KAPITEL 4

 

Trotz der Warnung ihrer Mutter und den Rufen ihrer Freunde verließ Romily den geschützten Kreis ihrer Gefährten und ging tief in den gefährlichen Wald hinein. Sie glaubte, sie würden ihr Selbstvertrauen bewundern und die mutige Bereitschaft anerkennen, mit der sie aus der Reihe tanzte. Aber sie ging nicht allein. Der sechsbeinige Dämon, der seit ihrer Geburt geduldig unter ihrem Haus gewartet hatte, folgte ihr ungesehen und gesellte sich zu den Übrigen seiner Art, die den Tiefen entstiegen, um sich ihrer anzunehmen.

 

(ALTES TYRANISCHES MÄRCHEN MIT DER ALLSEITS BELIEBTEN THEMATIK DER MONSTER, DIE UNGEZOGENEN KINDERN AUFLAUERN)

 

WRIGHTMAN-KRANKENHAUS, SAMMELPLATZ, JACINTO, 14 N. A. – ZWEI TAGE BIS ZUM FRISTABLAUF

»Ich hab mich sicher nicht gemeldet, um Lebensmittel auszuliefern.« Baird schlenderte die lange Reihe der wartenden Laster entlang und blieb gelegentlich stehen, um gegen einen Reifen zu treten. »Mein Ding sind Maden. Maden umlegen. Scheiße, was ist bloß mit Hoffman los? Wird der langsam senil oder was?«

»Es sind ja auch unsere Lebensmittel.« Cole reizte ihn ein bisschen zum Spaß. Ein paar King Ravens, die ein Team von Pionieren bei den North-Gate-Nahrungsmittelanlagen abgesetzt hatten, kreisten über ihnen. »Du stehst vielleicht auf Hundefleisch, Baby, aber ich könnte ein Steak vertragen.«

»Lebend sind Hunde nützlicher«, meinte Bernie, die am Trittbrett des nächsten Lasters lehnte. »Ich hab mich allerdings auch schon mal ’ne Weile von Katze ernährt. Gar nicht übel. Geben auch ein prima Futter für Stiefel und Handschuh ab.«

Dom fragte sich, wie lange Baird gegen das neu formierte Sparring-Duo Cole & Bernie durchhalten würde. Baird war damit beschäftigt, vorzutäuschen, nichts auf ihre Witze zu geben. »Warum können die das Zeug nicht einfach rausfliegen?«, sagte er. »Das hier schreit doch nach Ärger.«

»Weil wir nicht genug Ravens übrig haben«, erklärte Dom geduldig. Komm schon, Marcus, wo zum Teufel steckst du? »Ein Teil muss über die Straße transportiert werden.«

Es gab verschiedene Methoden, mit Baird zurechtzukommen. Marcus blendete ihn einfach aus, Cole setzte seiner Meckerei die gleiche Dosis an blöden Sprüchen entgegen und Dom …

Dom stellte fest, dass er Baird fast so wie seinen Sohn Benedicto behandelte. Vierjährige fragten andauernd, warum, warum, warum. Über die Jahre hatte Dom sich an ein Schmerzniveau gewöhnt, das fast schon als Bewältigung des Todes seiner Kinder durchging, aber gelegentlich spürte er den Stachel des Kummers noch unerwartet zustechen und dann brannte es genauso schmerzhaft wie am ersten Tag.

Bennie wäre inzwischen achtzehn, Sylvia siebzehn. Dom hätte sogar ein viel zu junger Großvater sein können. Und Bennie hätte selbst schon ein Gear sein können.

Hör jetzt auf damit. Du weißt, wo das immer endet.

Wie aufs Stichwort sorgte Cole für die nötige Ablenkung.

