28. Juni 2012, Hansestadt
Kollwitz
Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland
Ihre kreativste Zeit ist morgens vor acht. Gesine trinkt um diese Stunde bewusst keinen Kaffee, um den Fluss der Gedanken in seiner natürlichen Geschwindigkeit zu erleben. Sie nimmt einen Schluck grünen Tee und schlägt das Notizbuch auf. Die Sonne steht bereits hoch am Himmel. Die Schwalben, die unter dem Rohrdach des Pfarrhauses nisten, fliegen ein und aus, um den nie versiegenden Hunger ihrer Brut zu stillen.
Der Reisebus von Mattie Junghans parkt nicht mehr vor dem Fenster. Als sie kurz vor Mitternacht ins Bett gegangen ist, war er noch da. Die junge Romni kam gegen zehn Uhr abends und verschwand bald im Gästezimmer, das Gesine für sie hergerichtet hatte. Sie aufzunehmen war wieder eine ihrer berühmten Instinktentscheidungen, wie Arno das immer genannt hat. Göttliche Eingebung klingt vielleicht zu hoch gegriffen, aber sie ist sicher, dass Gottes Hand sie in diesen Momenten stärker leitet als ihr Verstand. Bisher hat er sie nie enttäuscht.
Das Thema für den plattdeutschen Gottesdienst am Sonntag hat heute früh Priorität. Was war ihr noch auf dem Fahrrad durch den Kopf gegangen? Angst. Krise. Attentate. Naturkatastrophen. Weltuntergang.
Sie schreibt die Stichworte auf eine neue Seite, um dann mit der groben Gliederung des Textes zu beginnen. Lautes Motorengeräusch lenkt sie ab. Unwillig hebt sie den Kopf. Was haben diese Leute denn in aller Herrgottsfrühe schon zu tun?
Kurz darauf hört sie die Haustür. Seufzend legt sie den Füllfederhalter auf das Buch und geht in die Diele.
»Oh, Entschuldigung! Wir wollten nur kurz –« Die Junghans zeigt auf die Tür der Gästetoilette. »Der Tank im Bus ist leer und Sie sagten ja, es sei kein Problem.«
Hinter ihr tritt der Journalist ins Haus. Der war ihr gestern auf Anhieb sympathischer, er ist bei weitem nicht so aggressiv. Er hält die schmutzigen Hände hoch und lächelt. Das Lächeln erinnert sie an Arno. Ein gewinnendes Wesen bringt einem viele Vorteile im Leben. Er verschwindet im Bad, während die Frau sich im Flur an die Wand lehnt. Mit gerunzelter Stirn betrachtet sie Arnos Stele.
»Eine Arbeit von meinem Mann. Ex-Mann.«
»Aha.«
»Wo sind Sie denn schon gewesen?« Gesine versucht ihr Unbehagen mit Konversation zu überspielen.
»Auf dem Feld, wo die beiden Roma ermordet wurden.«
»Mord ist ein hartes Wort.« Gesine legt den Finger auf die Lippen und deutet auf das Gästezimmer. »Meines Wissens war es doch eher ein Unfall. Möchten Sie auf einen Tee hereinkommen?« Sie muss gestehen, dass sie neugierig ist, was die beiden über den alten Fall zutage fördern. Sie geht in die Küche voraus, um frisches Wasser aufzusetzen.
Kurz darauf sitzen sie zu dritt am Küchentisch.
»Was haben Sie dort so früh gemacht?«
»Wir wollten die Lichtverhältnisse möglichst auf den Tag genau rekonstruieren.«
»Wo wir schon mal hier sind«, fügt der Journalist hinzu.
»Mord.« Ein herausfordernder Blick. Die Frau ist wirklich anstrengend. »Es war so hell, dass man wohl kaum von einem Unfall sprechen kann. Oder muss sich ein Jäger nicht zuerst vergewissern, auf was er schießt?«
»Natürlich muss er das Wild ansprechen.« Gesine kennt genug Jäger, um zu wissen, wie genau die Vorschriften das Töten regeln. »Und vor allem muss er sich nach dem Schuss davon überzeugen, dass das Tier nicht verletzt ist und unnötig leidet.«
»Das gilt offensichtlich nur für Tiere, nicht für Menschen.« Wieder dieser aggressive Unterton.
Sie steht auf und gießt Tee aus der Kanne in zwei Keramikbecher.
