimmer noch, das riesige Hüttenwerk in Duisburg-Rheinhausen verkaufen – daher der Begriff »Verkaufsauflage«.
Die Öffentlichkeit in Großbritannien und den USA reagiert pikiert bis empört. Was den Deutschen zu viel ist, geht etlichen dort nicht weit genug, war man doch davon ausgegangen, dass der Name Krupp bald gänzlich Vergangenheit ist. Von Beginn an entschlossen, den Konzern zusammenzuhalten, hat Alfried Krupp dagegen die Vereinbarung von Mehlem nur akzeptiert, weil ihm keine andere Wahl blieb. Sie widerspricht seinem Denken als Konzernbesitzer, und sie bedeutet vor allem auch eine wirtschaftliche Gefahr. Von jeher ist in schlechteren Zeiten jener Industriekonzern am besten gerüstet, der von der Herstellung bis zum Endprodukt alles in der eigenen Hand behält und somit von Rohstoffverkäufern, Zulieferern und Preisdiktaten einigermaßen unabhängig bleibt. Alfried Krupp fürchtet ein weiteres Problem, das er 1955 offen benennt: »Der Grundsatz meines Urgroßvaters, nur das qualitativ Beste zu liefern, wird durch die Entflechtung schwer behindert.« Die Firma darf den Stahl nicht in den eigenen Töpfen kochen, »unsere Schmieden«, so Krupp, »sind mit dem oft unterschiedlichen Material nicht vertraut«. Ebendiese Umstände dienen schließlich auch als Entschuldigung für einen peinlichen Vorfall: Krupp, der Weltkonzern mit dem Gütesiegel, liefert der Reederei des griechischen Milliardärs Onassis eine Großturbine, die allzu bald ihren Geist aufgibt. Ein Materialfehler, heißt es zerknirscht in Essen, zu dem es nie gekommen wäre, ließen die Westmächte Krupp nur tun, was es tun wolle.
Die Verkaufsauflage, so empfindet Alfried Krupp es, widerspricht dem »Geist von Krupp«, den Alfrieds Schwager Tilo von Wilmowsky angesichts der drohenden alliierten Pläne schon 1952 in einem langen Brief an die Familie von Bohlen zusammenfasst. Er zitiert ein Schreiben des alten Krupp vom 19. Dezember 1881:
Ich habe den Zweck im Auge, daß die von mir geschaffenen Werke so lange, als es nach den Gesetzen möglich ist, conserviert und nach Möglichkeit erweitert werden … Es ist ja bekannt, daß ich Bergwerke für Jahrhunderte erworben habe, daß ich die Einhaltung der Substanz für alle Zeiten in der Familie wünsche, daß, wenn ein Jahrhundert über unsere Güter hinweggezogen sein wird, eine weise, solide Verwaltung noch für ein weiteres Jahrhundert verbürgt sein muß.
Dies war das Credo von Alfred Krupp, und dies ist noch immer der Glaubenssatz für seinen Urenkel, sosehr der introvertierte, unglückliche Mann sich auch von seinem energiestrotzenden Ahnen unterscheiden mag. Alfried Krupp kann daher nur beipflichten, wenn ihn der alte Wilmowsky im selben Brief warnt: »Die Alliierten wollen die Entflechtung und damit die Zerschlagung des Ganzen erzwingen; die Trennung von Kohle und Eisen bedroht den Nerv des Krupp-Geistes.« Wilmowsky rät als mögliche Gegenmaßnahme dazu, den Konzern in eine Stiftung umzuwandeln – ein Gedanke, den Alfried Krupp erst viele Jahre später und mit nachhaltigen Folgen wieder aufgreifen wird.
