18. Juni 2012, Kreuzberg
Berlin, Deutschland

»Meinst du, ich soll besser mal bei ihr vorbeifahren?« Nick sitzt auf der Dachterrasse und beobachtet Massen von Touristen, die sich über die Oberbaumbrücke wälzen. Azim schläft in seiner Hängematte. Jasmin macht irgendwelche Übungen. Start-up family.

»Nikolaus, ich kann mich nicht konzentrieren, wenn du immer quatschst. Mach doch einfach, was du willst.«

»Okay, okay.« Er trinkt einen Schluck mexikanisches Bier. Nicht weil er es mag, sondern weil er versucht, sich innerlich darauf einzustellen. Mindestens ein Jahr, wenn nicht zwei, werden sie nach Mexiko gehen. Nur zu dritt. Kein Cal. Keine Mattie. Keine Kompromisse mehr. Nick guckt auf sein Handy. Immer noch nichts. Er hat heute im Laufe des Tages drei SMS an Mattie geschickt. Sie hat nicht geantwortet. Eigentlich wollte er schon nachmittags zum Parkplatz fahren, dann hat Azim sich wieder eingeschissen, eine Kollegin von Jasmin kam vorbei, um letzte Tipps zu geben, und jetzt –

Das Telefon brummt.

»Ja? Mattie! Wo warst du denn? Hast du meine SMS nicht gekriegt?« Er verzieht sich schnell nach drinnen, um Jasmins bösen Blicken zu entgehen. »Wo warst du?«

In Kollwitz, na toll. Kaum eine Woche hier, schon verschwindet sie wieder an die Ostsee. Ohne Empfang.

»Klar kannst du kommen. Weißt du doch.« Er legt auf. Ist es klar? Müsste er eigentlich Jasmin fragen, bevor er ja sagt? Sie hat ihre Prioritäten klar gesetzt, wie es so schön heißt. Ihr Beruf, Nick und Azim. Alles andere rangiert irgendwo dahinter, auch ihre Freunde und ihr Vater Kamal.

»Mattie kommt gleich noch vorbei.«

»Schön, dass ich das auch erfahre.« Sie steht auf, einen Augenblick später hört er das Rauschen der Dusche. War ja klar.

Unten auf der Straße schwillt eine Woge menschlicher Stimmen an. Public Viewing. Früher hat Nick manchmal Mattie zuliebe in irgendwelchen Kneipen gesessen, Bier in sich reingekippt und Fußball geguckt.

Es klingelt. Kurz darauf steht sie oben.

»Ich bin hängengeblieben. Spanien macht gerade Kroatien platt.«

»Was hast du denn da?« Hinter ihr hängt ein nicht mal kniehohes Fellknäuel an einer Leine. »Ist das ein Meerschweinchen?«

»Zwergspitz.« Ist da ein leicht verkniffener Zug um ihren Mund? »Hab ich geschenkt bekommen. Er soll auf mich aufpassen.«

»Diese Trethupe?« Nick muss einfach lachen. Die Trethupe fängt an zu kläffen und versteckt sich hinter Mattie. »Wie heißt er denn?«

»Woher soll ich das wissen?« Jetzt ist sie eindeutig sauer.

Nick lenkt ein. »Willst du ein Bier?

»Was trinkst denn du da für Mädchenbier?«

Typisch Mattie.

Draußen geht sie als Erstes zu Azims Hängematte und guckt ihm beim Schlafen zu. Dann sitzen sie schweigend nebeneinander und beobachten abwechselnd das Treiben auf der Brücke und den Spitz, der hektisch herumwetzt und die Ecken abschnüffelt. An Jasmins geliebtem Bambus hebt er sein Beinchen. Mattie will schimpfen, Nick legt den Finger an die Lippen und deutet nach drinnen.

»Wolltest du nicht was erzählen?«

»Ich warte, bis Jasmin kommt. Sie ist doch da?«

»Wenn du willst, sage ich ihr Bescheid. Ich dachte, du wolltest mich sehen.« Was soll das? Wieso will Mattie plötzlich mit Jasmin reden? Genervt steht Nick auf. Jasmin ist immer noch im Bad. Er klopft an die Tür. »Dein Typ wird verlangt.«

»Komme gleich!«

Er geht weiter zum großen Kühlschrank und holt sich noch ein Mädchenbier. Für Jasmin nimmt er schon mal einen Green Ice Tea mit.

Nach ein paar Minuten kommt sie auf die Terrasse. So mag er sie eigentlich am liebsten: mit strubbeligen nassen Haaren, Kapuzenpulli. Die beiden Frauen umarmen sich. Der Spitz kläfft, und Jasmin verzieht das Gesicht. »Ist das deiner?«

Auf einmal kann Mattie es kaum erwarten loszulegen. Die ganze Geschichte platzt förmlich aus ihr raus. Nick muss ein paarmal nachfragen, weil sie die Zusammenhänge zwischen damals und heute nicht richtig erklärt. Er merkt, wie ihn der Fall, eigentlich sind es ja zwei Fälle, in den Bann zieht. »Kaum bist du hier, schon passiert wieder was.« Es ist ihm rausgerutscht.

