Eine Art Heimkehr: Berthold Beitz und die DDR

Der Generalsekretär ist nicht der Mann, der für sein leutseliges Wesen bekannt wäre. Aber an diesem sonnigen Spätsommertag des Jahres 1982 ist er im Rahmen seiner Möglichkeiten geradezu ausgelassen. An nichts soll es den Gästen aus dem Westen mangeln, ruft Erich Honecker: »Für Sie, meine Herren, ist etwas Schönes vorbereitet: Eine Seerundfahrt! Breschnjew hat gesagt, daß es für ihn nichts Schöneres gebe.« Am Abend strahlt das Jagdhaus Hubertusstock wie zu feudalen Zeiten, als es der preußische König Friedrich Wilhelm IV. in der Schorfheide zu Ehren seiner Münchner Gattin im altbayerischen Stil errichten ließ, mit so vielen Geweihen dekoriert, dass man um die Hirschbestände fürchten musste. Die Runde sitzt bis Mitternacht an festlich gedeckten Tischen; gereicht werden, auf Meißner Porzellan mit Weinlaubmotiven, Eier mit Lachskaviar, Gänsekeulen, Wildsteak »Hubertus«, warmer Zwiebelkuchen, Weißwein aus Meißen und Wodka aus dem großen sozialistischen Bruderland. Und so haben nun neben Berthold Beitz, von der DDR-Presse stolz aufgezählt, Stiftungskurator Hans Leussink, der ehemalige nordrhein-westfälische Ministerpräsident Heinz Kühn und Vorstandschef Scheider Platz genommen; auf der Tischseite der Gastgeber sitzen unter anderem Wirtschaftsminister und ökonomischer Chefplaner Günter Mittag, Außenhandelsminister Gerd Beil, Staatssekretär Alexander Schalck-Golodkowski – und natürlich Erich Honecker. Der Star unter den Gästen weiß die Aufmerksamkeiten zu schätzen. »Ich fühlte mich nicht wie ein Gast aus einem fremden Land«, wird Beitz später sagen, »sondern wie einer, der dem Kuratorium seine Heimat zeigt.«

Und tatsächlich, Berthold Beitz ist nach Hause gekommen. Mit den Kuratoren der Krupp-Stiftung bereist er den Nordosten der DDR, die pommerschen Stätten seiner Jugend. Beitz trifft in Stralsund Menschen, die er seit Jahrzehnten nicht gesehen hat, er klingelt in Greifswald an der Tür des Hauses, in dem er einst gelebt hat, und besucht sein von langer Vernachlässigung gezeichnetes Geburtshaus. Die Fensterscheiben sind eingeschlagen. Im Garten sieht er eine alte Handpumpe – ob er die mitnehmen könne, als Erinnerung an seine Jugend?

Dort, in Zemmin, steht Ortschronist Rudi Böhme am Friedhofszaun und beobachtet ungewöhnliche Aktivität auf den holprigen Dorfstraßen: Polizei-Wartburgs, zivile Wagen der Stasi, Volkspolizisten an den Zufahrten. Es ist der 24. August 1982. Die Dörfler raunen, hohe Kirchenmänner seien unterwegs in den Ort. Doch der Pastor klärt Böhme auf: Krupp-Chef Berthold Beitz werde erwartet. Spontan entschließt sich Böhme, etwas Ordnung im wild verwucherten hinteren Teil des Friedhofs zu schaffen. Dort, unter Dornen und Schlingpflanzen, liegt die Grabstätte des Barons von Sobeck, die auf Geheiß der Obrigkeit zur Strafe für dessen falsche Klassenzugehörigkeit sich selbst überlassen blieb. Als Böhme daheim eine Sense holt, wird er von seiner Frau mit mildem Spott bedacht: Ob er jetzt einen Bauernkrieg beginnen wolle? Bald ist die kleine aufrührerische Tat getan, das Unkraut beseitigt. Kurz darauf kommt Beitz, von einem großen Tross gefolgt, vorbei, er sieht Böhme vor dem frisch geharkten Weg und sagt im schönsten pommerschen Platt: »Nu möt ich äwer hier röwer«, worauf Böhme erwidert: »Mit’n bäten gauden Willen is alles möglich.«

Guter Wille hat, wenn man so will, diese Reise überhaupt erst möglich gemacht. Zum Abschluss sagt Beitz zur Zeit-Reporterin Marlies Menge, die den Rummel fasziniert beobachtet hat: »Viele werden die Nase rümpfen, sie werden sagen: Der Beitz fährt da hin und spricht mit Honecker. Ich finde, es ist besser, wenn wir Deutschen miteinander reden, als wenn wir uns gegenseitig befetzen, beschimpfen oder bedrohen.«

Und am Fetzen, Schimpfen und Drohen fehlt es in der großen Politik im Jahre 1982 nicht. In der Bundesrepublik lässt die FDP die sozialliberale Koalition scheitern. Helmut Schmidt hat, als energischer Verfechter der Nato-Nachrüstung, den Rückhalt seiner Partei verloren. Der Raketenstreit entzweit die Bundesrepublik. Ausgerechnet in dieser angespannten Lage findet man Berthold Beitz erneut in jener Rolle, die er 25 Jahre zuvor schon einmal gespielt hat: in der des versöhnlichen Mittlers nach Osten. Diesmal aber ist sein Ziel die DDR, und möglich wird dies durch die ungewöhnliche Nähe zu einem Mann, der schon damals und erst recht nach der Wende 1989 als Inbegriff eines seelenlosen kommunistischen Apparatschiks gilt: Erich Honecker, dem Vorsitzenden des Staatsrats der DDR und Generalsekretär des SED-Zentralkomitees, dem mächtigsten Mann im anderen Deutschland.