»Wie sieht’s aus, Boomerbraut, hast du ein paar leckere Katzen-Rezepte auf Lager?«

Bernie zwinkerte ihm zu. »Das war kein Witz, Alter. Getigertes Stiefelfutter.«

»Du verarschst mich doch.«

»Guck selbst.«

Cole ging in die Hocke und Bernie löste die Riemen oben an ihrem Stiefel, um das Futter nach außen zu krempeln. Dom, der über die Jahre schon reichlich unzivilisierte Scheiße gesehen hatte, die einem den Magen umdrehte, starrte entsetzt und fasziniert zugleich. Es war tatsächlich getigertes Fell. Silbern getigert.

»Scheiße, die arme kleine Mieze!« Cole brach in schallendes Gelächter aus und schlug sich auf die Schenkel. »Hey, Damon, willst du auch so ’n Paar? Vielleicht bekommen wir ’nen hübschen roten Kater für dich.«

Baird ging einfach nur zu Bernie und blickte hinunter.

»Wow, voll elegant«, meinte er. »Ich passe. Aber ’n Grufti wie du braucht’s natürlich warm. Wir wollen ja nicht, dass du uns mitten auf ’ner Mission an Unterkühlung wegstirbst.«

Dom wartete darauf, dass Bernie die Scheiße aus Baird rausklopfen würde, aber das Knochenknacken blieb aus. Sie stand einfach da, lächelte ihn ohne mit der Wimper zu zucken schief an und dann war er es, der zuerst wegschaute. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er es bei ihr zu weit treiben würde. Baird musste immer bei jedem die Grenzen ausloten, entweder bis es knallte oder bis sich alle langweilten.

»Alle mit dem Standardablauf vertraut?«, fragte Bernie. »Ist ’ne Weile her, dass wir das im Training hatten.«

»Reine Zeitverschwendung«, meinte Baird. »Wir brauchen dreißigtausend Tonnen Nahrung, um die Stadt einen Monat durchzufüttern. So viel können wir unmöglich befördern – zehn, fünfzehn Prozent vielleicht. Glaubt ihr wirklich, das bringt auf lange Sicht irgendwas?«

»Du kannst also rechnen.« Marcus’ Stimme schnitt durch das Brummen der Motoren. »Da kann’s mit Schreibschrift ja nicht mehr lange dauern.«

Marcus erschien hinter einem Kanonen-Brummi. Begleitet wurde er von Federic Rojas – Jan Rojas’ Bruder. Er schloss geradewegs die Lücke, die sein gefallener Bruder hinterlassen hatte. Dom wusste nicht, was er sagen sollte, denn ein »Ich weiß, wie du dich fühlst« passte nicht so richtig. Dom hatte einen Bruder verloren, schon richtig, aber bei Federic waren es jetzt schon zwei.

Scheiße, wie kaputt ist das denn, wenn eine ganze Familie ausradiert wird, sodass ich mich verzähle? Selbst in den Pendelkriegen wäre das ’ne Nachricht wert gewesen, echt tragischer Scheiß. Aber jetztist es Routine.

Baird hielt es nicht für nötig, auf Marcus’ Rüffel einzugehen – oder Rojas zu begrüßen –, und hackte lieber weiter auf dem Plan rum. »Sollen sie doch gucken, wo sie bleiben. Weniger Mäuler zu füttern, gleicht’s auch wieder aus.«

Marcus stieß einen langen, müden Seufzer aus. »Hast du überhaupt noch einen Satz vom Octus-Kanon im Kopf?«

»Klar hat er das«, sagte Cole, der immer noch Bernies Katzenaufmachung bewunderte. Dom grübelte immer noch darüber, weshalb er eine Tierart liebend gerne aß und andere verabscheute. »Die fangen alle an mit, Dämons Arsch zuerst’.«

»Wir verlagern Erneuerbares und Unersetzbares«, erklärte Marcus. »Saatgut. Geflügel. Hydrokultur-Ausrüstung. Myko-Fermenter. Alles wert, gerettet zu werden.«

Nachdem die Viehzucht so gut wie nicht mehr vorhanden war, stellte Mykoprotein das Hauptnahrungsmittel dar und Dom mochte es sogar. Es konnte nur besser sein als Katze.

