KAPITEL 19

 

Was meinen Sie damit, Pesang-Soldaten kämen für den Embry Star nicht infrage? Was für eine fremdenfeindliche Riesenscheiße ist das denn? Glauben Sie, man muss erst von der COG besiegt werden, um Anerkennung zu bekommen? Pesang hat sich angeboten, als freies Land an unserer Seite zu kämpfen. Allein schon deshalb sind sie zweimal so viel wert wie alle Männer aus irgendeinem Ihrer Vasallenstaaten.

 

(MAJOR VICTOR HOFFMAN ZUM ADJUTANTEN DES GENERALS, 20 RTI HQ, BEI DER FERTIGSTELLUNG SEINES BERICHTS ZUM ÜBERFALL AUF ASPHO POINT UND DER EMPFEHLUNGEN FÜR AUSZEICHNUNGEN)

 

CMS »POMEBOY«, IRGENDWO VOR DER KÜSTE OSTRISS; SECHZEHN JAHRE ZUVOR, EIN PAAR STUNDEN NACH OPERATION LEVELER

»Geben Sie mir eine Stunde«, sagte der Lieutenant der Nachrichtenabteilung. »Dann haben wir ein Satellitenfenster. Ich bin sicher, dann können wir versuchen, einen Anruf für Sie durchzukriegen.«

»Danke, Sir«, sagte Dom. »Ich hätte nicht gefragt, wenn es nicht wichtig wäre. Aber meine Frau weiß nicht, ob ich lebe oder tot bin, und ich bin noch nicht dazu gekommen, mit ihr zu sprechen, seit sie unser Kind zur Welt gebracht hat.«

»Kein Problem«, erwiderte der Lieutenant. »Typen, die beim ersten Versuch einen Marlin in einem laufenden Raven parken, bekommen vollen Service.«

Es hatte eine Zeit gegeben, in der Dom stolz darauf gewesen wäre, ein Promi zu sein – der kleine Dom Santiago, gefeiert von all den Offizieren –, aber jetzt weckte es in ihm nur Schuldgefühle und Verwirrung. Er konnte nicht schlafen. Er zitterte vor Müdigkeit, aber jedes Mal, wenn er sich in seine Koje warf, neben der so viele andere leer blieben, und versuchte, die Augen zu schließen, rief irgendein Tier in seinem Inneren »Nicht, tu’s nicht, du weißt nicht, was du sehen wirst!« Er stellte fest, dass er von einem emotionalen Extrem ins andere taumelte. Die reine, tränenreiche Freude über das Baby wechselte zu unendlicher Trauer um die Kameraden, die er in jener Nacht verloren hatte, und es war ihm unmöglich, ein Gleichgewicht zu finden.

Um 0230 lief er durch die Gänge zum Hangardeck, um auf den eintreffenden Raven zu warten. Die Pomeroy befand sich noch immer in Verteidigungsbereitschaft und all ihre Lichter waren gelöscht, während sie aus der Reichweite der Ostri-Jäger fuhr.

Ich krieg mich wieder ein, wenn Carlos und Marcus wieder da sind.

Sie wären in der Lage, dem Ganzen einen Sinn zu geben. Während Dom an der Sicherheitsreling lehnte und wartete, liefen die Deckmannschaften hin und her. Manche blieben kurz stehen, um ihm die Hand zu schütteln. Es sprach sich schnell herum.

Hoffman kam ebenfalls vorbei und gesellte sich zu ihm.

»Garantieren kann ich’s nicht«, sagte Hoffman leise, »aber ich empfehle Sie für den Embry Star.«

»Ich bin nicht tot«, entgegnete Dom. »Eigentlich müsste ich tot sein, um den zu bekommen, oder?«

Er sagte es nicht nur zum Scherz. Seine Kameraden waren tot. Hoffman erwiderte darauf nichts. Es musste ihm ebenso zusetzen, Benjafield, Young und Morgan verloren zu haben und die Pesang-Soldaten, die er schon Jahre gekannt hatte, manche von ihnen noch von der Belagerung von Anvil Gate. Heute Nacht konnte sich niemand siegreich fühlen.

»Aber ich bin es auch nicht«, sagte Hoffman schließlich. »Oder Timiou oder Shim oder der Rest seiner Jungs. Alles dank Ihnen.«

»Ich bin kein Held.« Dom wollte einfach nur nach Hause zu Maria und den Kindern. »Und was passiert wegen der anderen? Bekommen die einen Gong?«

Hoffman sah aus, als würde er gleich etwas sagen, aber er nickte bloß und lehnte sich schweigend neben ihm an die Reling. Hoffman war ein anständiger kommandierender Offizier, aber er war sonst nicht der gesellige Typ. Irgendetwas hing in der Luft.

