13. Juni 2012,
Kreuzberg
Berlin, Deutschland
Okay, zweiter Versuch.
Gestern Abend hat es nicht gut angefangen. Jasmin hat Nick und Mattie zum Essen eingeladen, in ein neues französisches Restaurant im Vorderhaus, wohin sie das Babyfon mitnehmen konnten. Mattie hat das feine Essen achtlos in sich hineingestopft, so hat es Jasmin jedenfalls später behauptet, sagt Nick. Und den teuren Wein hat sie runtergekippt wie Wasser. Jasmin musste kurz hoch, um Azim zu beruhigen. »Lass doch, Schatz, genießt ihr mal euer Wiedersehen, ich mach das schon.« Schatz! Also, Jasmin musste kurz hoch, da hat Nick auch mindestens eine halbe Flasche allein gekillt. Als sie wiederkam, hatten die Kicheranfälle schon angefangen.
»Mattie, zeig noch mal, wie Kamal dastand.« Mattie ist aufgestanden, hat die Arme verschränkt und voll auf dicke Hose gemacht. Plötzlich hat Nick so komisch geguckt. Jasmin stand direkt hinter ihr.
Jetzt hat sie einen Kater. Die Sonne scheint brutal in die offene Küche. »Hat sie sonst noch was gesagt – Schatz?« Mattie hebt die Glastasse mit dem verschiedenfarbigen Latte Macchiato direkt vor die Augen. Nicht schlecht. Schmeckt auch.
Nick läuft schon die ganze Zeit mit Azim in der Küche auf und ab. »Nein, hat sie nicht. Sei doch nicht so gemein.«
»Ich? Gemein? Wenn du dich erinnerst, hab ich Jasmin in unser beider Leben gebracht. Sie war eine coole Nummer. Eine junge Frau mit Idealen. Nicht so ’ne Tussi vom Auswärtigen Amt.« Oh nein, nicht schon wieder. Sie ist im Zerstörungsmodus gelandet und kann nicht mehr raus. »Kannst du nicht mal aufhören, dauernd hin und her zu laufen? Du machst mich ganz schwindelig.«
Nick bleibt stehen. Azim fängt an zu schreien. Mattie hält sich die Ohren zu.
»Bitte nicht. Mein Kopf.«
Nick läuft wieder los. Auf und ab. Auf und ab.
Nachdenken. Sie muss nachdenken. Hier geht das nicht.
»Ich muss mal kurz runter zum Bus. Hab noch was vergessen.« Nick sieht sie misstrauisch an. Der mit seinem ›Ich kann Matties Gedanken lesen!‹ Soll er doch lesen. Sie stellt die halbvolle Tasse ab und läuft los. Die Treppen runter, auf die Straße. Links rum.
Der Bus parkt direkt an der Spree. Irgendwelche Touristen aus dem Bootshostel stehen da rum. »Que lindo!« Das Mädchen versucht, durch die Scheiben ins Innere des Busses zu sehen.
Ego Shooter aktivieren. Destruction.
»Fuck off, you assholes!« Die Gruppe spritzt auseinander. Mattie stampft auf die Fahrerseite, pult ihren Schlüssel aus der Jeans und steigt ein. Tür zu. Endlich allein. Sie lässt sich auf das Bett fallen. Schade, dass Mascha nicht mehr da ist. Die alte Hündin rennt jetzt über saftige Wiesen im Hundehimmel.
»Guys, have a look.« Direkt vor ihr taucht ein bärtiges Gesicht auf, Marke Holzfäller. Sie zieht die Gardine vors Fenster. »That’s awesome!«, hört sie trotzdem.
Das geht so nicht.
Sie braucht einen Platz in dieser Stadt. Ihren Platz. Nicht wie ein Hund unter dem Tisch von Monsieur Nick und seiner Diplomatenfamilie. Wuff! Danke für den Knochen. Und erst recht nicht als lebendes Ausstellungsstück. Treten Sie näher! Norddeutsches Halbblut, kurz vor vierzig, ungebunden, kinderlos, ohne festen Wohnsitz. Sehr anhänglich. Vorsicht, beißt!