»Vielen Dank.« Ostrowski nimmt einen Schluck Tee. »Sagen Sie, können Sie uns einen kurzen Eindruck geben, wie die Verhältnisse in Fichtenberg 1992 waren?«
»In aller Kürze wird das schwierig.« Gerne denkt sie nicht an diesen Sommer zurück. »Es war eine turbulente Zeit, mit vielen Höhen und Tiefen. Wir waren voller Enthusiasmus, uns in die neue Demokratie zu stürzen. Wir standen ja alle der Bürgerbewegung in der ehemaligen DDR nahe. Mein Ex-Mann Arno, er ist Bildhauer, wurde für das Neue Forum in den Stadtrat gewählt.«
Gesine sieht, wie er aufhorcht. »Ihr Mann? Hatte der nicht auch was mit dem Heim zu tun?«
»Na ja«, sie möchte es vorsichtig formulieren, »offiziell nicht, aber Sie müssen wissen, dass die Situation politisch am Rande der Eskalation stand. Es war ja nicht nur ein Wohnheim hier, sondern auch die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber. Die Leute standen jeden Tag zu Hunderten an, und die Behörde machte um sechzehn Uhr Feierabend. Es gab keine Notunterkünfte, keine öffentlichen Toiletten. Sie hatten es nicht einfach, die Zi–, die Roma. Wir haben Bundeswehrzelte mit Feldbetten aufgebaut und die Toiletten an der Kirche geöffnet. Sogar eine Gulaschkanone wurde organisiert. Es waren Kinder unter den Asylbewerbern, die oft tagelang nichts Richtiges gegessen hatten.«
»Und Ihr Mann hat sich da ehrenamtlich engagiert?«
»Ja, so könnte man es sagen. Wir haben beide sehr viel Zeit im Heim verbracht.« Gesine sieht aus dem Fenster. »Wir hatten diese Menschen ins Herz geschlossen. Es gab verschiedene Ideen, wie man Brücken schlagen könnte. Eine Musik- und Tanzgruppe der Roma. Wir haben Auftritte in der Umgebung organisiert. Aber letztlich war es schwierig, gegen den wachsenden Unmut in der Bevölkerung anzukämpfen.«
»Und dann hat das Heim gebrannt?« Wieder die Junghans mit ihrem sarkastischen Tonfall. »Da hat der Unmut ja zu einer praktischen Lösung geführt.«
»Arno hat wochenlang drüben Nachtwachen geschoben mit den Männern im Heim. Wir hatten alle Angst, dass etwas passieren könnte. Darüber hat sich damals in Bonn niemand Gedanken gemacht. Dass es hier auf beiden Seiten um Menschen geht. Mit durchaus menschlichen Gefühlen.« Warum hat sie ständig das Gefühl, sich verteidigen zu müssen? »Wir hatten kaum noch ein Privatleben. Unsere eigene Tochter kam zu kurz.« Hätte sie sonst früher gemerkt, dass ihre Ehe vor dem Aus stand? Hätte, hätte. Was gewesen ist, ist gewesen. Das Heute ist entscheidend. Die Zukunft kennt nur Gott allein. Gesine steht auf und geht zum Fenster. Die Situation am Tisch ähnelt ihr zu sehr einem Verhör.
Ostrowski scheint ihr Unwohlsein zu spüren und rudert zurück. »Frau Matthiesen, was geschah nach dem Brand?«
»Der Besitzer von Nordhaus Immobilien hat die Gunst der Stunde erkannt und genutzt. Er hat die Brandruine für wenig Geld von der Stadt gekauft, komplett saniert und die Ostseeterrassen daraus gemacht. Heute steht er kurz vor der Wahl zum Bürgermeister. Ein einflussreicher Mann.« Gesine fühlt sich schon besser, jetzt, wo sie wieder in der Gegenwart angekommen sind. »Es gibt hier im Prinzip nur zwei politische Richtungen. Entweder man ist für Abschottung, das betrifft wohl das gesamte rechte Spektrum, oder man setzt auf Offenheit, Durchlässigkeit – kurz: Europa. Das Vakuum in Vorpommern muss aufgelöst werden, wir befinden uns hier nicht am Rande Deutschlands, sondern im Zentrum der EU.« Sie spricht direkt zu ihm. »Dazu ist jedoch Aufklärung nötig, nicht zuletzt in den Medien. Ich bereite in der Schule gerade eine Ausstellung zur Geschichte der Roma und Sinti in Mecklenburg-Vorpommern vor.«
Die Junghans hat offensichtlich nicht zugehört. »Sagen Sie, Frau Matthiesen, eine Frage hätte ich noch.«
»Ja?« Gesine sieht auf die Küchenuhr, um anzudeuten, dass es dann wirklich genug ist.