Vorerst bleibt die Situation verworren. Alfried Krupp soll die Berg- und Hüttenwerke verkaufen, damit der Riese von der Ruhr schrumpfe. Vorläufig aber besitzt er sie noch, denn er hat fünf Jahre Zeit für den Verkauf. Er weigert sich freilich, die Anlagen zu betreten, die ihm nicht mehr gehören sollen. Das Geld, das diese Werke einbringen, gehört ihm zwar, aber ihr Herr ist er dennoch nicht, sondern es sind die Treuhänder, welche die Alliierten eingesetzt haben. Zum Symbol der Krupp’schen Teilung zwischen geduldeten und nicht geduldeten Betrieben wird ein hoher Drahtzaun, der sich auf Geheiß der Alliierten mitten durch die weitläufige Industrielandschaft der Krupp’schen Besitzungen in Duisburg-Rheinhausen zieht: auf der einen Seite die – zu verkaufende – riesige Stahlhütte, auf der anderen die Stahlbaufabrik, die ebendiesen Stahl zu Produkten formt, mit denen Krupp die Weltmärkte erobert. 45 000 Menschen arbeiten bei den Handelsgesellschaften, dem Lastwagenbau, der Kohlechemie, dem Lokomotivwerk, den Werften, der Entwicklungsabteilung und vielen anderen Fabriken, die Krupp behalten darf. Aber fast genauso viele, nämlich 43 000 Menschen, sind in den Zechen und Stahlwerken, in der Produktion des Rohstoffs beschäftigt; diese Werke sollen den Besitzer wechseln.
Alfried Krupp holt Beitz auch gerade deswegen nach Essen, damit dieser, unbelastet von den Verhandlungen mit den Alliierten, für ihn den Kampf gegen die Auflagen führt. »Man hat uns«, sagt er 1953 laut Spiegel, »von Kohle und Stahl getrennt, daran kann sich von uns und überhaupt im Ruhrrevier kaum jemand eine richtige Vorstellung machen. Weil ich aber nicht weiß, wie lange dieser Zustand noch andauern wird, brauche ich einen Mann, der von Geburt frei von diesen Dingen ist.«
Berthold Beitz, der keine Rücksichten nehmen muss, kann Klartext sprechen, was ihm ohnehin das Liebste ist. Dem britischen Journalisten Gordon B. Young sagt er 1958: »Ich will ganz offen sprechen, die Vereinbarung war doch von Beginn an unhaltbar, sie war weder vernünftig noch praktikabel. Krupp ohne Stahlproduktion ist wie eine Frau ohne Unterleib.« Wenn er mit Journalisten an seinem Stammplatz im Essener Hof sitzt, erklärt er: »Wenn Alfried Krupp es nicht sagt, weil er zu seiner Unterschrift steht, dann sage ich es. Die Verkaufsauflagen müssen fallen, denn die Krupp-Betriebe gehören genauso zusammen wie ein Bauernhof, auf dem es gute und schlechte Felder gibt.«
Beitz setzt darauf, dass das Interesse der Alliierten mit der Zeit erlahmen wird. Schließlich hat sich weltpolitisch seit dem Koreakrieg von 1950 bis 1952 ein atemberaubender Wandel vollzogen. Vor allem die USA sehen in der Bundesrepublik nun einen wünschenswerten Verbündeten, auf dessen ökonomisches und militärisches Potenzial sie nicht verzichten möchten. »Die Besiegten wurden interessant für die Sieger. Für die Westdeutschen war es eine kopernikanische Wende«, schrieb der Publizist Peter Bender, »so wurde der Kalte Krieg zur moralischen Erlösung. Wenn nun deutsche Staaten als Bundesgenossen gesucht wurden, mußten die Deutschen doch die respektablen Leute sein, für die sie sich immer gehalten hatten.«
Die Regierung ist in einer durchaus heiklen Lage. Aus wirtschaftlichen Gründen muss sie gegen die Zerschlagung des Krupp-Besitzes sein, aus außenpolitischen Gründen aber dafür. Anfang 1956 reist Alfried Krupp nach Bonn, ins Palais Schaumburg, um den Bundeskanzler für seine Pläne zu gewinnen. Konrad Adenauer schätzt den Chef des größten deutschen Industrieunternehmens, dessen Aufstieg aus den Trümmern das Wirtschaftswunder beispielhaft verkörpert. Zu Weihnachten schickt er ihm einmal eine wertvolle Dose der Berliner Porzellanmanufaktur, als »Erinnerungsgabe an die gemeinsame Arbeit« für das Land.