Außerdem hatte es den Riesenvorteil, dass es unter Fabrikbedingungen gezüchtet werden konnte, weil es ein Pilz war. Heutzutage wurde erwartet, dass jeder gesicherte Bereich von Ephyra als urbane Farm genutzt wurde. Den Bürgern wurde befohlen, alles Mögliche auf Fenstersimsen und in Hinterhöfen anzupflanzen, und vom Park bis zum Blumentopf wurde jedes Stückchen Erde als Gemüsebeet genutzt. Dom hatte von einem Typen gehört, der sich ein Schwein in der Wohnung hielt, mit dem er nachts Gassi ging. Je weiter die Locust in die bewohnbaren Gebiete eindrangen, desto schwieriger wurde es, die Bevölkerung zu ernähren.

Auf begrenztem Raum konnte man auch nur eine bestimmte Anzahl von Menschen durchbringen. Dom hatte keinen Bock, sich wieder mit Krawallmachern ums Essen zu schlagen.

»Worauf warten wir überhaupt noch?«, fragte er.

Marcus überprüfte seine Rüstung und aktivierte Energiesystem und Licht. »Auf das da«, sagte er mit einem vagen Nicken in Richtung der Eingrenzung.

Vor dem Hintergrund dichter Wolken war ein schwarzer Fleck zu erkennen, der größer wurde und eine vertraute Form annahm. Der Letzte der zurückkehrenden King Ravens setzte Staub aufwirbelnd zur Landung an.

Hoffman sprang aus der Kabine und stiefelte in Begleitung eines Gears mit markantem Haarschnitt zum Konvoi hinüber. Bernie kicherte.

»Scheiße, ich hoffe, der hat nicht vor, bei uns mitzufahren«, sagte Marcus.

Dom zuckte mit den Schultern. »Was soll’s, in den letzten Tagen war er nicht mehr ganz so feindselig.«

»Der bekommt nur grad wieder Oberwasser.«

Der Gear neben Hoffman war Tai Kaliso, noch ein Typ von den South Islands. Dom erinnerte sich an ihn von den Aspho Fields. Sein schwarzer Iro und die verschlungenen Tattoos, die sein halbes Gesicht bedeckten, waren nur schwer zu vergessen. Rüstung und Lancer hatte er entgegen jeder Vorschrift großzügig verziert und Stammessymbole in die Beschichtung geritzt. Dom fiel auf, dass noch jede Menge Gears übrig waren, die an der Operation damals teilgenommen hatten – einschließlich ihm selbst –, und irgendwie wirkte es wie ein Glücksbringer, dass Aspho hauptsächlich Überlebenskünstler hervorbrachte.

Hauptsächlich.

Hoffman zog sein Funkgerät hervor und drückte auf den Sendeknopf. »Mal sehen, ob die ihre Anweisungen verstanden haben. Fahrer? Fahrer! Herhören.« Er machte eine Pause und schritt die Reihe der Fahrzeuge ab, um einen Blick in die Vorderkabinen zu werfen. »Regel Nummer eins – immer Funkkontakt halten. Sie werden nach vom und nach hinten null Sicht haben, meine Herren, und wenn die Scheiße anfängt zu kochen, ist es der Funk, der Ihnen die Richtung vorgibt. Ich möchte Sie daran erinnern, dass die Standardvorgehensweise kein Vorschlag ist – Sie werden die hundert Meter Abstand einhalten, Sie werden Todeszonen so schnell wie möglich passieren, Sie werden in einer Todeszone nicht anhalten, um irgendjemanden zu retten, und wenn Sie in einer Todeszone stecken bleiben sollten, werden Sie maximale Feuerkraft einsetzen. Und jetzt – auf das Rufzeichen warten und Motoren starten.«