Mit Walter Ulbricht, dem alten Zuchtmeister der DDR, hatte Beitz nie viel im Sinn gehabt. Nach dem Mauerbau 1961 boykottierte er für mehrere Jahre die Leipziger Messe. Umgekehrt verfolgte man in Ostberlin damals Beitz’ Annäherung an Polen voller Argwohn. Hatte nicht die DDR, hatte nicht Ulbricht die Oder-Neiße-Grenze längst feierlich anerkannt? Was sollten polnische Forderungen an Bonn noch, wenn dort doch nur »Hitlers Hintermänner« an der Macht waren, wie die SED-Propaganda den Ostdeutschen einhämmerte? Jede Versöhnung zwischen Polen und der Bundesrepublik enthüllte eine für Ulbricht schmerzliche Wahrheit, ja eine Wahrheit, die direkt ins Herz seiner politischen Lebenslüge zielte: Die DDR war nicht, wie sie sich selbst feierte, das einzig wahre Deutschland. Dementsprechend hatte die Staatssicherheit Ende der sechziger Jahre ein bösartiges Dossier über Beitz angelegt: Er stehe, da er vor Gericht zugunsten des SS-Mannes Hildebrand ausgesagt habe, im »Verdacht, an Kriegs- und Naziverbrechen im okkupierten Polen mitgewirkt zu haben«. Die Verfasser empfahlen: »Neue Belastungsmaterialien müssten über die polnische Hauptkommission in Warschau angefordert werden.«

Aber das alles ist nun Vergangenheit. 1983, nur ein Jahr nach dem Besuch in Hubertusstock, erhält Berthold Beitz in der kleinen Barockaula der Universität Greifswald die Ehrendoktorwürde im Fach Medizin – er ist erst der dritte Westdeutsche, dem die DDR eine solche Ehrung zuteil werden lässt. Die Uni bedankt sich auf diese Weise für die großzügige Förderung durch die Stiftung. Es ist eine außergewöhnliche Geste, vermittelt durch Minister Mittag, und viele im Saal, die Ostdeutschen zumal, wissen nicht genau, wie sie sich bei dieser Feier für einen Mann verhalten sollen, der doch eigentlich als Klassenfeind gelten müsste. Die Zeit-Journalistin Nina Grunenberg beobachtet die Szene: »Der lockeren Haltung des Laureaten konnte sich am Ende niemand entziehen. Wie Jung-Siegfried zog Berthold Beitz an der Spitze der Professoren in die Aula ein – strahlend, sichtlich erfreut und stolz.«

Vorsichtshalber hat er sich aber zuvor mit einem alten Deutschland-Experten unterhalten, mit Klaus Bölling, dem ehemaligen Regierungssprecher Helmut Schmidts und 1981/82 Ständigen Vertreter der Bundesrepublik in Ostberlin. Honecker, erinnert sich Bölling heute, habe Beitz einen Doktortitel in Politik verleihen wollen. »Aber ich habe ihm [Beitz; J. K.] abgeraten: Das geht nicht, sonst werden Sie hier als Marxist-Leninist vereinnahmt. Herrn Beitz war die Problematik auch gleich klar. Ich sagte ihm, richten Sie den Mittelsmännern doch aus, Erich Honecker möge ihn zum Dr. med. ernennen lassen – schließlich hat er für die Greifswalder Uniklinik viele teure Apparate gespendet.«

Nach dem Besuch in Hubertusstock berichtet Beitz in Bonn Schmidts Berlin-Bevollmächtigtem Hans-Jürgen Wischnewski über die Gespräche mit Honecker und Mittag. Der Leiter des Arbeitsstabes Deutschlandpolitik, Hermann Freiherr von Richthofen, hält den Besuch in einem Protokoll für den Kanzler fest: »Er [Beitz] hat deutlich gespürt, daß GS [Generalsekretär] Honecker zum Gegenbesuch in die Bundesrepublik kommen will«; Honecker sei »an guten Beziehungen zur Bundesrepublik interessiert«. Unter vier Augen habe Beitz auch gefragt, warum der rheinland-pfälzische CDU-Ministerpräsident Bernhard Vogel wegen kritischer Äußerungen über die SED nicht in die DDR einreisen durfte: »Honecker habe bestätigt, daß das DDR-Außenministerium aus einer Verärgerung über Dr. Vogel heraus diese Entscheidung getroffen habe und davon nicht mehr heruntergekommen sei.« Beitz hat Honecker dem Bericht zufolge auch gefragt, warum die Sicherheitsmaßnahmen beim Besuch von Bundeskanzler Helmut Schmidt in Güstrow so »übertrieben« gewesen seien. Bei seiner DDR-Reise im Dezember 1981 war der Kanzler durch ganze Spaliere von Volkspolizisten gefahren, als sei das winterlich-dunkle Land von niemand anderem bewohnt. Honecker hat sich zwar in Ausreden geflüchtet, aber Richthofens Fazit bleibt: »Herr Beitz versteht es sehr gut, mit GS Honecker umzugehen.«

Anders als unter Adenauer wird Beitz von der Bundesregierung aber nicht mehr gebeten, persönlich heikle Anfragen zu übermitteln. Auf der DDR-Seite sieht das anders aus, zumindest in einem Fall. Werner Großmann, hinter Markus Wolf zweiter Mann der geheimnisumwitterten »Hauptverwaltung Aufklärung«, also der DDR-Auslandsspionage, kontaktiert Beitz nämlich einmal in höchst geheimer Mission. In den späten siebziger Jahren trägt sich das Politbüro mit dem Gedanken, Günter Guillaume auszutauschen, den Kanzleramtsspion, über dessen Verrat Willy Brandt 1974 gestürzt ist. Da fügt es sich, dass DDR-Außenhandelsminister Heinz Behrendt einen guten Draht zu Berthold Beitz hat und diesen zu einem diskreten Mittagessen im Prinzessinnenpalais Unter den Linden einlädt. Da sitzen die drei Männer also in gepflegter Umgebung – Beitz, Behrendt und Großmann, der darüber später in seinen Memoiren schreibt: »Beitz hört sich meine Bitte an und verspricht, den Bundeskanzler bei passender Gelegenheit zu fragen, ob er einen Austausch unterstützen wird.«