Wesentlich geringer fällt die Freude des Kanzlers über den omnipräsenten Schatten des Konzernchefs aus, Berthold Beitz. Schon bei der Begegnung 1956 ist die forsche Art des Jüngeren wenig geeignet, um Adenauers Herz zu wärmen. Im Arbeitszimmer des Kanzlers, einem weitläufigen Salon mit großen Flügelfenstern, legt Alfried Krupp ihm nun seine Sorgen über die Verkaufsauflage dar. »Mörser Beitz nahm den Kanzler dagegen direkt unter Beschuss«, schreibt der Spiegel. »Sind die Krupps denn Menschen zweiter Klasse?«, fragt Beitz provokant – immerhin garantiere das Grundgesetz die Freiheit der beruflichen Betätigung, was mit der Verkaufsauflage schwerlich zu vereinbaren sei. Er geht so weit, mit einer Verfassungsklage zu drohen.
Zur Klage in Karlsruhe kommt es freilich nicht. Als die vertraglich festgelegte Verkaufsfrist von fünf Jahren abläuft, 1958, beantragt die Firma Krupp beim Bundeswirtschaftsminister eine Verlängerung, formal »wegen fehlender Kaufinteressenten«. Das ist nicht einmal falsch. Das Stahlimperium hätte viel Geld gekostet, zu viel Geld für Investoren. Außerdem müsste der Käufer fast zwangsläufig ebenfalls aus der Montanindustrie kommen. Wer sonst würde das gewaltige Hüttenwerk kaufen wollen? Das Ende vom Lied: Krupp hat keinen Käufer. Was nicht im Verlängerungsantrag steht: Krupp will auch gar keinen haben. Die anderen Montankonzerne möchten nicht auf Kosten ihresgleichen zum Nutznießer alliierter Befehle werden.
In Großbritannien ist das Beharren auf der Verkaufsauflage am zähesten, aber wichtiger sind die USA. Alfried Krupp darf das Land nach wie vor nicht betreten. Also schickt er ab Mitte der fünfziger Jahre Berthold Beitz.
Sein Generalbevollmächtigter ist der richtige Mann für die Krupp’sche Charmeoffensive. Er liebt amerikanische Jazzmusik ebenso wie die amerikanische Lässigkeit. Bei seinen Gesprächspartnern kommt der locker parlierende Emissär aus Essen entsprechend gut an. Auf einem festlichen Empfang der US-Stahlindustrie im New Yorker Prachthotel »Waldorf Astoria« ist er der einzige deutsche Gast. Und im hochmodernen, eleganten Seagram Building an der New Yorker Park Avenue bringt Beitz die US-Vertretung von Krupp unter, gleichsam als Signal dafür, dass der Konzern hierhin gehört, mitten ins Herz des internationalen Geschäftsviertels. Seinen größten Auftritt hat er in San Francisco auf einer internationalen Wirtschaftskonferenz über globale Ökonomie und die Probleme der Entwicklungsländer – als der gute Geist eines zum Guten gewendeten Konzerns. Am Abend vor seiner Rede übt er mit einem Redakteur, den ihm der Time-Herausgeber Henry Luce geschickt hat, die Aussprache, und so hört das Auditorium anderntags dem Krupp-Emissär zu, der daran erinnert, »daß unsere Essener Werke einmal Schienen und Räder für Ihre transkontinentalen Eisenbahnen lieferten«. Für die Gastgeber hat er Dank und Lob: »Ohne die umfassende, die großzügige finanzielle und wirtschaftliche Hilfe, die die Vereinigten Staaten nach dem Krieg Deutschland gewährt haben … hätte dieser Aufbau nicht vollbracht werden können, und ich persönlich stünde nicht hier und spräche zu dieser erlesenen Versammlung.«
Hauptthema seiner Rede ist jedoch die Hilfe für die Schwellen- und Entwicklungsländer, die er wirtschaftlich mit der Ersten Welt vernetzen will – durch den Transfer von Wissen, günstige Devisenkredite und Staatsbürgschaften der reichen Länder für mutige Investoren in den armen. Im Kern sieht der Plan vor, dass westliche Privatunternehmen gemeinsam Entwicklungsgesellschaften gründen. Dazu hat Beitz US-Unterstaatssekretär Robert Murphy sogar persönlich ein eigenes Memorandum übergeben, dessen Inhalt man heute, fünfzig Jahre später, als Leitfaden zu »nachhaltiger Entwicklung« bezeichnen würde. Nicht umsonst gilt Beitz manchen Experten als entwicklungspolitischer »Visionär großen Stils«. Die US-Administration nennt das Memorandum das »Point four and a Half Program« oder schlicht den »Krupp-Plan«. Die Rolle der USA wäre dabei, den Drittweltstaaten günstige Entwicklungskredite zu gewähren. Bei Murphy geht Beitz ein und aus, »sehr zum Erstaunen des deutschen Botschafters Krekeler, dem er eines Tages im Flur begegnete«, wie der Spiegel amüsiert notiert.