Die Fahrer des Konvois waren ein gemischter Haufen aus Zivilisten und Gears, die aufgrund ihres Alters oder Verwundungen nur leichte Arbeiten übernehmen konnten. Auf jedem Laster, Junker und Pick-up waren Kanonen montiert. Zusammen mit den gepanzerten Armadillo-Transportern besaß der Konvoi damit ganz schön Feuerkraft. Es gab sogar einen alten Kranken- und einen Leichenwagen, beide mit Kanonen ausgestattet. Aber der Weg führte nicht über die offene Straße. Dom wusste, dass das seine ganz speziellen Probleme mit sich bringen würde, denn riskanter, als sich Block für Block durch die Stadt zu schlängeln – bei versperrter Sicht, Engpässen und scharfen Kurven, die ein Gelenklaster nicht nehmen konnte –, ging’s nicht.

Hoffman hakte sein Funkgerät wieder an seine Weste und ging zum Kommando-Armadillo in der Mitte des Konvois. Dann blieb er stehen und drehte sich um.

»Kaliso, Sie kommen mit mir. Fenix – Führungsfahrzeug mit Santiago und Rojas. Mataki – Nachhut mit Cole und Baird. Bewegung!«

Hoffman war also mit von der Partie und übernahm das Kommandofahrzeug. Niemand konnte ihm vorwerfen, bei einer gefährlichen Mission die Hände in die Taschen zu stecken. Vielleicht langweilte er sich, vielleicht wollte er irgendwas beweisen.

Und vielleicht war die COG einfach so knapp an Männern, dass es getan werden musste.

»Wie weit sind die Maden vorgerückt?«, wollte Rojas wissen. »Ich meine, wie viel Zeit bleibt uns?«

Marcus zog die Luke des Führungs-Armadillo auf und tippte gegen das Gehäuse des Jack. Der Bot, eine selbstlenkende Maschine wie ein übergroßer, schwer gepanzerter Thrashball, stieg mithilfe seiner Düsen in die Luft und fuhr aus eingelassenen Fächern seine Arme aus, als wäre er aufgewacht und müsste sich erst einmal ordentlich strecken.

»Zwanzig oder dreißig Stunden, maximal. Wenn wir näher sind, kann Jack ein bisschen aufklären.«

»Bis North Gate brauchen wir nur ein paar Stunden.«

»Das Verladen wird die meiste Zeit verschlingen.«

»Reichen drei Armadillos für fünfzig Fahrzeuge aus?«

»Eigentlich nicht.«

»Dachte ich mir.« Rojas kletterte hinein und klemmte sich fröhlich auf den Platz des Schützen. Dom fragte sich, welchen Beruf er wohl in Friedenszeiten gehabt hätte. Obwohl der Krieg ihm so viel genommen hatte, legte er eine seltsam unschuldige Begeisterung für den Kampf an den Tag und schien keinerlei Rachegelüste oder Bosheit in sich zu tragen. Dom wollte ihn fragen, wie er mit all dem klarkam, aber er befürchtete, vielleicht eine zerbrechliche, vorgetäuschte Fassade einzureißen. Jeder Mann hatte das Recht, auf seine eigene Art mit den Dingen fertig zu werden. »Hast du so was schon mal gemacht, Dom?«

Dom zog seine Gürteltaschen nach vom, um auf dem Fahrersitz Platz zu nehmen, und ließ den Motor an. »Nein.«

»Auch gut«, meinte Marcus und kletterte auf den Sitz neben ihm. »Rein, raus, den anderen nicht in den Weg kommen, und wenn sich was bewegt – draufballern.«

Marcus hatte wirklich Ahnung davon, scheinbar komplizierte Dinge zu vereinfachen. Vielleicht war die wissenschaftliche Ausbildung doch nicht umsonst gewesen.

 

KOMMANDOFAHRZEUG, KONVOIMITTE

»Was ist denn in die gefahren?«, knurrte Hoffman.