Einen Monat später legt die Germania VI in Stralsund an. Beitz ist auf Ostseetörn. Im Hafen wartet ein bulliger Mann vor einem Lada: Werner Großmann. Die Männer begrüßen sich, Beitz steigt ein, und die beiden fahren zu einem einsamen Landgasthof. Hierzu schreibt Großmann: »Wir plaudern bei Würstchen und Kartoffelsalat. Schmidts Antwort ist knapp: Guillaume soll seine Strafe absitzen. Berthold Beitz segelt weiter.«

Guillaume, 1975 zu 13 Jahren Haft verurteilt, kommt später dennoch vorzeitig aus dem Rheinbacher Gefängnis heraus. Bei einem Agentenaustausch 1981 kehrt er in die DDR zurück. 1982, berichtet Großmann an anderer Stelle, habe Beitz einen »privaten Wunsch« vorgetragen: Er möchte die Gräber seiner Vorfahren besuchen. So kommt die eingangs erwähnte Reise zustande. Glaubt man Großmann, war er es, der die alte Handwasserpumpe aus dem elterlichen Garten in Zemmin nach Essen schaffen ließ: »Auch das erledigen wir.«

Die Aufmerksamkeit der Stasi weckt Beitz freilich auch aus ganz anderen Gründen. Ihre Agenten und IMs überwachen jede der elf Reisen, die Beitz zwischen 1980 und dem Mauerfall in die DDR führen. Zwar sind sie angehalten, den Gast nicht zu behelligen: »Beitz und seine Begleitung sind bevorzugt und höflich abzufertigen«; »B. führt 2 Jagdwaffen mit, hier sind keine weiteren Maßnahmen durchzuführen«. Trotzdem späht man ihn aus Autos und Verstecken aus, als ginge es um eine große Operation gegen konterrevolutionäre Kräfte. Die Stasi-Akten, die Beitz nach der Wende 1989 einsehen wird, verraten viel über das Spitzelwesen und den aus allen Rudern laufenden Überwachungsstaat. Endlose Seiten von Beobachtungsprotokollen über das Team der GermaniaVI, die an Dutzende von Dienststellen weitergeleitet werden, ohne jeden Erkenntniswert. Vor einer Ostseereise von Beitz Anfang Juli 1986 heißt es da etwa: »Zielgerichteter Einsatz aller geeigneten IM/GMS zur Sicherung der im Rahmen des Aufenthaltsprogrammes genutzten Objekte des Verantwortungsbereichs« oder »Verhinderung des Auftretens von Demonstrativtätern sowie des Wirksamwerdens anderer feindlich-negativer Personen, insbesondere solcher, die die Übersiedlung nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin erreichen wollen.«

Alle Personen, die Beitz auf dieser Reise trifft – alte Schulfreunde, Bekannte, Zufallsbegegnungen –, werden »aufgeklärt«. Zu Zwischenfällen kommt es nicht, sieht man davon ab, dass sich »ein Angehöriger der Crew des Dr. Beitz ›großspurig‹ verhielt«. Im Folgenden einige Auszüge aus dem »Beobachtungsbericht« der Bezirksverwaltung Rostock, Abteilung VIII/4:

»06.07.1986, Hiddensee: Zum Abschluss des Essens verabschiedete er (das Crewmitglied von Dr. Beitz) sich von der Kellnerin K. mit einem Küsschen.« Beitz, so notieren die Geheimdienstleute weiter, »entschuldigte sich beim FDGB-Objektleiter mit folgenden Worten: ›Die Besatzung hat lange keine Frauen gesehen, man müßte dies verstehen‹.«

»06.07.1986, 10:00: … Während des Umsteigens von der Yacht auf die MS ›Delphin‹ trug ein Mitglied der Besatzung eine Kiste Holstenbier …«

»18:13:« Ein verdächtiger Vorgang? »Alle Insassen außer der Fahrer verließen den Bus und betraten das Gebäude des Meereskundlichen Museums. Zu diesem Zeitpunkt wurde Dr. Beitz durch eine männliche Person im Alter von 50–55 Jahren begrüßt.« Was kann sie wollen? »Bemerkung: Bei der männlichen Person handelt es sich vermutlich um den Direktor des Museums.«

Beitz selbst fällt den Beobachtern nicht durch subversive Aktivitäten auf. »Einschätzung zum Objekt: Das Auftreten von Dr. Beitz, B., … war stets höflich und zuvorkommend. Zu den Crewmitgliedern hatte er ein scheinbar herzliches Verhältnis. Anweisungen von Dr. Beitz, B., an die Besatzungsmitglieder wurden sofort ausgeführt, wobei die angesprochenen Personen Haltung annahmen. … Zum größten Teil hatte Dr. Beitz, B., in der Jacke sowie in der Hemdtasche ein Kavalierstaschentuch sichtbar gesteckt.«

Beitz, der von dieser kuriosen Observation nichts mitbekommt, ist gern zu Gast in der DDR – und Gastgeber zu Hause in Essen. Ebenfalls 1986 ist die Villa Hügel Schauplatz einer großen gesamtdeutschen Ausstellung: »Barock in Dresden«. Die Schau mit spektakulären Exponaten aus der sächsischen Glanzzeit Augusts des Starken wird als Sensation wahrgenommen, denn gezeigt werden Schätze, die in Westdeutschland lange nicht mehr zu sehen waren, etwa Gemälde von Rembrandt, Rubens und Tizian sowie Exponate aus dem Grünen Gewölbe. Ausstellungsmacher Werner Schmidt, seinerzeit Direktor des Dresdner Kupferstich-Kabinetts, sagt später dazu: »Man kann schon sagen, daß die Dresdner Kunstschätze für die Westdeutschen außerhalb ihrer Wahrnehmung lagen. Insofern war die Ausstellung in Essen dann ein Dammbruch«– ein Stück deutsch-deutscher Widerannäherung mit den Mitteln der Kultur des Mäzenatentums, ausgerechnet an diesem symbolträchtigen Ort des deutschen Kapitalismus. Das Ganze ist Beitz’ Werk, entworfen mit Zustimmung Honeckers. Schmidt: »Es war ein absoluter Sonderfall. Vorher, bei anderen Partnern, etwa den Amerikanern, mußte immer ein großes formales Brimborium eingehalten werden. Der Sonderstatus von Herrn Beitz hatte hier eine völlig andere Ebene geschaffen. … Der Ausstellungskatalog zum Beispiel war das erste Manuskript, das keiner Zensur unterlag. Das war unter DDR-Verhältnissen etwas ganz und gar Ungewöhnliches.«