Das Papier stößt in den USA durchaus auf Wohlwollen. Die US-Kommission für unterentwickelte Gebiete reist sogar eigens nach Essen, um es mit Beitz zu erörtern. Es fügt sich gut in die allgemeine Strategie, die jungen Staaten möglichst vor dem Einfluss des Kommunismus zu bewahren.
In jedem Fall enthält der von Beitz unterbreitete Plan spektakuläre Vorschläge in einer Zeit, in der Deutschlands Nachbarn Frankreich und Belgien noch blutige Kolonialkriege in Afrika führen. Und auch im gesamten Überseegeschäft lautet das Motto des Konzerns: »Wir kommen als Freunde!«
Krupp’schem Personal im Auslandsdienst wird unter Beitz entsprechend vermittelt, dass »eine geringere Einschätzung der braunen oder schwarzen Mitarbeiter« nicht die von der Firmenleitung erwünschte Einstellung widerspiegle, denn: »Wir müssen uns draußen immer bewußt sein, daß wir bei den jungen Nationen auch Helfer und Berater sind.«
Das Geschäft mit den jungen Staaten in Übersee hat der Konzernherr gleich nach seiner Rückkehr aus der Landsberger Haft entdeckt. Die »Wir-kommen-als-Freunde«-Mission verkörpert jedoch niemand besser als Berthold Beitz. »Das Bedeutendste«, sagt er zwei Jahrzehnte später zu Golo Mann, »war die Umwandlung des Namens Krupp zu einem positiven Namen in aller Welt: Wir kamen doch wie ein Phoenix aus der Asche. Die ganze deutsche Industrie war neidisch auf uns.« Krupp engagiert sich rund um die Welt, nicht als einziger Großkonzern natürlich, aber wohl am intensivsten. Für viele überraschend, ist Alfried Krupp von Bohlen und Halbach persönlich in vielen dieser Länder zu sehen, ein stiller, höflicher, sogar charmanter, vor allem aber respektvoller Gast aus Deutschland. So entstehen etwa Stahlwerke und Zementfabriken in Indien. Von einer Brasilienreise schickt Alfried Krupp der Werkszeitung Dias: Rauch ausstoßende Krupp-Lokomotiven von 1925 und rotgedeckte Häuschen am Hügel von Campo Limpo, wo der Konzern eine Schmiede und ein Autozuliefererwerk aufbaut. Außerdem gibt es große Pläne im Iran.
Oftmals gehen Beitz und Krupp gemeinsam auf Reisen: 1956 treffen sie auf einem Rheindampfer mit Indiens Ministerpräsidenten Jawaharlal Nehru zusammen, der auf Staatsbesuch in Deutschland weilt. Krupp punktet bei den Indern mit seinem Image: Man liefert Qualität, und nichts ist unmöglich. So lädt das Motorschiff Bärenfels 1959 die wohl schwerste Warensendung aus, die jemals in Indien eingetroffen ist: einen 165 Tonnen schweren Walzenständer für das indische Stahlwerk in Rourkela, der dann per Schiene über einen eigens in Essen gefertigten Tiefladewaggon mit 14 Achsen nach Rourkela weitertransportiert wird. Das sind Nachrichten, wie sie Berthold Beitz liebt. »Er setzt seinen Good-Look in Devisen um«, schreibt der Spiegel in seiner Beitz-Titelstory von 1959, »auch beim Diplomatischen Korps in Bonn wirkt Beitz exportfördernd, indem er etwa, mit einer weißen Schürze angetan, dem indischen Botschafter eigenhändig Steaks brät.« Hinter solchen Gesten steht freilich noch etwas anderes, eine für Beitz typische Haltung, die in den Entwicklungsstaaten sehr gut ankommt und, natürlich, den Weg fürs Geschäft bahnt: Respekt, Achtung, Behandlung auf Augenhöhe.