Auf den Straßen trieben sich haufenweise Gestrandete herum, so viele, wie er schon seit Jahren nicht mehr gesehen hatte.

Kaliso packte das Lenkrad fester und drosselte das Tempo etwas, um einen Blick auf die Fahrerseite des APCs zu werfen. Die Straße war breit genug, um eine Weile neben dem Hauptkonvoi herzufahren. »Vielleicht sind sie dahinter gekommen, was Hinnahme bedeutet, Sir.«

»Hinnahme am Arsch«, erwiderte Hoffman. »Kommen Sie mir nicht mit Religion. Die lungern doch bloß rum.«

Der Konvoi hatte inzwischen die geschützte Stadt und ihre unsichtbare, aber nur allzu reale Grenze hinter sich gelassen und durchquerte das Niemandsland mit den vereinzelten Siedlungen der Gestrandeten, die das Risiko der Locust-Überfälle eingingen. Siedlungen – wie zum Teufel konnten sich diese Leute bloß ansiedeln? Der Gedanke an Menschen – Landsleute, Übersiedler, wie auch immer –, die ungeschützt zurückblieben, hatte Hoffman einmal Sorge bereitet, aber wirklich nur ein Mal. Man hatte sie nicht im Stich gelassen. Sie hatten die Gesellschaft im Stich gelassen – ihre eigene Spezies.

Für einen Augenblick sah Hoffman die Straßenoberfläche als fahlen, gesprenkelten Schotter vor sich, den Zeit und Bewegung platt gewalzt hatten. Dann erkannte er, dass es in Wirklichkeit weiße Marmorbruchstücke waren, die es in das dunklere Geröll gedrückt hatte. Überreste des gemeißelten Frieses, das sich an dem Gebäude zu seiner Rechten entlanggezogen hatte.

Es war eines der besten archäologischen Museen der Welt gewesen. Seine ersten ernsthaften Verabredungen hatten ihn hierher geführt, in der Hoffnung, Nina Kladry davon überzeugen zu können, dass ein ganz gewöhnlich verpflichtetes Frontschwein genauso hochgeistig sein konnte wie eine Offizierskadettin. Kannst nicht sein, was du nicht bist. Versuch ’s gar nicht erst. Sei stolz auf das, was du bist. Ein deutlich erkennbarer Brocken aus der gemeißelten Täfelung ragte neben dem Randstein hervor – eine blumengeschmückte Hand, die sich ihm milchig weiß wie der Tod entgegenstreckte – und ein Schauer lief ihm über den Rücken. Es war die Essenz der Zerstörung, das letzte verzweifelte Klammern an das Leben, bevor alles in den Abgrund stürzte.

Ein älterer Mann – ein höchst seltener Anblick, denn die Gestrandeten lebten nicht lange – hob seinen zerlumpten, dreckigen Arm, um dem Armadillo ein Zeichen zu geben. Es drückte nicht gerade Entgegenkommen aus.

»Ich glaube, Dankbarkeit können wir streichen.« Der Mann war wahrscheinlich ziemlich genau in Hoffmans Alter, sah aber doppelt so alt aus. »Fick du dich auch, Bürger.«

»Man könnte meinen, die ziehen hier irgendeine Art Festival ab.«

»Vielleicht wissen sie etwas, was wir nicht wissen.«

Im Augenblick waren die Gestrandeten für die COG eher eine Belästigung als eine Gefahr, aber Hoffman bezog sie trotzdem in seine Planung mit ein. Der Wiederaufbau würde mehr als schwer werden. Die Verknappung würde nicht nur Monate oder Jahre, sondern noch Jahrzehnte andauern. Schon jetzt wusste er, dass die wichtigste Aufgabe der Armee nach dem Sieg über die Locust darin bestehen würde, die gewalttätigen, gesetzlosen Banden unter Kontrolle zu halten. Das würde alles andere als schön werden. Als er Prescott einen potenziellen Bürgerkrieg in Aussicht gestellt hatte, war das keine Panikmache gewesen.