Trotz aller Annäherung zwischen Beitz und Honecker: Es bleiben die Mühen der Ebene, auch bei der Dresden-Ausstellung 1986. In Essen führt Klaus Bachmann, der Korrespondent der DDR-Nachrichtenagentur ADN in der Bundesrepublik, ein langes Interview mit Beitz. Der aber will das Interview persönlich autorisieren, also erst nach Lektüre freigeben; das handhabt er immer so bei den seltenen Interviews, die er gibt. Es ist Ausdruck seines Wunsches, die Dinge zu kontrollieren, und damit eines Misstrauens, das auch der Presse gilt – egal, ob aus Ost oder West. Doch in diesem speziellen Fall liest und korrigiert ja nicht nur Beitz, sondern auch die ADN-Chefriege, die noch jeden Text auf Linientreue geprüft respektive hingebogen hat. Das Recht am eigenen Wort steht gegen das selbsterteilte Recht, die Wirklichkeit dem Wunsch entsprechend anzugleichen.

Bachmann entscheidet sich für völlige Ehrlichkeit dem Gesprächspartner gegenüber, und er hat eine Idee, die typisch ist für die gewundenen Wege, die DDR-Bürger oft gezwungenermaßen, aber auch mit Bauernschläue beschreiten müssen, um an der Obrigkeit vorbeizukommen. Bachmann bittet also Beitz, er möge Honecker zitieren, mit einem Satz, der sonst noch nirgendwo gestanden hat. Dann werde der Staatsratsvorsitzende das Gespräch persönlich absegnen, und niemand in der Zensurbürokratie der SED werde noch Einwände wagen. Beitz mustert den Reporter und lacht schließlich. Solche lebensklugen Tricks gefallen ihm. Also diktiert er: »Erich Honecker hat wörtlich zu mir gesagt: ›Da haben wir doch gemeinsam etwas zuwege gebracht, was wirklich vorbildlich auch zu Verständigung und Frieden beiträgt.‹« Die perfekte Honecker-Diktion, und sie verfehlt ihre Wirkung nicht. Der so Zitierte kritzelt »E. H.« an das Manuskript, und es wird in voller Schönheit erscheinen. Dem ADN-Korrespondenten Bachmann schildert Beitz darin seine Motive. »Die Ausstellung sagt: Egal, was einmal gewesen ist, was uns trennt, hier wird gezeigt, wie die Zukunft sein soll, wie sie sein kann, wenn der Frieden erhalten bleibt. So gesehen kann man ihren politischen Wert gar nicht hoch genug einschätzen.«

Wie so oft bei Beitz sind auch in seiner Beziehung zur DDR persönliche Erfahrungen und politische Überzeugungen eng verwoben. Wie so viele andere hat er 1945 seine Heimat verloren, doch er trägt die Welt seiner Herkunft im Herzen, auch wenn ihm über Jahrzehnte die Rückkehr verwehrt bleibt. Gleichwohl sieht Beitz Deutschland als ein Land, dessen natürlicher Zustand die Einheit ist und nicht das Nebeneinander zweier Teilstaaten, in denen man sich in den achtziger Jahren auf beiden Seiten der innerdeutschen Grenze recht behaglich eingerichtet hat.

Beitz ist ein Pionier der Entspannung gewesen, wobei er die früheren Ostgebiete als das betrachtet hat, was sie waren: als unwiderruflich verloren. Niemals würden die UdSSR oder gar die Polen die Grenzen von 1937 akzeptieren. Im Fall der DDR hegt Beitz andere Überzeugungen: Auf beiden Seiten des Todesstreifens leben die Menschen derselben Nation, man kann sie nicht auf Dauer künstlich trennen, wann und wie auch immer diese Trennung ein Ende haben wird. Also vertraut Beitz dem alten Gedanken Willy Brandts vom Wert der kleinen Schritte statt der großen, fruchtlosen Kontroversen, dem auch in seinem eigenen Wesen tief verwurzelten Gedanken des versöhnlichen Pragmatismus im Alltag.

Insofern ist es gar kein Widerspruch, dass Beitz ausgerechnet zu Erich Honecker ein freundliches Verhältnis aufbaut. Von einer Freundschaft hat er nie gesprochen: »Das wäre zu viel gesagt.« Aber bei den meisten seiner elf DDR-Reisen in den Jahren 1980 bis 1989 trifft er ihn, und mehrfach geht er mit ihm in der Schorfheide auf Pirsch. Eigens für Beitz lässt der Staatsratsvorsitzende den größten Hirsch des Reviers schonen, und der Förster sagt zu Beitz: »Der Chef will, dass Sie ihn schießen.« Abends liegt das erlegte Tier vor der Jagdhütte, und zwölf Jäger tragen Fackeln wie bei einem feudalen Jagdzeremoniell längst vergangener Epochen. Beitz »kann mit Honecker«, so wie er mit Cyrankiewicz oder dem Schah gekonnt hat. Das erspart ihm die inzwischen komplexen Netzwerke der innerdeutschen Beziehungen und erlaubt ihm Gespräche auf Augenhöhe. Beide Männer kommen aus einfachen Verhältnissen, beide waren Gegner des Nationalsozialismus.

»Ich habe mich selbst gewundert«, sagt Beitz im Rückblick. »Merkwürdigerweise hat Erich Honecker, wie man so sagt, einen Narren an Berthold Beitz gefressen. Für ihn war ich eine Art Vorbild – ein Vorbild als guter Deutscher.« Beitz erklärt sich das mit Honeckers langen Haftjahren, mit denen der junge Kommunist Honecker für seinen Widerstand gegen das Dritte Reich hatte büßen müssen. Und der Kapitalist aus Essen, etwa im gleichen Alter, »war einer, der sich in der Nazizeit anständig benommen hat«. Auf dieser Basis verbindet beide noch eine Gemeinsamkeit, die auf Anhieb gar nicht so leicht zu erkennen ist: Patriotismus, so unterschiedlich er bei beiden auch aussieht.