Dom wusste es mit Sicherheit, als Marcus aus dem Raven trat. Er wartete darauf, dass auch Carlos aussteigen würde, aber als sich das Hangardeck mit dem Abtransport der Verwundeten leerte, spürte er, wie sein Hirn abschaltete und sich eine schreckliche Weite über dem Hangardeck ausbreitete, so als wäre er rücklings gegen ein entferntes Schott katapultiert worden. Sergeant Mataki blieb für einen Moment bei Marcus stehen, redete ruhig auf ihn ein und klopfte ihm dann auf den Rücken, bevor sie zu Hoffman ging.

»Bernie«, grüßte Hoffman. »Schön, Sie zu sehen.« Er drehte sich zu Dom. »Ich werde heute Nacht nicht schlafen können, wenn Sie also reden möchten wissen Sie, wo Sie mich finden.«

Dann schüttelte Sergeant Mataki Doms Hand und ließ sie für ein paar Sekunden nicht mehr los. Ja, irgendetwas war schief gelaufen.

Ihn hat’s übel erwischt. Er hat einen Arm oder ein Bein verloren. Sie haben ihn auf die Kalona gebracht.

Dom wollte sich nicht vom Fleck rühren. Ein Teil von ihm glaubte, wenn er den ersten Schritt nicht tat, würde er das Unvermeidbare ewig hinauszögern können. Der andere Teil riet ihm, sich der Sache zu stellen, da sie sich nicht in Luft auflösen würde. Er ging los und traf Marcus auf halbem Weg.

Wir werden uns um Carlos kümmern. Er wird es verkraften. Das ist nicht das Ende der Welt.

»Dom …« Marcus blieb mitten auf dem Deck stehen. Er sah fürchterlich aus. Er zog sein Kopftuch ab, zerknüllte es in seiner Faust und starrte darauf, als würde er um Worte ringen. »Dom, es tut mir leid. Es tut mir leid.«

Weiter kam er nicht – und weiter musste er auch nicht kommen. Dom hörte sich selbst sagen, »Nein, nein, nein, nicht Carlos …«, aber es war nicht real. Sein Gesicht war taub. Sein Mund wollte nicht funktionieren.

Er hatte sich geirrt. Es war das Ende der Welt.

 

HOUSE OF SOVEREIGNS, JACINTO; FÜNF WOCHEN SPÄTER

In den Pendelkriegen wurden Medaillen rasch verliehen und übergeben. Die Koalition war nach beinahe achtzig Jahren sowohl in der Kriegsführung als auch in der Verwaltung äußerst effizient geworden und wollte – zumindest ging Hoffman davon aus – ihre Auszeichnungen vergeben, während die lebendigen Empfänger noch in eben dieser Verfassung waren, damit sie die Ehre mit ihren Angehörigen teilen konnten.

Außerdem machte es sich besser in der Berichterstattung durch die Medien. Hoffman bemerkte dies, als er auf den Beginn der Medaillenverleihung wartete.

Die meisten Gears, denen der Embry Star verliehen wurde, konnten nicht anwesend sein, um den Augenblick zu genießen. Hoffman stand auf der Liste der lebenden Exemplare, zusammen mit Dom Santiago und Marcus Fenix, und statt stolz zu sein, war es ihm peinlich, überhaupt gekommen zu sein. Margaret meinte, die Beförderung wäre längst überfällig gewesen; Hoffman gab einen Scheiß drauf. Sie war wütend gewesen, weil er nicht wollte, dass sie bei der Zeremonie dabei war. Aber ein Lieutenant ES tat nichts, außer Akten zu unterschreiben, und sie in ihrem besten Ausgehkleid mitzubringen, war deshalb für seinen Geschmack zu viel des Guten. Es änderte rein gar nichts. Es entfernte ihn nur einen weiteren Schritt von dem, wofür er sich ursprünglich verpflichtet hatte: von der Front.

Hoffman wartete zusammen mit den anderen Ehrenträgem in der widerhallenden Vorhalle, einem wahren Wald aus glatten Marmorsäulen, deren satte rotbraune Färbung den Eindruck verstärkte, man sei unter kräftigen Bäumen unterwegs. Gemälde der Allväter in schnörkellosen vergoldeten Rahmen zierten die Wände. Kunstvoll verzierter Stuck mochte für andere öffentliche Gebäude das Richtige sein, aber hier zog die COG eine Grenze und hatte eine schlichte Hochburg der asketischen Selbstaufopferung und der Vernunft errichtet.

