26. Juni 2012, Hansestadt Kollwitz
Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland

Nick fährt auf den Parkplatz vor der JVA, um Volker abzuholen und zusammen weiter nach Berlin zu fahren. Ist schließlich sein Wagen. Der Knast steht futuristisch in der Küstenlandschaft. Dunkle Wolken türmen sich dahinter auf. Könnte ein versprengter Ableger des Guggenheim Museums sein.

Okay. Ruhig bleiben. Da drüben steht Matties Bus. Sein Magen macht eine Rolle rückwärts. »Frauchen ist da.« Quincy interessiert das nicht. Nick schon.

»Hey! Du bist wieder hier.« Sie umarmt ihn kurz. Ganz kurz. Fast überhaupt nicht. »Volker holt gerade meine Besuchsgenehmigung für Adriana.«

Da ist er auch schon. »Ich war kurz bei ihr. Sie hat wieder nicht gesprochen. Ich hab ihr gesagt, dass du sie in den nächsten Tagen besuchst.«

Mattie nickt.

»Willst du wirklich in Kollwitz bleiben?«

»Hmm.«

Nick versucht in ihrem Gesicht zu lesen. Die hält doch mit irgendwas hinterm Berg.

»Okay, Nick, wir fahren.« Volker sieht nach oben. »Bevor hier gleich die Welt untergeht.«

Nick zögert.

Mattie steht mit verschränkten Armen da, als würde sie das alles nichts angehen.

»Würdest du auch allein …«

Volker grinst. Eindeutig zweideutig. Nick geht zum Kofferraum und holt seine Sachen raus. Er nimmt Quincy auf den Arm. »Guck mal, das ist Mattie.« Der Hund schnuppert skeptisch.

Volker hupt kurz und fährt los.

»Er heißt Quincy.«

»Blöder Name.« Sie steht immer noch da, macht keine Anstalten, ihm den Hund oder die Sachen abzunehmen. Er geht zum Bus und setzt Quincy rein.

»Dein Zuhause.« Geht zurück, nimmt die Tasche und den Hundekorb, packt beides nach hinten. Lässt sich auf den Beifahrersitz fallen. Mattie hat schon den Motor gestartet.

»Wo geht’s hin?«

Sie fährt los, ohne zu antworten. Es fängt an zu regnen. Die Scheibenwischer setzen sich quietschend in Bewegung. »Wie war’s in Kiel?«

Nick stellt seinen Sitz so, dass er fast waagerecht liegt, schließt die Augen. »Er hat mir ständig über die Schulter geguckt. Beim Wickeln. Beim Füttern. Immer hatte er irgendeinen blöden Tipp.«

»Kamal ist ein guter Vater.« Aha. Was sind denn das für Töne?

»Ich auch.« Er lässt die Augen geschlossen. »Wo fahren wir hin?«

Wieder keine Antwort. Wo kurvt sie bloß rum, der Bus ächzt und knarrt, als würde er gleich auseinanderfallen. Nick macht die Augen auf und erhascht im Vorbeifahren ein Schild. Unbewachter Wohnmobil-Parkplatz.

»Wie gemütlich. Übernachten im Matsch. Woodstock lebt.«

»Kannst du nicht mal die Klappe halten?« Mattie rollt langsam auf die Wiese.

Kaum stehen sie, reißt jemand die Fahrertür auf. »Mattie, wo warst du –« Eine junge Frau, braune Haare, Sommersprossen. Sie spricht Englisch. Jetzt sagt sie nichts mehr, sondern starrt ihn wütend an.

»Das ist Nick«, kommentiert Mattie. »Nick: Nadina.«

Die Tochter von Nicu. Was macht die denn hier? Hinter ihr tauchen mehrere Kindergesichter auf. Quincy springt mit einem Satz über Matties Schoß und stürzt nach draußen. Dem Gebell nach gibt’s da noch mehr von seiner Sorte.

Alles klar. Liviu. Seine Frau. Die Schwiegermutter. Der Schwager. Die Kinder. Er stöhnt.

»Kannst du uns kurz alleine lassen?« Das Mädchen verschwindet wortlos aus seinem Blickfeld. Die Fahrertür knallt zu.

