28. Juni 1992, Gemeinde
Peltzow
Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland
Das Jagdbuch lag aufgeschlagen vor ihm auf dem Küchentisch des Zöllnerhofs. Das alte Gehöft stand im Zentrum seiner Jagd, und Uwe kannte die Bauern seit vielen Jahren. Dieser Zipfel Vorpommerns war immer Grenzgebiet gewesen und der Hof ein abgelegener Außenposten, bis zur Wende Teil der Peltzower LPG. Das Dorf lag gut fünf Kilometer südwestlich. Edwin Müller und sein Sohn Klaus betrieben die Landwirtschaft auf den umliegenden Feldern seit der Wende allein, die Mutter war schon ein paar Jahre unter der Erde. Stück für Stück mussten sie einsehen, dass der einzelne Bauer im Kapitalismus nichts zu melden hatte. Schon gar nicht, wenn irgendeine Bananenrepublik billigeren Weizen lieferte.
Als Uwe den Müllers vorschlug, an Jagdgäste zu vermieten, waren sie sofort dabei. Ein kleines Zubrot konnte hier jeder gebrauchen. Und dass seine Frau auch noch was dafür bekam, wenn sie die beiden Gästezimmer in Ordnung hielt, verstand sich von selbst. Wedemeier hatte sogar richtig was springen lassen, damit die Zimmer ein eigenes Bad bekamen, Kompletteinbauten aus Plaste wie in einer Schiffskabine. »Unsere Gäste brauchen ein Minimum an Privatsphäre, auch wenn sie das Authentische lieben«, sagte er. Das Wort »authentisch« konnte er gar nicht oft genug benutzen, der Westler. Und authentisch war es hier, kein Zweifel.
Uwe merkte, wie seine Hand beim Schreiben leicht zitterte. Er war bis obenhin vollgepumpt mit dem Bohnenkaffee seiner Frau. Dass der Arzt ihr geraten hatte, auf entkoffeinierten Kaffee umzusteigen, interessierte sie nicht. Man musste ja nicht jede neue Mode aus dem Westen mitmachen. Kaffee bleibt Kaffee, basta.
In seiner ordentlichen Handschrift, auf die er schon als ABV Wert gelegt hatte, trug er den einzigen Abschuss des vergangenen Tages ein. Die ganze Nacht waren sie unterwegs gewesen, ab Einsetzen der Dämmerung gegen zehn. Um Mitternacht war ihnen ein Rehbock vor den Lauf gesprungen, keine dreißig Meter Schussentfernung. Er kam aus dem Waldstück neben der Landstraße und zog direkt über die Wiese, auf der sie den Iltis geparkt hatten. Hajo, der Jagdgast, war zu langsam. Er legte nicht genau an und verfehlte. Uwe erlegte den Bock ohne Probleme. Danach schien sich das Wild woanders verabredet zu haben. Um sieben Uhr morgens machten sie Schluss, weil die Sonne schon wieder heiß vom Himmel brannte. Es waren Hundstage, und das bereits im Juni dieses Jahr.
Zurück auf dem Hof, bot der alte Müller ihnen selbstgebrannten Wacholderschnaps in Wassergläsern an. Und Hajo sagte nicht nein. Einmal nicht und zweimal auch nicht. Seitdem schlief er seinen Rausch aus, und Uwe war ein paar Stunden zu Hause gewesen.
Wortlos betrat der alte Bauer die Küche und schlurfte zum Waschbecken. Er wusch sich lange und umständlich die Hände, trocknete sie am Handtuch ab und trat an den Tisch. Uwe schob ihm, ebenfalls ohne Worte, einen Hundertmarkschein hin. Der Bauer ließ sich ächzend auf der Küchenbank nieder, der Schein verschwand in seiner Hemdtasche. Dann zog er aus der Schublade im Tisch einen speckigen Quittungsblock und einen Kugelschreiber. ›Kost und Logis‹ las Uwe im Schneckentempo verkehrt herum mit. Schweiß tropfte dem Alten von der Stirn auf das Papier. Draußen waren jetzt fast dreißig Grad. Viel zu heiß für die Jagd.
Uwe beschloss, dem Westler einen Ausflug nach Stettin vorzuschlagen, bis es sich etwas abkühlen würde.