Honecker erkennt schon Ende der siebziger Jahre, dass ein Staat, noch dazu ein Teilstaat, der seine Wurzeln aggressiv verleugnet, ein gewaltiges, womöglich existenzgefährdendes Legitimationsproblem hat. Unter Ulbricht und der alten SED-Garde, anfangs auch noch unter Honecker, galten die Ostdeutschen als »sozialistische deutsche Nation«. Die Ideologen suchten die Gemeinsamkeiten mit der Bundesrepublik nicht, sie leugneten sie. Wo sich gemeinsame Traditionslinien hätten erkennen und pflegen lassen, wurden sie gekappt. Im Westen fand das durchaus seine Entsprechung: Der Widerstand gegen Hitler etwa hätte einen Grund geboten, auf dem beide Staatskonzepte hätten stehen können. Im Westen aber galt der opferreiche Kampf der KPD gegen Hitler als Phänomen, das man besser ignorierte; im Osten betrachteten die Ideologen die Offiziere des 20. Juli 1944 als »reaktionäre Offiziersclique« mit klassenfeindlichen Überzeugungen. Auschwitz galt als Problem der Westdeutschen, und Männer wie Berthold Beitz waren bloß »Vertreter der Monopole«.

Unter dem späten Honecker ändert sich das – erst langsam, dann aber nachhaltig. Die DDR mag im Osten als ökonomische Macht gelten, aber tatsächlich hat sie den Anschluss an den Westen verloren. Jeden Tag sehen die Bürger im Westfernsehen eine Welt, die im krassen Gegensatz zu dem Bild steht, das die Staatspropaganda vermittelt. Die marxistische Utopie gerät für jedermann erkennbar zur ideologischen Bankrotterklärung. In dieser Situation, einer selbst verschuldeten Legitimationskrise, schreibt der Publizist Peter Bender völlig zu Recht, wagte Honecker »etwas, das vorher niemand in der SED-Führung gewagt hatte: Die DDR sollte deutscher werden.« Sie soll sich der Geschichte erinnern, so wie es die Polen, Tschechen und Ungarn ganz selbstverständlich tun. Das Mittel dazu ist, in der Sprache der DDR-Weltanschauungsplaner, das Konzept von »Erbe und Tradition«, definiert vom Chefideologen Kurt Hager: »Wir verstehen die Geschichte der sozialistischen DDR zugleich im Sinne einer Nationalgeschichte des deutschen Volkes«, wenngleich auch als deren »wichtigstes Kapitel«.

Als Erbe gilt nun die gesamte deutsche Geschichte, als Tradition alles Positive, was seine Erfüllung in der DDR gefunden habe. Nun plötzlich ist das Hitler-Attentat von 1944 eine »Tat wahrer Patrioten«, wird Martin Luther in wohlwollendem Licht betrachtet, die Synagoge in der Oranienburger Straße zu Berlin rekonstruiert und das Reiterstandbild Friedrichs des Großen wieder auf den alten Platz Unter den Linden aufgestellt; ehrgebietend blickt der Preuße nun auf die Machtzentrale des sozialistischen Staates. Nun ist es auch möglich, den Kapitalisten von Krupp zu ehren und seine Rettungstaten im Dritten Reich zu loben, so wie in der Greifswalder Laudatio von 1983: »Das Haus, das die Familie Beitz in Boryslaw bewohnte, bezeichnen viele als die das Überleben sichernde ›Arche Noah‹ …«

Mit einem Wort: Deutschland ist bei allen nach wie vor enormen Differenzen ein gemeinsamer Boden, auf dem sich Berthold Beitz und Erich Honecker bewegen. Wie die Zukunft aussehen soll, darüber hat jeder seine eigenen Vorstellungen. »Seid vorsichtig, eines Tages klopft der Sozialismus auch an Eure Tür! Und wenn der Tag kommt, dann steht die Frage der Vereinigung der beiden deutschen Staaten vollkommen neu«, prophezeit Honecker den Westdeutschen 1984, was schon damals lächerlich wirkt angesichts des wenig attraktiven Staatswesens, dem er vorsteht. Beitz ist recht sicher, dass dieser Tag niemals kommen wird.

Das gewachsene Selbstbewusstsein des SED-Staates erleichtert es der SED im Übrigen, im Westen um Bündnispartner für ihre »Friedenspolitik« zu werben, etwa um die Friedensbewegung. Beitz ist diese Gefahr der Vereinnahmung bewusst. Zur Nachrüstungsfrage äußert er sich nicht, wohl aber, wie zwanzig Jahre zuvor, zur Vorreiterrolle des Handels. In der Süddeutschen Zeitung schreibt er dazu 1984 in einem Gastbeitrag für eine große Sowjetunion-Beilage, dass »Arbeitsteilung das Einkommen und den Wohlstand aller an diesem Handel beteiligten Länder fördert« und dass »Kontinuität in wirtschaftlichen Kontakten eine Krise der politischen Beziehungen mildern könnte« – wie damals in »den Jahren des Kaltes Krieges«. Bis 1985 wahrt Honecker, was in Bonn genau verfolgt wird, bei aller demonstrativen Linientreue eine gewisse Eigenständigkeit von Moskau. Gerade in der Raketendebatte ist er, in Nuancen, moderater als die Russen – ein nuklearer Schlagabtausch mit Mittelstreckenraketen, das weiß er, würde sein Deutschland auslöschen. Erst durch Gorbatschow, durch Glasnost und Perestroijka, durch die Reformer im Kreml wird er immer rascher ins Hintertreffen geraten, bis er schließlich beim Besuch des sowjetischen Staatsratsvorsitzenden zur 40-Jahr-Feier der DDR am 6. Oktober 1989 nur noch wie ein Fossil des orthodoxen, zu jeder Wandlung und Reform unfähigen Kommunismus wirkt. »Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren«, sagt Gorbatschow in Ostberlin nach dem sozialistischen Bruderkuss mit Honecker. Daraus wird in der Öffentlichkeit der legendäre, prägnante Satz: »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.« Für die SED wird es der Todeskuss sein.

