2. Juli 2012, Hansestadt Kollwitz
Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland

Sie haben den großen Bus so geparkt, dass er die beiden VW-Busse vor den neugierigen Blicken der Vollzugsbeamten abschirmt. Liviu steht mit seinem Schwager über den Motorraum des einen Wagens gebeugt und fachsimpelt. Livius Frau räumt ihre Kochutensilien hinten rein. Schwiegermutter sitzt unter einer Straßenlaterne auf dem Bordstein und raucht. Die Kinder sind weg. Quincy liegt zusammengerollt neben seinen Geschwistern auf dem warmen Asphalt.

Nick hockt auf den ausgefahrenen Stufen zur hinteren Bustür und beobachtet Mattie und Nadina, die im Schatten einer Birke stehen und telefonieren. Jetzt sind sie fertig. Mattie kommt auf ihn zu.

»Rutsch mal.« Sie setzt sich neben ihn. Ihre Beine berühren sich.

»Und?«

»Die Pastorin kommt morgen nach Hause.« Mattie nickt in Nadinas Richtung, die gerade bei der alten Frau eine Zigarette schnorrt. »Ich bleibe mit ihr im Pfarrhaus, bis die wieder da ist.«

Nick wird flau. Mattie fährt also nicht nach Berlin, sobald Adriana raus ist. Erhöhte Kollisionsgefahr. Ist das noch irgendwie zu verhindern? Er steht auf und geht um den Bus herum. Nachdenken.

Volker kommt aus dem Beton-Ufo, Papiere in der Hand. Winkt Nick heran und geht weiter zu den Leuten zwischen den Bussen.

»Adriana wird auf jeden Fall heute noch entlassen. Der Zeuge hat gleich morgens seine Aussage gemacht. Er gilt als zuverlässig. Ein Mitarbeiter des hiesigen Ordnungsamts.«

Nadina übersetzt aus dem Englischen für Liviu. Volker wendet sich an Nick. »Ich fahre nach Berlin. Willst du mitkommen?«

Er spürt Matties Blick. »Danke, Volker. Ich bleib noch ein paar Tage am Meer. Jasmin kommt morgen früh um zehn mit dem Kleinen.«

Jetzt ist es raus.

Volker verabschiedet sich und fährt los.

Mattie hat sich nicht gerührt.

Nick steigt in den Bus und fängt an, seine Sachen zusammenzusuchen. Er wird schon irgendein Hotel finden.

»Hast du erwartet, ich würde eine Szene machen?« Sie ist ihm nach drinnen gefolgt. Nick lässt die Tasche fallen und klettert nach vorne. Mattie sitzt auf dem Beifahrersitz, wie immer Beine hoch, Arme drum herum.

Eine Weile sitzen sie still nebeneinander und gucken auf den Knast. Was für eine Aussicht. Die Sonne geht unter und taucht den Himmel in knallige Farben.

»Ich warne dich, Nick.« Ihr Profil ist nur noch als dunkle Silhouette zu erkennen. »Du spielst mit deinem Leben. Mit meinem. Mit Cals. Mit dem von Jasmin. Wenn du das mit Azim genauso machst, rede ich nie wieder ein Wort mit dir.«

Typisch Mattie. Nick entfährt ein leises Lachen.

»Ich mein das ernst.«

»Ich weiß.«

In dem Moment öffnet sich das Tor. Adriana kommt heraus. Nick hat sie noch nie gesehen. Eine schöne Frau in Rock und Stiefeln.

Zur Begrüßung reden auf dem Parkplatz erst mal alle durcheinander. Nick hält sich im Hintergrund. Adriana bedankt sich, lacht. Endlich sind alle bereit. Adriana wird mit Liviu nach Berlin fahren. Nadina steigt zu Nick und Mattie in den Bus, stöpselt ihre Kopfhörer ins Handy ein und verzieht sich nach hinten. Es ist dunkel geworden.

Nacheinander rollen die drei Wagen vom Parkplatz und biegen auf die Zufahrtsstraße Richtung Kollwitz ein. Die JVA liegt weitab von den ersten Häusern auf dem Gelände einer ehemaligen Kaserne.

»Was ist da los?« Mattie steigt auf die Bremse. Die beiden VW-Busse vor ihnen haben angehalten.

Laute Stimmen dringen von draußen herein. Nick reißt die Tür auf, ebenso Mattie auf der anderen Seite. Nadina ist noch im Bus.

Liviu und sein Schwager sind ausgestiegen.

»Wir haben euch gewarnt.«

Wie viele sind da vorn? Nick kann es im Dunkeln nicht sehen. Einer steht im Licht der Scheinwerfer. Wieder diese schwarze Hassmaske.

»Wenn sie die Zigeunerin laufen lassen, müssen wir selbst zur Tat schreiten.«

»Sieht aus, als hätten die Baseballschläger.« Das ist Mattie, links neben ihm.

Liviu hebt die Hand. Was hat er denn da? Einen Wagenheber!

»Gebt ihr die Schlampe freiwillig raus, oder müssen wir sie uns holen?«

Liviu stürmt auf den Angreifer zu.

»Komm, Nick!« Mattie reißt ihn am Arm. »Wir müssen ihm helfen!«

Holz kracht auf Metall.

Nick sieht aus dem Augenwinkel etwas auf sich zusausen. Ein Stoß, und er liegt am Boden. Matties Stimme an seinem Ohr. »Sorry, musste sein.« Sie zieht ihn wieder hoch.

Scheinwerfer. »Scheiße, da kommen noch mehr.«

Diesmal ist keine Mattie zur Stelle. Nick kriegt einen Tritt in den Magen und kracht gegen den Bus.

Eine Hand auf seiner Schulter.

»Nein!« Er schreit, so laut er kann.

»Nikolaus, du nimmst jetzt Azim und steigst in den Bus. Sofort!«

»Jasmin!« Sie drückt ihm das Kind in den Arm. Nick reagiert, ohne nachzudenken. Nadina will an ihm vorbei, aber er verstellt ihr den Weg, steigt ein, schließt die Tür und verriegelt sie. Azim schläft tief und fest. Nick legt das Kind aufs Bett. »Das ist mein Sohn, Nadina. Wir müssen ihn beschützen.« Das scheint sie zu beruhigen. Nick klettert nach vorn.

Scheinwerfer schneiden Streifen in die Dunkelheit. Menschliche Körper taumeln ins Licht und wieder hinaus.

Mattie und Jasmin.

Schreie.

Er kann nichts sehen.

Nick fühlt sich wie eingesperrt in einer Glaskugel.

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