»Kaliso, halten Sie mal an, ja? Ich will mit denen reden.« Kaliso tastete mit einer Hand nach seiner Pistole und steckte sie in das Gurtband über seiner Brust. »Seien Sie vorsichtig, Sir.«

Hoffman vergewisserte sich, dass er seine eigene Pistole zur Hand hatte. Schließlich konnte es nur eine Sekunde dauern, um herauszufinden, dass die Gestrandeten vielleicht riskierten, auf Gears zu schießen. »Ich muss es wissen.«

Das Armadillo verlangsamte sein Tempo, um im Schritttempo neben drei Frauen – allem Anschein nach eine Mutter mit ihren beiden Töchtern – herzurollen, und Hoffman öffnete die Frontluke. Selbst an der frischen Luft schlug ihm ihr beißender Körpergeruch entgegen.

»Tag, die Damen«, rief er und schaffte es, einen neutralen Tonfall beizubehalten. »Warum sind alle draußen auf der Straße?«

Die Frau starrte ihn an. Einen größeren Unterschied zu seiner verschwommenen Erinnerung an Nina Kladry hätte es nicht geben können.

»Sicher nicht, um Blumen für euch zu streuen, du Fascho-Wichser. Die Locust sind auf der Flucht.«

»Meint ihr«, entgegnete Hoffman. Klar, wir sind die Fascho-Wichser; die im Kampf gegen sie sterben, damit ihr’s nicht müsst. »Darf man fragen, wieso?«

»Das wisst ihr doch verdammt gut. Ihr habt doch dafür gesorgt.«

Die Gestrandeten hatten ihre eigenen Methoden, die Locust-Aktivitäten im Auge zu behalten. Hoffman fügte das Gesagte seiner Liste mit Gerüchten hinzu, ohne irgendeine Hoffnung daraus zu schöpfen.

»Einen schönen, unabhängigen, freidenkerischen Tag noch«, rief er und schloss die Luke. »Gas geben, Private.«

Wenn es ihm in den Kram passte, nahm Kaliso die Dinge gern wörtlich. Er jagte die Gänge des APCs hoch, ließ ihn neben dem Konvoi entlangkreischen und stieß dann in eine der Lücken zwischen den Lastern.

»Hoffman an Fenix, Mataki – die Gestrandeten glauben, die Locust hätten ihre Koffer gepackt.« Hoffman behielt seinen Zeigefinger einen Moment auf der Sendetaste und dachte über seine nächste Bemerkung nach. »Wir wollen nicht so optimistisch sein. Hoffman Ende.«

Kaliso behielt seinen Blick starr auf das Heck des Lasters vor ihnen gerichtet. Mit dem kurz geschnittenen, kantigen Iro strahlte er permanente Aggression aus, was der Wahrheit ziemlich nahe kam.

»Glauben Sie, die haben recht?«, fragte er schließlich.

»Ich glaube es, wenn ich die letzte Made tot vor meinen Füßen liegen sehe.«

»Ich werd mein Bestes tun, damit das passiert, Sir.«

Oh ja, das würde er.

Die Gesamtheit der Menschheit bestand jetzt aus einer, an Seras ehemaligen Standards gemessen, mittelgroßen Stadt und Hoffmans Armee aus nichts weiter als ein paar Brigaden. Er dachte zurück an die Pendelkriege – gewaltig, Kontinente übergreifend und vergleichsweise großzügig ausgerüstet – und beinahe überkam ihn ein Gefühl von Nostalgie.

Achtzig Jahre verplempert wegen dem Kampf um Emulsionsnachschub, wegen verdammtem Sprit, während all das direkt vor der Tür stand.

Hoffman war während des Krieges auf die Welt gekommen und er rechnete damit, dass auch die gleichen Zustände herrschen würden, wenn er sie wieder verließ. Heute war niemand mehr am Leben, der sich an Frieden auf Sera erinnern konnte.