»Sie wollen in Adrianas Nähe sein. Von hier aus kann man die JVA sehen.«

Dahinten, Guggenheim auf der Steilküste. »Ist ja toll, und was machen die den ganzen Tag? Demos vor dem Knast?«

Mattie haut aufs Lenkrad. »Verdammt, Nick! Sei nicht so selbstgerecht. Die machen, was sie immer tun. Scheiben putzen, Akkordeon spielen für die Badegäste. Liviu klappert die Schrottplätze in der Umgebung ab.«

»Das könnte Ärger geben.«

»Ich weiß. Aber ich kann ihnen doch nicht verbieten, hier zu sein. Deswegen wollte ich, dass du mitkommst.«

Ach deswegen. Er gähnt. »Ich kann mich ja schon mal hinhauen. Geh nur zu deinen neuen Freunden.« Er klappt den Sitz wieder runter.

»Nick!«

»Hmmm.«

»Wir müssen in einem Bett schlafen. Ich hab Nadina angeboten, dass sie hier vorn – die sind drüben schon zu siebt in den zwei Bussen.«

Endlich alleine. Nick klettert nach hinten und legt sich in Klamotten aufs Bett.

Als er aufwacht, ist es dunkel draußen. Er tastet nach Jasmin, vorsichtig, um Azim nicht zu wecken, der nach dem Stillen meistens zwischen ihnen schläft. Seine Hand greift in Fell. Das Fell vibriert. Quincy knurrt.

»Nick, hörst du das auch?« Das ist Mattie.

Gott sei Dank hat er schon geschlafen, als sie ins Bett kam. Er stellt sich vor, wie es wäre, wenn er jetzt einfach seine Hand ausstreckt und ihren Bauch –

»Nick! Jemand schleicht um den Bus!« Quincy bellt.

Nick schiebt vorsichtig die Gardine zur Seite. »Da sind Leute mit Taschenlampen! Hast du abgeschlossen?«

»Ich glaub schon.« In dem Moment fängt der Boden an zu wackeln. Eine Hand greift nach seinem Arm. »Scheiße! Die wollen die Busse kippen!«

»Nadina!«

Sie ist schon bei ihnen auf dem Bett.

Stimmen, die zählen: »Eins, zwei, eins, zwei.« Der Bus wackelt stärker. Es müssen viele sein. Und sie wollen, dass man das merkt.

Er stellt sich darauf ein, dass gleich alles durch die Gegend fliegen wird. Versucht die Decke so um sich und die beiden Frauen zu wickeln, dass sie von allen Seiten gepolstert sind. »Haltet euch am Vordersitz fest!«

»Eins, zwei, eins, zwei!«

Ihm wird schlecht. Plötzlich kracht der Bus zurück auf alle vier Räder und bleibt stehen.

Stille.

»Ahhh!« Nick wirft sich zur Seite. Direkt an seinem Fenster ist ein Gesicht aufgetaucht. Kein Gesicht. Ein Kopf mit Hassmaske.

»Zigeuner, dies ist die letzte Warnung. Hier ist kein Platz für euch!«

»Verpiss dich, du Arsch!« Mattie haut von innen mit der Faust gegen die Scheibe.

Nick versucht sie zurückzuziehen. »Bist du verrückt? Das sind mindestens zwanzig Leute. Gegen die haben wir keine Chance!«

Sie brüllt einfach weiter. »Ihr macht mir keine Angst!«

»Wer sind die?« Das ist Nadina, auf Englisch.

Mattie kommt langsam wieder zu sich. »Scheiß-Faschisten!«, knurrt sie.

Sie sind weg.

Nadina verschwindet ohne ein weiteres Wort nach vorn.

Irgendwann müssen sie eingeschlafen sein. Als Nick das nächste Mal aufwacht, ist es hell. Vorsichtig schiebt er Matties Kopf von seinem Bauch und gibt ihr einen Kuss auf die Stirn. Dann klettert er aus dem Bett.

Liviu ist schon draußen und begutachtet seine VW-Busse.

»Alles okay?« Nick spricht leise, um Mattie nicht zu wecken.

Liviu winkt und deutet hinter Nick. Er dreht sich um. Der rote Bus ist vollgesprüht mit Hakenkreuzen und Sprüchen von Anti-Antifa bis Zigeunerschnitzel.

Sie bearbeiten die Graffiti mit Terpentin aus Livius mobiler Autowerkstatt.