Mattie steht wieder auf und schlängelt sich durch die Kistenstapel in den hinteren Busteil. Wo ist der Karton mit den Wertsachen? Ein eher kleiner Schuhkarton. Ihr Reisepass, Geburtsurkunde, Zeugnis, ein paar Münzen, die Hinnarck ihr geschenkt hat, seine goldenen Manschettenknöpfe.
Fünf Minuten später steht sie wieder bei Nick in der Küche. »Kann ich die hier irgendwo unterstellen?«
Nick bleibt stehen. Azim schreit.
»Mattie, du kannst doch nicht einfach wieder …« Plötzlich sieht er wieder aus wie Nick. Verletzlich. Auch wenn ihm die Haare nicht mehr ins Gesicht hängen. Dafür sorgt Jasmin.
»Nick! Bitte!« Kurz entschlossen geht sie zu ihm und nimmt ihm das Baby ab. Azim guckt sie an wie ein Auto. Aber jedenfalls ist er still. »Nick, ich kann nicht –«
Azim schreit. Nick nimmt ihn zurück. »Du kannst dein Zeug auf meinen Schreibtisch stellen!«, brüllt er.
Mattie klettert die Treppe hoch ins Gästezimmer und stopft ihre Sachen in die Umhängetasche. Ein letzter Blick ins Gäste-WC, dann wieder auf die Galerie. Von unten tönt Azims Geschrei herauf. Maisonette des Grauens.
Irgendwo hier oben ist Nicks Arbeitszimmer. Sie versucht sich an die Führung von gestern zu erinnern. Ja richtig, die letzte Tür. Ein winziger Verschlag unter der Dachschräge. Schon jetzt herrschen hier gefühlte fünfzig Grad. Der Schreibtisch wirkt unberührt, kein Nick-typisches Chaos aus Papieren, Chipstüten und vollen Aschenbechern. Sie stellt den Karton ab und fühlt die dicke Staubschicht unter ihren Fingern.
Als sie wieder runterkommt, sitzt Azim zufrieden in seinem Hochstuhl und kaut an einem Stück Apfel. Nick hat seinen Laptop aufgeklappt.
»Hey, woran schreibst du gerade?«
»Schreiben?« Er lacht sarkastisch. »Ich bin froh, wenn ich dazu komme, die Zeitungen zu lesen, für die ich früher geschrieben habe.«
Sein Ton trifft sie mehr als die Worte selbst. »Aber du hast doch alles.« Sie macht eine weit ausholende Geste in Richtung des offenen Wohnzimmers mit Spreeblick.
Nick folgt ihrer Hand mit den Augen. »Und du glaubst, das bedeutet mir was? Ich dachte, du würdest mich besser kennen, Mattie Junghans.«
Auf einmal versteht sie. Nick der Spieler. Wenn er ein neues Leben hat, probiert er sich so lange darin aus, bis ihm langweilig wird. Dann sucht er die Tür zum nächsten Level. Weiterspielen. Score. Er hat es weit gebracht. »Das ist kein Spiel, Nick. Dies hier dauert achtzehn Jahre. Wenn du Glück hast.«
Azim sieht hoch, als ob er merkt, dass hier über ihn verhandelt wird. »Tick!«, sagt er.
Nicks Ausdruck wird weich wie Butter. Mit zwei Schritten ist er bei seinem Sohn und hebt ihn hoch über seinen Kopf. »Hast du gehört? Er kann meinen Namen sagen!«
Na ja, mehr oder weniger.
»Das verstehst du nicht, Mattie. Ein Kind verändert dein Leben auf unglaubliche Weise.«
Jetzt aber nichts wie weg.
An der Ampel in der Schlesischen hämmern seine Worte immer noch in ihrem schmerzenden Kopf. »Das verstehst du nicht, Mattie.« Hat Kamal das nicht auch gesagt? »Das verstehst du nicht. Du hast keine Kinder.« Verdammt, wer sagt denn, dass sie keine Kinder will? Gut, sie hat sich nicht drum gerissen. Wie auch, mit Emma als leuchtendem Vorbild? Nick wollte, wenn überhaupt, noch keine Kinder, als sie zusammen waren. Kamal wollte keine mehr. Was für ein Schlamassel.