Ein erster Höhepunkt ist 1954 der Deutschland-Besuch eines veritablen Kaisers, Haile Selassie aus Äthiopien. Das alte christliche Reich in Ostafrika erholt sich noch von den Folgen der Terrorherrschaft, die das faschistische Italien seit der Invasion 1936 über das Land gebracht hat. Die Idee, ihn nach Essen einzuladen, hat Beitz: Der Besuch jenes Kaisers, der unter Hitlers Verbündeten schwer gelitten hat, wäre eine Auszeichnung für Krupp, fast ein Symbol für die Erneuerung des Konzerns. Er entsendet daher Schoop zur Sondierung ins Auswärtige Amt nach Bonn. Leider fällt der Empfang nicht sehr warmherzig aus. Protokollchef Hans-Heinrich Herwarth von Bittenfeld wimmelt Schoop formvollendet ab, die Sache ist ihm zu heikel. Ein anderer Staatsgast, ein andermal, man werde in Kontakt bleiben, auf Wiedersehen. Schoop bleibt hartnäckig, wie er erzählt. »Um mich loszuwerden«, erinnert er sich, »hat er mich dann hinüber zu seiner Legationsrätin geschickt. Das war die berühmte Frau von Pappritz, mit der verstand ich mich sofort.« Erica Pappritz (1893–1972) – damals gern, aber fälschlich Gräfin Pappritz genannt – ist eine Berühmtheit, die Anstandsdame und Benimm-Expertin der Ära Adenauer, der sie nach Bonn geholt hat. Von ihr stammt das Buch der Etikette, in den fünfziger Jahren als Benimm-Bibel berühmter als der Knigge. Der wohlerzogene junge Mann aus Essen findet Gnade in den Augen der Protokoll-Vizechefin: »Herr Schoop, Sie können den Herrschaften in Essen sagen, wir machen das schon!« Selig reist der Emissär heim, und der hohe Besuch, für den Beitz eigens die äthiopischen Gaststudenten in der Bundesrepublik einladen lässt, wird ein beachtlicher Erfolg. Als dann am Abend die Wagenkolonne seiner Majestät den Hügel verlässt, entlang fackeltragender Krupp-Lehrlinge, wendet sich Alfried Krupp an Schoop und sagt: »Na, Sie haben jetzt wohl auch ein paar Pfund abgenommen.« Beitz, der neben ihm steht, ergänzt: »Ich glaube, das war auch nötig.« Der Verulkte versteht die Scherze, wie sie gemeint sind: als Kompliment.
Dem Kaiser folgen etliche Könige und Staatschefs auf den Essener Hügel. Im September 1956 ist das griechische Königspaar zu Gast, anschließend die Ministerpräsidenten Thailands, Brasiliens und des Sudan. Dem kleinen Sohn des indonesischen Staatspräsidenten Achmed Sukarno, den der Vater mit auf Deutschlandreise genommen hat, lässt Beitz in Essen eine elektrische Spielzeugeisenbahn aufbauen, komplett mit Bäumen, Schranken, Rangiergleis und einem Kran, der kleine Kistchen auf bereitstehende Lastwagen verlädt. In vielen Zeitungen ist das Foto zu sehen, wie der beglückte Junge Alfried Krupp artig die Hand zum Dank reicht; im Hintergrund, lächelnd wie stets, Berthold Beitz. Mit jedem solchen Foto, mit jedem Zeitungsbericht, mit jeder Reportage in den bunten Blättern weicht der dunkle Schatten ein wenig mehr vom Hause Krupp. Und durch die wie für Riesen geschaffenen Säle der Villa Hügel hallen seit 1953 nicht mehr die Befehle der Patriarchen, sondern die sanften Stimmen der Führer, die den Besuchern 1959 zum Beispiel »5000 Jahre Kunst aus Indien« präsentieren: Das Haus, in dem die Familie Krupp längst nicht mehr lebt, dient nun als Kunst- und Ausstellungsort.