Er fand Trost in dem Gedanken, dass er sowieso nicht gewusst hätte, was er mit Frieden hätte anfangen sollen.

 

UNGESICHERTE ZONE, FÜNF KILOMETER VOR NORTH GATE, NACHHUT-APC

Bernie stemmte sich gegen den Rand der Oberluke des APCs und versuchte immer noch, die Mündung ihres frisch erworbenen Lancers an etwas Stabilem abzustützen. Die Zähne der Kettensäge machten es unmöglich. Nach einer Weile gab sie auf und trug das Gewicht mit beiden Händen. Der Lärm der knirschenden Reifen und donnernden Motoren, der in den schluchtartigen Straßen widerhallte, war ohrenbetäubend.

Das Heck des letzten Lasters zeichnete sich ab und sie drückte ihr Mikro näher an ihren Mund. »Du kommst zu dicht an den Laster vor uns.«

»Scheiße«, meldete sich eine Stimme in ihrem Ohr, »jetzt spielst du auch schon die Besserwisserin.«

Sie schaltete das Mikro ab und rutschte hinunter in die Kabine, damit nicht jeder die Unterhaltung über den offenen Kanal mithören konnte. »Du musst ihm genug Raum lassen, damit er zurücksetzen kann, wenn’s Ärger gibt, Sackgesicht. Mit ’nem Sattelschlepper kriegt der keine 180-Grad-Wende hin. Der walzt glatt im Rückwärtsgang über uns drüber.«

Baird ließ den APC etwas zurückfallen und sie brauchte ihn nicht anzusehen, um zu erraten, was er davon hielt. Marcus ließ sich viel zu viel von dem Penner bieten. Sie hatte nur eine knappe Stunde gebraucht, um zu diesem Urteil zu kommen.

»Jetzt zufrieden?«, sagte Baird.

»So ist’s brav.«

»Ja, Omi.«

Hätte Cole das gesagt, hätte sie darüber gelacht. Aber es kam von Baird, also tat sie es nicht. »Söhnchen, wenn ich mit dir Hoppe, hoppe Reiter spielen würde, könntest du danach eine Woche lang nicht mehr sitzen, also Klappe halten.«

Cole brüllte vor Lachen. »Du kriegst den Arsch versohlt, Damon. Sei lieb und mach die Vorderluke auf.«

Er warf ein paar Rationsriegel zu einer Gruppe magerer, zerlumpter Kinder hinüber, die wie eine Rotte kleiner, wilder Tiere von einer Straßenecke aus zu ihnen herüberschauten und sich auch genauso auf das Essen stürzten. Bernie hatte das Gefühl, sie würde dabei zusehen, wie sich die Menschheit zurückentwickelte.

Vielleicht ist das das Schlimmste, was uns die Maden angetan haben. Sie haben uns wieder in Wilde verwandelt.

Baird seufzte verärgert. »Cole, was zur Hölle machst du da? Du brauchst deine Kalorien, Junge. Hör auf, diese Parasiten zu futtern.«

»Ach komm schon, sind doch bloß Kinder.«

»Und du weißt, was aus ihnen wird, wenn sie groß sind.«

»Warst du nie hungrig, Damon? Bist halt reich groß geworden. Du hast ja keine Ahnung.« Als ob er etwas klarstellen wollte, wühlte Cole in seinen Taschen und warf noch etwas mehr hinaus. Baird gab seltsamerweise kein Kontra, so als würde er Cole zustimmen. »Außerdem bekommen wir zigmal mehr zu fressen als die – die hassen uns dafür. Guck uns doch an. Ich meine, guck doch mal, wie viel Fleisch wir im Vergleich zu denen auf den Rippen haben.«

»Ja, weil wir verdammt noch mal kämpfen müssen. Sollen sie sich ’ne Rüstung anziehen, dann bekommen sie das gleiche.«

»Klar, Baby, ich werd’s gleich dem nächsten Achtjährigen sagen.«

Coles Tonfall war immer noch freundlich, immer noch geduldig, aber er musste einen Nerv getroffen haben, denn Baird hielt endgültig die Klappe, was Bernie zur zukünftigen Verwendung zu den Akten legte.