Solange die DDR aber jene unverrückbare Realität zu sein scheint, für die sie die allermeisten Westdeutschen in den achtziger Jahren halten, nutzt Beitz seinen guten Draht nach drüben so, wie er es früher mit Warschau und Moskau gemacht hat: Er holt Leute heraus.

In vielen Fällen wendet sich Beitz direkt an Ewald Moldt, den Leiter der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn. »Ich wäre Ihnen sehr dankbar«, schreibt er ihm beispielsweise im November 1983, »wenn Sie sich einmal erkundigen könnten, ob eine Möglichkeit besteht, diesen jungen Leuten zu helfen.« So können einige DDR-Bürger ausreisen, die Familie im Westen haben. Ein anderer Fall ist der frühere DDR-Bürger Karl-Heinz K., der 1958 in den Westen geflohen ist. 1982 verlobt er sich mit einer Frau aus Halle, aber wie er befürchtet hat, lassen die DDR-Behörden sie nicht ausreisen. Nach vielen fruchtlosen Eingaben schreibt er an Beitz: »Ich komme mir hilflos vor. 1½ Jahre sind eine verdammt lange Zeit.« Tatsächlich gelingt es Beitz kurz nach der Verleihung der Ehrendoktorwürde in Greifswald, die Verlobte freizubekommen. K. schreibt: »Meine Verlobte ist seit dem 7.1.1984 in der Bundesrepublik … Über eine solche Entwicklung glaubte ich kaum in meinen kühnsten Träumen zu denken.«

Ein menschliches Drama ist auch der Fall des Ehepaars R. aus Suhl. Wolfgang R., Chefarzt an einer Klinik, ist 1982 von einem Besuch bei seiner pflegebedürftigen Mutter in der Bundesrepublik nicht zurückgekehrt. Er will sich um die alte Dame kümmern. Seine Frau aber ist von nun an dem Psychoterror der Stasi ausgesetzt: Hausdurchsuchungen, Verhöre der Nachbarn, Reiseverbot. »Meine Frau und ihre Familie werden psychisch unter Druck gesetzt und gequält«, schreibt Wolfgang R. an Beitz. Nach einem Vierteljahr bekommt Beitz Frau R. über Moldt wieder frei; die Ständige Vertretung der DDR ruft ihn direkt an: »In der Angelegenheit R. wurde am 12. April 1984 die Ausreisegenehmigungerteilt.« Bereits einen Tag später verlässt Gisela R. die DDR.

Im Oktober 1983 schickt Berthold Beitz Moldt »zu den bereits überreichten Vorgängen noch einen Nachzügler«. Hier geht es um eine große Liebe zwischen Hamburg und Greifswald, die es nach den Vorstellungen der SED nicht geben darf. Der Hamburger Klaus-Dieter O. hat bei einer DDR-Reise Jana Z. kennengelernt, ein Mädchen aus dem Kreis Greifswald. An Beitz schreibt er: »Wir lieben uns sehr und wünschen uns nichts sehnlicher, als heiraten und eine Familie gründen zu können.« Doch gegen die »heimtückische Verzögerungsstrategie« der DDR-Behörden kommt das Paar nicht an. Jana Z. darf nicht ausreisen, ihr Verlobter nicht mehr in die DDR kommen. Selbst eine Heirat in Greifswald wird abgelehnt. Die ostdeutschen Stellen bezeichnen die Verlobung als »nicht ernst gemeint«. Am 20. Februar ruft Moldts Büro in Essen an: Jana Z. darf ausreisen.

In wieder einem anderen Fall bittet ein Krupp-Manager um Hilfe. Dessen Tochter hat einen DDR-Diplomaten geheiratet und möchte nun zurück in den Westen, darf aber nicht ausreisen. Beitz versucht es auf den üblichen Wegen, doch die DDR-Bürokratie lässt ihn diesmal auflaufen. Bei der nächsten Begegnung mit Honecker spricht er diesen darauf an: »Sie haben hier ja wohl gar nichts zu sagen in der DDR.« Der Gastgeber, derlei Ansprache auch im Scherz nicht gewohnt, begehrt Aufschluss. Honecker, erklärt Beitz daraufhin, habe ihm doch Entgegenkommen in speziellen humanitären Fragen signalisiert. Und nun? »Sie sagen ja, Ihre Leute sagen nein.« Das wirkt, wie sich Beitz erinnert: »Innerhalb von wenigen Tagen war sie draußen.«

Als Beitz 1986 auf Einladung Honeckers nach Greifswald segelt, ist die DDR-Küstenwache nicht auf der Höhe der Zeit. Ein Patrouillenboot sichtet die Germania VI, die unter vollen Segeln in die Hoheitsgewässer der Deutschen Demokratischen Republik einläuft. Ein unidentifizierter Eindringling! Das bekommen sie nicht jeden Tag zu sehen, die Grenzer eines Landes, aus dem die meisten Menschen hinaus wollen statt hinein. Jedenfalls rauscht das Boot dem Segelschiff hinterher und setzt die schwarzgelbe Flagge: sofort stoppen. Die Germania VI wird regelrecht aufgebracht, wie man auf See sagt. Ein Offizier entert das Deck und herrscht Beitz an: »Was machen Sie hier? Ihre Papiere!« Beitz fragt erst einmal, wie der Mann heiße, dann sagt er: »Warum halten Sie mich an? Ich bin auf dem Weg nach Greifswald, dort werden wir erwartet.« Der Marinemann, mit Widerspruch wenig vertraut, bellt weiter: »Wer hat Sie eingeladen, wer erwartet Sie?« So erlebt auch Beitz, womit jeder konfrontiert wird, der DDR-Grenzen passiert oder mit ihren Offiziellen zu tun hat – »jenen maskenhaften Ernst, der Ausdruck der Souveränität ihres Staates sein soll«. Was immer der Beamte vermutet haben mag, eine Republikflucht mit Hilfe eines konterrevolutionären Piratenschiffs vielleicht, diese Antwort hat er nicht erwartet: »Rufen Sie doch mal in Berlin an und fragen, wer mich eingeladen hat.« Der Mann, irritiert, funkt den Vorfall durch – schließlich kommt er zurück und sagt nur: »Sie können weiterlaufen.« Eingeladen hatte Honecker persönlich. Als die Germania am Kai von Greifswald anlegt, steht dort ein hoher Offizier und begrüßt den Gast: »Herzlich willkommen in Ihrer Heimat!« Beitz erwidert, ernster als ihm zumute ist: »Ja, Mensch, was heißt hier willkommen? Hier werde ich auf der Ostsee angehalten wie ein Seeräuber!« Den Gastgebern ist der Vorfall sehr peinlich.