Ein Foto von 1961 zeigt eine Riege gut gekleideter Herren, die sich stolz vor der Villa Hügel aufstellen wie der Hofstaat vor dem königlichen Schloss. Vor ihnen stehen die Herrscher von Krupp: steif und ernst Alfried von Bohlen und sein Sohn Arndt, der zu dem Zeitpunkt noch als Nachfolger und Firmenerbe gilt, links neben ihnen Berthold Beitz, breitbeinig und heiter. Die mehr als 200 Männer im Hintergrund sind die Auslandsvertreter der Firma Krupp, angereist aus 53 Ländern, deren Flaggen im Hügelpark im Wind flattern. Zwanzig Prozent der Krupp’schen Erzeugnisse gehen bereits in alle Welt und davon schon mehr als ein Drittel in Länder außerhalb Europas und Nordamerikas – in dieser Zeit, in der ideologische und ökonomische Hindernisse den Warenverkehr erschweren und in der die Globalisierung noch unvorstellbar fern ist, ein spektakulärer Wert.
Aber bei aller Internationalität: In die USA darf Alfried Krupp nach wie vor nicht einreisen, was ihn sehr verbittert. Immerhin aber führt Beitz’ Wirken dazu, dass sich auch in den USA das Bild von dem Konzern und seinem Besitzer allmählich aufhellt. »Gustav Krupp, nicht Alfried, hatte Hitler unterstützt und auf Befehl des ›Führers‹ ausländische Zwangsarbeiter beschäftigt«, schreibt etwa der Reader’s Digest, um hinzuzufügen: »Alfried Krupp hatte sich kaum schuldig gemacht.« US-Botschafter David Bruce folgt sogar Beitz’ Einladung zur Fasanenjagd, an der auch der Konzernherr Alfried selbst teilnimmt. Einträchtig plaudernd spazieren die Herren durch die diesige Herbstlandschaft, die doppelläufigen Flinten lässig im Griff. So schlimm kann die US-Administration also nicht mehr über den Essener Stahlkönig denken.
Wie hoch der Anteil von Beitz an dieser positiven Entwicklung ist, zeigt 1961 unter anderem ein ganzseitiges Porträt über »the man behind the Krupps« im britischen Observer. Der – noch dazu in der Nazizeit unbelastete – »starke Mann« von Essen sei die Verkörperung einer neuen Generation deutscher Industrieller, »die mit frischen Gedanken, klugen Ideen und einem gewissen coolen Mut zum Risiko mehr als andere für Deutschlands Wiederaufstieg verantwortlich sind«. Zur besten Sendezeit ist Beitz auch im US-Fernsehen zu sehen: der junge Boss aus Germany. Lächelnd wartet er nur auf die Frage des Moderators, ob Krupp wieder tun werde, wofür es bekannt sei, nämlich Waffen herzustellen. Aber nein, antwortet Beitz, »das werden wir nicht mehr. Damit haben wir zu schlechte Erfahrungen gemacht. Die deutschen Industriellen, so glaube ich, können nicht in zehn Jahren vergessen, was gewesen ist.«
Krupp, der Konzern, ist wieder salonfähig, die Geschäfte gehen gut. Doch die leidige Verkaufsauflage bleibt bestehen, vor allem wegen der öffentlichen Meinung in den USA und Großbritannien. So wird der Vertrag Jahr um Jahr verlängert. Längst aber hat Beitz bestimmt: »Wir verkaufen keinen einzigen Ziegelstein mehr.« Das sagt er, nachdem Krupp als einzigen Betrieb von Rang sein Bergwerk Emscher-Lippe in Datteln veräußert hat. Im Gegenzug plant Beitz bereits, den Geist von Mehlem endgültig auszutreiben. Der Bochumer Verein, jener Montankonzern, den er zuerst für einen Fußballverein gehalten hat und der jahrzehntelang ein hartnäckiger Konkurrent von Krupp war, soll mit den Hüttenwerken Rheinhausen fusionieren. Insofern ist es nur auf dem Papier eine Konzession an die Alliierten, dass Krupp 1956 seine 51-prozentige Aktienmehrheit am Bochumer Bergwerk Constantin an den Bochumer Verein verkauft. Bald, so der Wille von Alfried Krupp und Berthold Beitz, wird ohnehin alles Krupp gehören. Der Bochumer Verein befindet sich mehrheitlich in den Händen des schwedischen Unternehmers Axel Leonard Wenner-Gren, der nun wiederum seine Anteile über eine Bank an die Hütten- und Bergwerke Rheinhausen AG veräußert, also exakt an jenes Werk in Duisburg, das Krupp doch auf Druck der Alliierten verkaufen soll. Und deren Aufsichtsratsvorsitzender soll niemand anderes werden als Berthold Beitz, der Generalbevollmächtigte. Treffend schreibt der Journalist Frank Stenglein: »So entsteht eine paradoxe Situation: Die Holding Rheinhausen wird immer größer, wertvoller – und immer unverkäuflicher.«