Jetzt war sie dran, eine Blase aufzustechen. »Bist du angepisst, weil ich meine Streifen behalten habe, Baird?«

»Also, Friedhofsgemüse, das schon vor Jahr und Tag nur auf seinem Arsch rumgesessen ist, wäre jedenfalls nicht meine erste Wahl gewesen.«

Es rutschte ihr einfach so raus. »Aha, offensichtlich bist du nicht mit deiner Mutter zurechtgekommen … wie steht’s mit deinem Vater? Hast du je rausbekommen, wer er war? Hat sie es?«

Na toll, jetzt hast du ihm gezeigt, dass du dich drauf einlässt.

Dieses Mal biss Baird nicht an. Sie wusste, weshalb. Sie hatte eine Grenze überschritten, die der Krieg gezogen hatte und die klarstellte, dass Anspielungen auf die Familie, ganz gleich, wie freundlich sie gemeint waren – oder nicht, wie in diesem Fall –, völlig daneben waren. Jeder hatte Familie verloren. Ein neues gesellschaftliches Tabu, das sich rasch durchgesetzt hatte.

Allerdings konnte man leicht annehmen, dass Baird keine Gefühle hatte.

Bernie hatte nicht vor, sich zu entschuldigen – jedenfalls noch nicht. Und sie war auch nicht sein Sergeant, nur mit an Bord, bis sie wieder auf dem neuesten Stand war, daher hatte es wahrscheinlich keinen Sinn, mit dem großmäuligen kleinen Wichser zu einer Einigung zu kommen. Er war Marcus’ Problem.

Das Funkgerät knisterte. »Zentrale an Delta, wir haben Updates über Locust-Aktivitäten. Macht euch bereit für die Übertragung der Koordinaten.« Es war die Stimme einer Frau. Bernie bemühte sich, sie einzuordnen. »Immer noch zwei Kilometer südwestlich eurer geplanten Position.«

Hoffmans Stimme platzte in den Kanal. »Wie viel Zeit lässt uns das zum Verladen, Lieutenant?«

»Packen Sie ein, was Sie in sechsundzwanzig Stunden zusammenbekommen, Sir. Das Team vor Ort gibt die Prioritäten vor.«

»Verstanden.«

Das Rascheln von Papier war zu hören. Cole faltete die Karte neu. Bernie versuchte, sich an die Stimme aus dem Funkgerät zu erinnern, musste aber die Waffen strecken.

»Cole, wer war das?«, fragte sie.

»Lieutenant Anya Stroud.«

»Ah … na klar.« Jetzt erinnerte sie sich wieder. Kleines blondes Ding, in jeder Hinsicht die halbe Portion ihrer Mutter. »Major Strouds Tochter.«

»Steht die auf Dom?«, wollte Baird wissen. »Ich meine, du hast ja wohl alle schon gekannt, als sie noch Windeln anhatten. Sie scheint immer extralieb zu ihm zu sein.«

Baird wusste bis jetzt noch nicht über Marcus Bescheid. Auch gut. »Jeder steht auf Dom. Die Santiago-Brüder waren immer gute Jungs.«

»Also gibst du uns jetzt ’ne Geschichtsstunde? Wie wurde unser Knasti-Sergeant denn zum Helden?«

Selbst wenn sie gewollt hätte, wäre Bernie nicht eingefallen, wo sie anfangen sollte. Und Geschichte war niemals so eindeutig, wie es schien, selbst wenn man persönlich dabei gewesen war und meinte, sich exakt an alles erinnern zu können.

»Nein«, sagte sie. »Tu ich nicht.«