Touristen hängen wie Insektenschwärme vor den Hostels ab. Dann taucht links das ehemalige Speicherhaus auf. Die Spreespeicher sehen heruntergekommen aus. Das Schild zum Badeschiff hängt noch. Damit klärt sich die Frage nach einer passenden Duschgelegenheit. Mattie scannt die Umgebung auf ihrer inneren Landkarte. Rechts hinter der Brücke liegt die Wagenburg von Didi. Emma hat dort jeden Tag im Garten mitgeholfen, als Mattie in den Spreespeichern gearbeitet hat. Eine Wagenburg wäre mit ihrem Bus natürlich naheliegend. Aber schon der Gedanke, sich auf dem wöchentlichen Plenum vorzustellen, verursacht Unwohlsein. Neue Regeln. Neue Utopien, die nicht ihre sind. »Was, du willst hier Tiere verzehren? Kommt überhaupt nicht in Frage.« Mattie braucht ab und zu Fischstäbchen, unbedingt. Fleisch nicht ganz so unbedingt, aber auch lecker. Also, ein alternativer Kleingartenverein geht schon mal nicht.
Links von ihr zieht der Park mit dem sowjetischen Ehrenmal vorbei. Moment, dahinter liegt doch der Plänterwald! Sie setzt den Blinker und biegt ab. Ganz hinten, wenn man geradeaus weiterfährt, geht es zur Insel der Jugend. Ein mittelgroßer Parkplatz direkt an der Spree, nur fünf Minuten Jogging vom Badeschiff entfernt. Eine gute Wahl. Vielleicht ein bisschen einsam, aber das macht ihr nichts.
Langsam rollt sie über den Asphalt auf die Wasserkante zu. Ein Stück weiter stehen schon zwei VW-Busse. Noch ein paar Camper, umso besser. Sie setzt zurück und stellt den Bus in höflichem Abstand auf. Ist doch purer Luxus, mit Blick auf das Wasser und den Plänterwald mit seinem verfallenen Themenpark.
Den Tag verbringt sie mit Lesen und Leute-Beobachten am Fluss. Abends geht sie zu Fuß zum Einkaufen im Treptower Park Center. Als sie mit Tüten beladen zurückkommt, sitzen die Camper auf Klappstühlen zwischen ihren Bussen. Je näher sie kommt, desto mehr Leute scheinen sich aus dem Schatten zu materialisieren. Eine Frau steht auf, um etwas aus dem Wagen zu holen. Langer Rock, lange dunkle Haare. Mattie erschrickt. Das sind keine Camper! Die Angst kommt unmittelbar, ohne Nachdenken. Ruhig, Mattie. Was soll denn passieren? Die paar Wertsachen sind bei Nick, ihren Laptop hat sie immer dabei, und die Kisten – weiß der Himmel, was da überhaupt drin ist.
»Guten Abend!«, grüßt sie tapfer in Richtung der beiden Vans. Ein Mann mit einem dicken Bauch nickt ihr zu. Schnell peilt sie ihren Bus an. Noch mal umdrehen. Sicher ist sicher. Niemand zu sehen. Nur ein paar winzige Hunde mit umso mehr Fell jagen um die Busse herum.
Mattie kocht Kartoffeln und studiert nebenbei die Website der Kanzlei, für die sie ab morgen arbeitet. Die scheinen ziemlich dick drin zu sein in der Menschenrechtsszene, auch international haben sie Prozesse geführt. Der Kampf gegen gentechnisch verändertes Saatgut ist ein zweiter Schwerpunkt. Sie setzt sich zum Essen aufs Bett und sucht in der Mediathek nach einem Livestream für das EM-Spiel Deutschland gegen Holland. Die Teams laufen gerade ein. Perfektes Timing.
Es klopft. Die Angst ist wieder da, wie ein sprungbereites Tier. Vorsichtig öffnet sie die Tür. Draußen steht der Dicke mit Shorts und Muscle-Shirt. Er grinst sie an. Mattie versucht, die Stufen hinunterzugehen und gleichzeitig die Tür hinter sich zu schließen, so dass er nicht in den Bus sehen kann.