»Sie kannten doch Uwe Jahn, den Jäger, der jetzt gestorben ist. Was war der für ein Mensch?«
Herrje, was für eine Frage. Gesine überlegt. Was gibt es über einen Menschen wie Jahn zu sagen? »Er war ein verschlossener Mann. Einer von vielen, die nach der Wende zu alt waren für einen Neuanfang. Enttäuscht, vielleicht verbittert, wer weiß das schon genau? Diese unglückliche Geschichte in Peltzow hat seine Haltung noch verstärkt. Ein Mann, der sich vom Leben ungerecht behandelt fühlte.« Sie hat das Gefühl, um den heißen Brei herum zu reden. Man sollte bei den Fakten bleiben. »Wedemeier hat ihn mitgebracht, er war schon in der Umbauphase der Ostseeterrassen als Hausmeister hier. In letzter Zeit, vor allem seit dem Tod seiner Frau, schien er zunehmend unter Druck zu stehen.« Sie schüttelt den Kopf. »Aber es war kein Durchkommen zu ihm. An dem Morgen, bevor er …« Sie erinnert sich wieder an den Anruf, den sie unfreiwillig miterlebt hat. »Er hat jemanden um Hilfe gebeten. Es schien sehr dringend zu sein.«
»Aber Sie wissen nicht, mit wem er gesprochen hat?«
Sie nimmt noch einen Schluck Tee. Er ist kalt. »Er wollte sich mir nicht anvertrauen. Und jetzt ist es zu spät.« Gesine läuft ein Schauder über den Rücken.
»Wir sind der Meinung, die Lösung des aktuellen Falles liegt in der Vergangenheit.« Die Junghans wirft dem Mann neben ihr einen schnellen Blick zu.
Gesine erschrickt. »Sind Sie der Meinung, Adriana sei nicht schuldig? Aber es deutet doch alles darauf hin.«
Die Frau zuckt die Schultern. »Kann ich noch nicht beurteilen.« Sie holt einen zusammengefalteten Spiegel-Artikel aus ihrer Tasche und streicht ihn auf dem Küchentisch glatt. »Sehen Sie sich dieses Foto an. Adriana war nach den Ereignissen 1992 mit Sicherheit schwer traumatisiert.«
Gesine wirft nur einen kurzen Blick darauf. »Ich kenne diese Story. Die Medien haben die Situation damals nicht gerade verbessert.« Plötzlich hat sie eine Idee. »Dennoch – darf ich mal?« Sie nimmt den Artikel und sieht sich die Fotos an. »Vielleicht sollten wir die Bilder in unsere Ausstellung aufnehmen? Man darf sich den Tatsachen nicht verschließen. Was meinen Sie?« Sie wendet sich wieder direkt an den Journalisten.
»Nehmen Sie doch Kontakt zu dem Fotografen auf«, schlägt er vor. »Vielleicht hat der damals noch mehr Bilder gemacht.«
Gesine hört, wie die Tür des Gästezimmers aufgeht. »Ach ja, und meinen Sie, ich könnte Nadina um einen Gefallen bitten?«
»Was denn?«, will die Junghans sofort wissen.
»Ich bräuchte jemanden, der mir für die Ausstellung einige Dokumente übersetzt. Selbstverständlich gegen Bezahlung.«
»Ach so!« Endlich steht sie auf. »Jetzt weiß ich auch, warum Sie nur Nadina hierbehalten wollten! Obwohl draußen auf Ihrem Parkplatz genug Platz für alle wäre. Komm, Nick.« Sie wendet sich zum Gehen.
Der Journalist steht ebenfalls auf. »Danke, Frau Matthiesen.« Ein gut aussehender Mann.
An der Tür dreht sich die Frau noch mal um. »Zwanzig Euro die Stunde ist der Satz. Glauben Sie nicht, Sie können Arbeit zu Dumpingpreisen kriegen. Nur weil sie eine – Romni ist.«
Dumpingpreise. Ganz schön impertinent. Gesine sieht den beiden durchs Fenster nach, wie sie in ihrem Bus verschwinden. Was hat diese Frau argumentativ gegen sie in der Hand, mal abgesehen von ihren selbstgerechten Vorurteilen? Sie fährt sich durch die Haare und schließt kurz die Augen. Nur nicht provozieren lassen. Manchmal stimmt eben die Chemie zwischen zwei Menschen nicht.
Ein verschlafenes Gesicht erscheint im Türrahmen. »Gibt’s hier einen Kaffee?« Dieses Mädchen ist ein Rohdiamant, das hat sie auf den ersten Blick erkannt. Wenn man der ein bisschen Schliff gibt, wird sie funkeln.