Ein Jahr später, 1987, kommt Honecker in die Bundesrepublik, von Helmut Kohl empfangen wie ein Staatsgast, mit vollem Protokoll. Er stattet dabei auch seiner alten Heimat an der Saar einen Besuch ab. Und er lässt es sich nicht nehmen, Beitz zu treffen, auch wenn das Häuflein Essener Altkommunisten enttäuscht ist: Der Genosse Honecker trifft nicht Arbeiter, sondern deren Bosse, er begegnet Krupp, nicht Krause. Einst hatte die DDR-Fernsehserie Krupp und Krause den Kampf des Werktätigen Fred Krause bei Krupp geschildert, bis zur Verstaatlichung des Magdeburger Firmenwerks. Eine der letzten Folgen hieß »Zerbrochen sind die Ringe«. Nun aber weht das Symbol deutscher Konzernmacht auf Fahnen im Wind, als Honecker auf den Hügel kommt. Er spricht mit Beitz unter vier Augen und sagt anschließend, sein Besuch im Westen zeige »hoffnungsvolle Ansätze für eine Wende zum Besseren«. Wer das Verhältnis von Beitz zu Honecker später kritisieren wird, sollte diese Tage nicht vergessen, in denen kleine Schritte als große innerdeutsche Fortschritte galten und der Ostdeutsche von vielen geradezu hofiert wurde – nur zwei Jahre später war er persona non grata.

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Karikatur aus der Neuen Ruhr Zeitung (Bernd Bruns), 1987

Das letzte Treffen der beiden spielt sich zwei Jahre später, im Juni 1989, wieder in Greifswald ab. Honecker will Offenheit und Traditionspflege demonstrieren, doch der äußere Rahmen lässt die Götterdämmerung seines Regimes erahnen. Die DDR ist fast am Ende. Sie will die Traditionen wahren, aber ihre historischen Städte verfallen. Greifswald war gegen Ende des Krieges vor allem dank des mutigen Stadtkommandanten Petershagen weitgehend unversehrt geblieben. Jetzt aber, im Jahr 1989, sehen weite Teile der Stadt aus wie ein Trümmerfeld. Blinde Fenster, verfallende Jugendstilbauten, in der Langen Straße, die quer durch die Altstadt führt, soll ein Kran auf Schienen damit beginnen, die historischen Häuserzeilen links und rechts niederzureißen. Widerstand regt sich, Bürger protestieren gegen die Zerstörung ihrer Heimatstadt. Als Honecker im Juni 1989 persönlich zur Wiedereröffnung des Doms nach Greifswald fährt, haben die Kreisbehörden der SED ein wahres Potemkinsches Dorf errichtet. Die Fassaden verwahrloster, unbewohnter Häuser glänzen in frischer Farbe, und noch Jahre später wird man im Straßenbild die Route seiner Wagenkolonne erkennen können.

Als Beitz die Nikolaikirche 1982 besuchte, war das stolze Gotteshaus, dessen Turm die Silhouette von Caspar David Friedrichs Greifswald-Gemälde sanft dominiert, eine bessere Ruine. Was einst in hellem Weiß glänzte, war nun schmutziggrau, der Fußboden aufgebrochen und unbegehbar. Als Beitz daraufhin Geld der Stiftung für die Sanierung in Aussicht stellte, waren die DDR-Behörden mit einem Projekt dieser Größenordnung überfordert. Es fehlte an Technikern und Arbeitskräften, die neue Fußbodenheizung kam schließlich aus Aachen. Im November 1986 war sie installiert. Anfang 1987 erhält Beitz einen Brief des dortigen Pfarramtes: »Wir haben also Heiligabend die Kirche benutzen können, und in der Gemeinde war darüber große Freude zu spüren. Auch an den Weihnachtsfeiertagen konnten wir im Dom bleiben; solange ich mich erinnere, war das vorher überhaupt nicht möglich. Wir haben also die warme Kirche sehr genossen.«

Jetzt, im Juni 1989, sitzt Beitz in der zweiten Bankreihe der Nikolaikirche neben dem SPD-Politiker und schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Björn Engholm; schräg vor ihnen hat Honecker Platz genommen. Beim Gottesdienst dreht er sich zu ihnen um und fragt, in Anspielung auf die Bodenheizung des Doms: »Herr Beitz, sind Sie so fromm, dass Sie so etwas tun?« Worauf Beitz so spontan wie zweideutig antwortet: »Wer an den lieben Gott glaubt, muss auch warme Füße haben.«

Engholm und Beitz sehen sich in der Kirche um. Sie ist bis auf den letzten Platz besetzt, in den Gängen und an den Wänden drängen sich die Menschen. So eine Stimmung hat Engholm noch nie in der DDR erlebt. »Die Leute«, erinnert sich Engholm später, »waren aufmüpfig, obwohl sie alle friedlich und fröhlich und eingestimmt waren auf den Gottesdienst! Es knisterte regelrecht. Beitz und ich haben uns angeguckt und gesagt, irgendetwas ist hier nicht in Ordnung. Das System stimmt nicht mehr, oder sie haben es nicht mehr unter Kontrolle.«

Zu den Klängen der Orgel singen die Besucher das Lied »Ein’ feste Burg ist unser Gott«. Es wirkt fast wie ein »Kampfgesang«, denkt Engholm, der den Eindruck hat, als »schrumpfte Honecker buchstäblich in sich zusammen«, als ahne er, dass seine Zeit ablaufe. In den Kirchen der DDR ist die Opposition gegen das Regime gewachsen, und auch hier im Norden spüren die Kirchenoberen den Zorn der Basis – man hält sie für zu anpasserisch. Der Versuch der SED, Kirche und System an einem symbolträchtigen Ort zu versöhnen oder doch wenigstens harmonieren zu lassen, fällt somit nicht sehr überzeugend aus – obwohl niemand ahnt, wie wenig Zeit dem Regime tatsächlich noch beschieden ist.