Welch ein industriepolitischer Coup, denn laut Mehlemer Vertrag darf Krupp eigentlich gar kein Montanunternehmen dazukaufen. Die Edelstahlbasis von Krupp ist damit gesichert. Die Alliierten, längst mit wichtigeren Angelegenheiten beschäftigt, belassen es bei leisem Grollen. Aufsichtsratschef der Rheinhausener Hütte ist zuletzt, bis zu seinem Tod 1956, Friedrich Janssen gewesen, bis 1955 Beitz’ Kollege und Intimus als Generalbevollmächtigter. Janssen aber lässt in seiner Amtszeit 1955/56 die Geschäfte wegen der Verkaufsauflage ruhen, ganz im Gegensatz zu Beitz, dem schließlich sogar das Bundeswirtschaftsministerium den Rücken stärkt: Was Janssen, »der das besondere Vertrauen des Herrn Alfried Krupp von Bohlen und Halbach hatte«, gedurft habe, nämlich Rheinhausen kontrollieren, gelte ebenso für seinen Nachfolger Berthold Beitz. Und als die Hohe Behörde der Montanunion in Luxemburg den Zusammenschluss des Rheinhausener Werks und der Bochumer Hütte tatsächlich billigt, erscheinen die alten Auflagen mehr denn je wirklichkeitsfremd.
Vorstandschef der Hüttenwerke Rheinhausen wird auf Alfried Krupps Vorschlag schließlich Beitz’ Vertrauter Günter Vogelsang, ein Krupp-Mann auf dem Führungsposten eines Werks, das Krupp doch gar nicht mehr gehören soll.
Die von den Alliierten eingesetzten Treuhänder, die den Vollzug des Mehlemer Abkommens überwachen sollen, sind irritiert und beklagen sich, in Essen und in Bonn. Beitz brüskiert sie – an ihrer Spitze steht immerhin der frühere Reichskanzler von 1925/26, Hans Luther – bei einer Aussprache in jenem Ton, der vielen missfällt. »Meine Herren, Sie sagen immer, Sie tragen so schwer an Ihrer Verantwortung. Da gibt es doch ein sehr einfaches Mittel: Legen Sie Ihre Ämter nieder, dann löst sich doch alles in Wohlgefallen auf.«
Berthold Beitz wird am Ende als Sieger aus dem Ringen um Krupp hervorgehen. Es vergehen freilich noch Jahre, bis die Verkaufsauflage im Dezember 1968 endgültig fällt. Für Alfried Krupp dauert es zu lange, er stirbt ein Jahr vorher. Nüchtern bilanziert die Neue Zürcher Zeitung: »Die Affäre Krupp [gemeint ist der Kampf um die Verkaufsauflage; J. K.] ist und bleibt ein Beispiel dafür, wie sich in den zwischenstaatlichen Beziehungen Erinnerungen und Ressentiments zu behaupten vermögen, auch wenn der nüchterne Verstand und die wirtschaftliche und politische Vernunft längst andere Wege gehen würden.«
150 JAHRE KRUPP: JUBELFEIERN IN ESSEN
Da steht das Häuschen, als sei es nie im Bombenhagel zerstört worden, ein einstöckiger Fachwerkbau mit Klappläden und rotem Ziegeldach, das Stammhaus der Firma Krupp. Hier hat 150 Jahre zuvor der Aufstieg des Unternehmens begonnen, und Restauratoren haben es so wiederaufgebaut, wie es damals ausgesehen hat. Es entbehrt nicht einer gewissen Symbolik, dass das Stammhaus nun in einer Halle steht, die um ein Vielfaches größer ist, einer Traglufthalle, ebenfalls entwickelt von Krupp. Zweitausend geladene Gäste sind gekommen, darunter Altbundespräsident Theodor Heuss und Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard, die Parteivorsitzenden, BDI-Präsident Fritz Berg, zahlreiche Industrielle und internationale Gäste. Nur Konrad Adenauer fehlt, wegen einer Auslandsreise, wie er hat wissen lassen. In der Lehrwerkstatt nebenan schauen Hunderte Arbeiter auf einer großen Leinwand zu – ein frühes Beispiel von Public Viewing.