Jasmins vernichtender Blick ist die Quittung. »Volker und Bettina kannst du vergessen.« Sachlich. Ohne mit der Wimper zu zucken.

»Warum?«

»Überleg doch mal!«

Mattie zieht eine Grimasse, hört aber zu.

»Die beiden können doch kein Mandat annehmen, wenn die Angeklagte nicht von ihnen verteidigt werden will! Die einzige Alternative wäre eine Vollmacht, die nur von den direkten Angehörigen erteilt werden kann. Also Ehemann, Geschwister, Eltern und so weiter.«

»Aber die sitzen in Rumänien, in irgendeinem Kaff namens Turnu Severin! Und geben Liviu die Schuld, weil er die Frau heimlich nach Deutschland mitgenommen hat.«

Mattie klingt verzweifelt. Bestimmt hat sie diesem Liviu schon versprochen, alles zu regeln. Nick geht auf die Nerven, dass sie immer noch so unrealistisch ist. »Ja, Mattie, dann fahr doch eben kurz nach Rumänien! Du hast ja keine familiären Verpflichtungen.« Treffer. Versenkt.

Mattie verabschiedet sich. An der Tür kein Blick, keine Umarmung. Weg ist sie mitsamt ihrem namenlosen Zwergspitz.

Nick schließt die Tür und lehnt sich mit der Stirn dagegen. Er kann es nicht fassen. Mattie. Cal. Mattie. Wer ist als Nächstes dran? Nick macht wieder mal Schießübungen.

Zwei Stunden später liegt er auf dem Sofa und starrt ins Leere. Jasmin ist schon im Bett und liest. Nicks Handy brummt.

»Mattie!«

»Nick, Liviu hat mich gerade zum Bahnhof gebracht. Ich sitze im Nachtzug nach Budapest. Von da kann ich morgen weiter nach Turnu Severin durchfahren.«

Mit einem Ruck ist er in der Senkrechten. »Hey, das war doch nicht ernst gemeint vorhin!«

»Nee? Wie doof von mir.« Sie kichert. »Wir sind im Büro vorbeigefahren und ich hab ein paar Vollmachten mitgenommen. Hör mal, Nick, ich weiß, du hast familiäre Verpflichtungen« – die Retourkutsche, war nur eine Frage der Zeit –, »aber könntest du dich vielleicht um den Hund kümmern? Er liegt im Bus und schläft. Liviu hat ihn mir geschenkt, das war eine große Sache für ihn und ich will nicht, dass er das Gefühl hat, sein Geschenk wird zurückgewiesen. Den Ersatzschlüssel hast du ja.«

Großartig. Mattie geht auf Abenteuerfahrt und Nick kriegt noch mehr familiäre Verpflichtungen!

»Nick? Bist du noch da?«

»Okay. Kann ich ihm einen Namen geben?«

Ihre Stimme sendet Signale durch den Äther, sie vibriert förmlich vor Energie. »Frag ihn doch selbst. Und kannst du vielleicht im Anwaltsbüro sagen, dass ich krank bin oder so? Ich glaub nicht, dass ich es schaffe, bis Montag früh wieder da zu sein.« Wieder dieses Kichern. »Okay, wir sind jetzt an der Grenze. Mach’s gut, Nick!« Die Verbindung bricht ab.

Jasmin steht in der Tür zum Schlafzimmer. »Was ist denn jetzt schon wieder los?«

»Mattie ist nach Rumänien unterwegs. Sie macht Ernst.« Er kann nicht verhindern, dass Bewunderung in seiner Stimme mitschwingt. »Glaub mir, es wird ihr guttun. Endlich ist der Winterschlaf vorbei.«

Jasmin steht da und guckt ihn an. »Und du würdest am liebsten mitmachen, oder?«

Er muss darauf nichts sagen. Sie kennt die Antwort. »Ich muss eine gute Krankheit erfinden, sonst verliert sie den Job gleich wieder.«

»Weißt du, Nikolaus, was mich wirklich nervt? Ich hab Mattie diese Arbeit vermittelt. Ich muss jetzt tolerieren, dass du meinen Bekannten, ihren Arbeitgebern, Lügen erzählst. Könnt ihr beide euch nicht einfach mal benehmen wie Erwachsene?«

Den Spruch hat er zuletzt von seiner Mutter gehört. »Aber ich bin doch hier bei euch. Was willst du denn noch?«

»Du spielst das nur, solange es dir passt. Und ich würde mich gern auf dich verlassen können.« Tür zu.

Nick steht leise auf, nimmt die Jacke vom Haken und steckt den Fahrradschlüssel ein. Jasmins Flaschen-Wegbring-Korb muss auch mit, für den Köter, und Azims Kuscheldecke.

Den Hund holen.

Betrinken.

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