»Ja?«
»Español? Inglese?«
Ihr Spanisch ist rudimentär, ihr Englisch besser. Was er sagt, spielt sich irgendwo dazwischen ab.
»Sie wohnen hier?«
Mattie nickt. »Eine Weile, ja. Ist das in Ordnung?«
»Natürlich!« Er lacht, Goldzähne blitzen auf. »Ist ein freies Land, oder? Deutschland ist gut.«
Sie nickt wieder. Geht so. Kann man so oder so sehen.
»Mein Name ist Liviu. Das ist meine Familie.« Er deutet auf die Busse.
»Mattie. Freut mich.« Sie schütteln sich die Hand. Liviu scheint auf etwas zu warten.
»Mattie – und?«
»Nichts und. Was denn?« Sie weiß nicht, was der Mann will.
»Einfach nur Mattie? Ganz allein? Wo sind dein Mann und deine Kinder? Deine Eltern? Schwiegereltern?«
Nicht schon wieder. Ist heute Weltfamilientag? »Keine Familie. Nur Mattie.«
Er lacht wieder, als hätte sie einen Witz gemacht. Ist ja auch ein Witz, ihr Leben.
»Ich möchte deinen Bus haben.«
Der Bus! Natürlich. An den hat sie nicht gedacht. Die wollen ihren alten Esel klauen. Sie spannt die Muskeln an. Sechs Jahre Kung-Fu ist das eine. Gegen zehn bis fünfzehn Gegner das andere. Womöglich bewaffnet.
»Guck nicht so. Ich gebe dir meinen dafür. Siehst du dahinten? Der T4. Ist zwanzig Jahre jünger, tipptopp in Ordnung.«
Mattie sieht ihn misstrauisch an. »Warum willst du dann meinen haben?«
»Ist zu eng.« Er deutet mit den Händen die Breite an. »Hab schon fünf Kinder, und das sechste ist unterwegs.«
Okay, das ergibt Sinn. Es geht trotzdem nicht. »Ich habe den Bus seit vielen Jahren. Er ist mein Haus. Wie ein Freund.«
Liviu überlegt eine ganze Weile, streicht mit der Hand über seinen Bauch. »Okay, ich verstehe. Die Deutschen lieben alte Häuser und alte Autos. Wie Freunde.«
Mattie fühlt, wie ihre Anspannung etwas nachlässt. Zwischen den Autos kommen ein Mann und ein paar halbwüchsige Jungen hervor. Sofort ist sie wieder auf der Hut. Liviu sieht ihren Blick und dreht sich um.
»Mein Schwager und seine Jungs. Gehen Musik machen.«
Stimmt, sie haben Instrumente dabei. Was ist nur mit dir los, Mattie?
»Alle erwarten von uns, dass wir Musik machen. Also machen wir Musik.« Liviu winkt dem Mann zu. »Meine Frau geht lieber Scheiben putzen. Kottbusser Tor.« Mattie erinnert sich dunkel an Gestalten in langen Röcken, gestern, als sie angekommen ist. »Ich hab auch nichts gegen Musik, gute Partys. Aber meine Hände sind nicht für Musik gemacht. Sie wollen Motoren spüren. In denen kann ich sogar die Zukunft lesen.« Wieder dieses Lachen.
Die Angst räumt ihren Platz und überlässt ihn der Müdigkeit. Mattie gähnt. »Entschuldigung. Ich fange morgen einen neuen Job an.«
»Was für einen Job?«
Mann, ist der neugierig! Aber kann nicht schaden, das schon mal fallen zu lassen. »Bei einem Anwaltsbüro.«
»Ein abogado! Nicht schlecht. Verdient man da viel Geld?«
Jetzt reicht’s aber. Mattie zuckt die Schultern. »Gute Nacht, Liviu.«
»Frau Mattie, schlafen Sie ruhig.« Wieder feierliches Händeschütteln. Dann darf sie endlich den Rückzug antreten.
Als sie Minuten später im Bett liegt und gemütlich das Fußballspiel guckt, sieht sie den Schein des Feuers zwischen den Autos. Komisch, irgendwie fühlt sie sich weniger verlassen als heute Morgen in Nicks schickem Gästezimmer.