Es ist der 20. November 1961, ein strahlender Herbsttag, der die größte Anzahl von dunklen Mercedes-Limousinen vor dem Krupp-Hauptsitz an der Altendorfer Straße vorfahren lässt, welche die Stadt je gesehen hat. Deutschlands größtes Privatunternehmen hält Hof. Als die Bergmannskapelle vor dem Eingang um Punkt elf Uhr verstummt, wird drinnen eine beinahe märchenhafte Geschichte erzählt. Sie handelt nicht von Aufstieg und Fall, sondern im Gegenteil von Fall und Aufstieg des Hauses Krupp.
112 000 Menschen arbeiten inzwischen bei Krupp, eine schwindelerregende Größenordnung; im Chaos der Nachkriegsjahre waren es kaum mehr 12 000 gewesen. Mehr als 20 000 Zulieferunternehmen arbeiten mit dem Essener Koloss zusammen. Die Firma unterhält Dependancen in aller Welt. Und für seine Beschäftigten will Krupp Arbeitsstätte und Heimat zugleich sein, dies war und ist der soziale Anspruch der Unternehmerfamilie seit Gründertagen. Alfried Krupp sagt dazu in seiner Festtagsrede: »Zusammenarbeit ist kein Zustand, sondern ein Weg und ein Ziel mit geistigen Grundlagen auf dem Boden gegenseitiger Achtung und Anerkennung.«
Theodor Heuss, der liberale Altbundespräsident, wiederum erteilt Krupp eine Art politischer Absolution, und dass er dabei gelegentlich ins Nuscheln gerät und die Gäste sich mehrfach flüsternd fragen, was er denn eben gesagt habe, mindert die Wucht seiner Worte keineswegs. Kurz vor dem Festakt habe er, Heuss, manchen bösen Brief erhalten. Ein Mann »deutscher Herkunft« habe etwa geschrieben, ob der Bundespräsident nichts davon wisse, dass er »ein Plädoyer für Kriegsverbrecher plane«. Vermutlich, so Heuss, »hat er sich über meine Antwort nicht gefreut«. Er halte es daher für seine »Pflicht, ganz freimütig ein paar Worte über das schwer erträgliche Pharisäertum zu sagen, das noch nicht ganz ausgelöscht ist«: Auch andere – Franzosen, Tschechen, Amerikaner – hätten Waffen hergestellt, doch nur im Hinblick auf Krupp tue man so, als sei die Firma als Rüstungskonzern »eine Dependance der teuflischen Hölle« gewesen. Die Frage, für welchen Zweck Krupps Waffen hergestellt wurden, vermeidet Heuss freilich. Krupp, so die Botschaft, ist im Lande wieder, was es immer war. »Der Name Krupp hat sich in einem Werk objektiviert, das aus den Kräften einer großen und einer tragischen Vergangenheit die Kräfte bezieht, die immer eine Zukunft suchen. Und wir spüren: finden wird.«
Wir sind wieder wer, heißt es in der Ära Adenauer. Auch Krupp ist wieder wer. In seinem Buch Im Ruhrgebiet von 1958 schreibt Heinrich Böll: »Die Macht an der Ruhr ist nicht mehr in Namen fassbar: Krupp, Thyssen, Haniel. Macht entsteht heute durch Konzentration verzwickter, undurchsichtiger Verwaltungsgebilde; hinter unschuldig lächelnden Angestellten wird heute Macht versteckt. Macht, die sich auf die arbeitende Armee unter Tage und in den Hütten stützt. Kohle und Stahl sind Macht.« So schön diese Sätze formuliert sind, so falsch sind sie doch – zumindest, was Krupp betrifft. Klarer kann eine Hierarchie nicht sein: Der Regent heißt Alfried Krupp, und er regiert mit Hilfe von Berthold Beitz, der in der Tat sehr unschuldig lächeln kann.