Eine Frau in einer roten Outdoorjacke kommt den Deich entlanggeradelt. »Oh nein«, stöhnt Mattie. »Nicht die schon wieder.« Sie verschwindet hinter dem Bus.

Die Frau steigt ab und schiebt ihr Fahrrad zu ihnen runter. Sie begrüßt Liviu mit Handschlag, geht weiter zu Nick und Nadina. »Gesine Matthiesen, ich bin Pastorin hier.«

Nick stellt sich vor, erklärt, wer Nadina ist und dass sie nur Englisch spricht.

»Wollen Sie zu Adriana?« Mattie ist auch wieder da.

»Nein, ich wollte zu Ihnen. Ihnen allen hier.« Sie spricht passables Englisch. Nadina übersetzt leise für Liviu, dessen Familie sich um die Pastorin versammelt.

»Woher wissen Sie, dass wir hier sind?« Nick hat Mattie selten so unfreundlich erlebt.

»Frau Junghans.« Die beiden kennen sich offensichtlich schon länger. »Ganz Kollwitz weiß inzwischen, dass Sie hier sind. Der Tod von Uwe Jahn und Adrianas Verhaftung bringen die Volksseele zum Kochen. Angeheizt von der NPD, die damit Wahlkampf betreibt. Und Sie gießen auch noch Öl ins Feuer. Ich halte das für gefährlich.« Sie deutet auf die Graffiti-Spuren auf dem Bus.

»Wir«, sagt Mattie und deutet in die Runde, »wir tun gar nichts. Oder ist es verboten, sich hier aufzuhalten?«

Nick findet es an der Zeit, ihr Schützenhilfe zu geben. »Frau Matthiesen, ich weiß Ihre Besorgnis wirklich zu schätzen. Aber als Journalist muss ich mich doch wundern, wie hier mit Drohungen umgegangen wird. Sie spielen denen ja in die Hände!«

Die Pastorin gibt sich nicht so schnell geschlagen. »Sie wollen Adriana doch helfen, oder sehe ich das falsch?«

Sie stellt die Frage noch mal auf Englisch an Liviu, der nickt. »Natürlich, wir wollen helfen.«

»Wenn Sie hierbleiben, helfen Sie ihr nicht. Es wird noch mehr Ärger geben, Kollwitz wird wieder in die Schlagzeilen geraten, und letztlich profitiert davon einzig und allein die NPD.«

»Sie wollen sagen, wir sind schuld, wenn die NPD die Wahlen gewinnt? Das ist ja wohl der Gipfel!« Mattie sieht aus, als wollte sie auf die Frau losgehen. Nick macht sich bereit, im Zweifelsfall dazwischenzuspringen.

»Wenn Sie die Verantwortung übernehmen wollen, bitte.« Die Pastorin wendet sich zum Gehen. Hinter ihr brennt die Luft.

»Haben Sie schon mal was von Kirchenasyl gehört? Ich erwarte, dass Sie hier Stellung beziehen!« Mattie kocht vor Wut.

Die Frau dreht sich um. »Also gut.« Sie sieht zu Nick. »Sie schreiben über den Fall?«

Er nickt.

»Und Sie, arbeiten Sie nun für Adrianas Anwalt oder nicht?«

Mattie atmet endlich mal wieder aus. »Ich arbeite für ihn.«

»Sie beide können mit Ihrem Bus hinter dem Pfarrhaus parken und das Gäste-WC benutzen. Der Hund bleibt bitte draußen.« Sie wechselt zurück ins Englische. »Ansonsten besitze ich ein Zimmer für eine Person. Mehr Leute kann ich nicht aufnehmen.«

Nadina übersetzt die letzten Sätze für Liviu und seine Familie ins Rumänische. Liviu ist aufgebracht.

»Er sagt, er kann seine Familie nicht allein lassen. Warum können nicht alle an der Kirche parken?«

»Das ist mein letztes Wort.« Die Pastorin bleibt hart. »Dann können eben nur Sie bleiben.«

Nadina sieht sie überrascht an. »Ich?«

»Warum nicht?« Sie nimmt ihr Fahrrad und schiebt es den Deich hoch. Dann steigt sie auf und fährt gegen den Wind davon.

Nick berührt vorsichtig Matties Arm. Sie zittert vor Wut.

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