Anfang November 1989 weilt Beitz wieder einmal in Warschau, diesmal in der Delegation von Bundeskanzler Helmut Kohl. Einen Tag nach dem Fall der Mauer kehrt er nach Essen zurück und beobachtet die dramatischen Ereignisse im Fernsehen. Er freut sich, denn er hat immer geglaubt, dass Einheit und Freiheit zusammengehören. Dass dies zu seinen Lebzeiten geschehen sollte, lag indes jenseits seiner Vorstellungskraft. Jetzt aber fliegen seine Enkel aus New York nach Berlin und tanzen mit Abertausenden anderen Menschen auf der Mauer.

Honecker stürzt tief, der Wind des Wandels hat ihn hinweggefegt; selbst die Genossen der Partei wenden sich ab. Als er nach der Behandlung seines Krebsleidens aus der Charité entlassen wird, hat er weder einen Wohnsitz noch ein eigenes Einkommen; Wandlitz, die Siedlung der Nomenklatura, ist geräumt, sein Konto gesperrt. Schon im Krankenhaus musste er sich gelegentlich eine Tasse Kaffee erbetteln. Nachdem er noch einige Zeit in Untersuchungshaft gesessen hat, kommt er schließlich bei der Lobetaler Pfarrersfamilie Holmer unter, »voller Enttäuschung, dass er in Bonn mit Ehren empfangen worden war und jetzt wie der letzte Dreck behandelt wurde«, wie der Geistliche später sagen wird. Der schwer krebskranke Honecker sagt in dieser Zeit: »Ich hätte das mit Kohl nicht gemacht.« Auf ihn wartet der Prozess, aus seiner Sicht Klassen- und Siegerjustiz. Beitz selbst hat unter Vermittlung des DDR-Rechtsanwalts Wolfgang Vogel geholfen, diese Notunterkunft zu finden: »Ich habe den Pastor gebeten, ihn unterzubringen.« Als Gegengabe schenkt er der Kirche einen VW-Bus für die behinderten Kinder, die in Lobetal betreut werden. Er schreibt Honecker noch einen Brief und bietet ihm über Vogel Hilfe an: Er, Beitz, sei bereit, die Honorare von Honeckers Verteidigern zu übernehmen. »Rechtsanwalt Vogel hat mir gesagt«, erinnert sich Beitz später, »als Honecker den Brief gelesen hat, habe er geweint.« Doch Honecker nimmt die Offerte nicht an.

Beitz’ Neigung, unbeeindruckt vom Zeitgeist eigene Wege zu gehen, bringt seine Umgebung auch in der Causa Honecker mitunter in nervenaufreibende Situationen – so etwa Jürgen Claassen. 1993 organisiert der Pressechef von Krupp die Pressearbeit zu Beitz’ 80. Geburtstag und lotst Berthold Beitz und ein Fernsehteam durch die Gartenwege rings um die Villa Hügel. Auf einer Parkbank mit dem passenden Blick auf das Anwesen lässt sich der Stiftungschef nieder; doch anstatt Anekdoten aus seinem bewegten Leben zu erzählen, kommt er auf Erich Honecker zu sprechen. Der früher so mächtige Politiker ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Er lebt im chilenischen Exil, gezeichnet von einem Tumor, Heilung wird es nicht mehr geben. Wenn Erich Honecker jetzt nach Deutschland zurückkäme, sagt Beitz nun, »dann könnte er mit seiner Frau bei mir zu Hause wohnen, so lange er lebt. Ich würde ihn aufnehmen.« Er kenne ihn gut und habe dank Honecker auch einige Leute aus der DDR herausholen können. Die Fernsehleute sind elektrisiert: »Können wir das heute Abend senden? Geben Sie diese Aussage frei?« Claassen hofft inständig, Beitz werde nun zurückrudern, dabei weiß er eigentlich, dass das nicht geschehen wird. »Ja«, sagt Beitz dann auch, »senden Sie das ruhig.«

Das ist freilich nicht die Art von Nachricht, die ein Kommunikationschef gern an die Medien weiterreicht: Beitz, der Konzernpatriarch, gründet eine Wohngemeinschaft mit Erich Honecker. Claassen nimmt Beitz daher noch im Park beiseite: »Herr Beitz, lassen Sie uns darüber noch mal reden …« Beitz aber bleibt zunächst stur, und Claassen stellt sich schon auf eine Flut von Telefonaten am folgenden Tag ein. Gegen 18 Uhr, zwei Stunden vor der Sendung, klingelt sein Telefon. Es ist Beitz: »Ach, Herr Claassen, vielleicht haben sie recht. Die sollen das doch nicht bringen.« Die Gespräche, die der junge Krupp-Mann in der folgenden Stunde führen muss, sind lebhaft. Aber am Ende verzichtet die Redaktion auf den Beitrag.

Beitz wird Erich Honecker nicht wiedersehen. Im folgenden Jahr, am 29. Mai 1994, stirbt der ehemalige DDR-Staatschef in Santiago de Chile. Der Spiegel-Journalist Norbert F. Pötzl schreibt über den letzten Akt eines deutschen Dramas: »Der Atheist Erich Honecker wird auf dem Zentralfriedhof von Santiago, weil es landesüblich ist, unter einem Christusbild aufgebahrt. Eine DDR-Fahne verdeckt das Kruzifix auf dem Sarg.«