Die Gears, die sich in bester Paradeuniform in kleinen Grüppchen versammelt hatten, stammten aus unterschiedlichen Schlachten, nicht nur aus der Operation Leveler. Es waren auch Witwen und Kinder anwesend – und auch ein paar Witwer – in schicken zivilen Kleidern und Anzügen, die den Bühnenanweisungen folgen und die Medaillen für die Kameras mit gebührendem, stoischem Stolz annehmen würden. Eines der Kinder trug selbst Uniform: Anya Stroud. Wie zur Hölle konnte irgendjemand damit fertig werden, der eigenen Mutter bei einem derartigen Tod zuzuhören? Sie verdiente selbst eine Medaille, einfach nur dafür, dass sie es geschafft hatte, den Rest ihrer Funkwache durchgehalten zu haben. Sie sprach mit Marcus und Dom, hatte den Blick gesenkt und war kreidebleich, und die beiden legten ihr schützend die Hände auf die Schultern. Sie stellten sich so hin, dass die Kameras sie nicht einfangen konnten. Das sagte alles.

Hoffman schwor, wenn irgendwelche Medienfuzzis, die sich in der Vorhalle herumtrieben, dieses Bild aufnahmen, würde er sie jagen und ihnen ihre Kameras so tief in den Arsch rammen, dass sie ihre Backenzähne filmen konnten.

Scheiße, ohne das Kopftuch sieht Marcus Fenix wie ein Kind aus. Und er ist eines.

Hoffman nahm die Medien als notwendiges Übel hin, in etwa so wie Fliegerangriffe, aber das bedeutete nicht, dass es ihm gefallen musste. Die Schreiberlinge gingen von Gruppe zu Gruppe und machten ihre Interviews, bevor die eigentliche Zeremonie begann, und Hoffman betete, sie würden nicht zu ihm kommen.

Aber natürlich taten sie es. Ein höflicher, aber schmächtiger junger Mann, der eindeutig nicht das Zeug zu einem Gear hatte, ging ihn geradewegs an. Die Kategorie VOM DIENST FREIGESTELLT stand ihm fett auf die Stirn gestempelt.

»Zieh Leine, Parasit«, sagte Hoffman. »Warum berichtest du nicht darüber, wie es aussieht, wenn die Feier vorbei ist und die Leute versuchen, ihre Kinder allein großzuziehen?«

Das musste man dem kleinen Schreiberling lassen: er zuckte weder zusammen, noch zögerte er. Er musste sich wohl schon frühzeitig in seinem Job gegen Beleidigungen abgehärtet haben. »Sie klingen, als würden Sie den Krieg nicht unterstützen, Colonel.«

»Selbstverständlich tue ich das nicht«, knurrte Hoffman. »Ich unterstütze es, Kriege zu gewinnen. Der einzige Grund, aus dem man in den Krieg zieht, ist, ihn so schnell wie’s geht zu beenden. Das ist kein verdammtes Hobby.«

Aber ich kenne sonst nichts. Ich kann mir keine andere Lösung vorstellen.

Dalyells PR-Schakale waren auf der Jagd. Eine von ihnen nahm Hoffman aufs Korn und packte ihn am Arm, während ihr Kollege den hektisch kritzelnden Journalisten aufs Feld schickte, um einen Zwischenfall zu unterbinden.

»Colonel Hoffman, das ist nicht sonderlich hilfreich«, sagte sie. »Sie wissen doch, wie verfälscht wir wiedergegeben werden.«

»Tut mir leid, Ma’am, bin ich von der Botschaft abgewichen?« Er trat ihr nur ein klitzekleines Stückchen zu nahe. Er sah sich eigentlich nicht als brutalen Kerl, aber er behandelte seine weiblichen Gears genauso wie die Männer und das würde er auch für irgendwelche zivilen Sesselpupser nicht ändern. »Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Muss wohl daran liegen, dass ich die Hälfte meiner Männer verloren habe.«

Aber Hoffman war auch nicht das, was die Medien wirklich wollten. Sie hatten ihr perfektes Bild bereits im Visier: Dom Santiago, ein erschreckend junger Held, der die Medaille seines gefallenen Bruders zusammen mit der eigenen entgegennahm, und daneben sein ebenso heldenhafter Freund aus Kindheitstagen, Sohn des heiligen Adam Fenix, der arme, erschütterte Marcus mit seinen brandneuen Sergeant-Streifen und dem blutleeren, verfolgten Blick. Es war das ironische Bild von Tyrans Besten und Tapfersten, in deren Gesichtern sich deutlich die Tragödie widerspiegelte, ein Bild, das jeden emotionalen Knopf auf der Publikumstastatur drücken würde. Und sie konnten sogar noch ein hübsches Blondchen mit dem Embry Star ihrer heldenhaften Mutter dazuschneiden.

Es war der Fünf-Sterne-Jackpot der Titelseiten und Abendnachrichten.

Aber es ist wahr. Es ist alles wahr. Es ist tragisch. Es sind gute Jungs und Mädels. Es sollte nicht so sein, aber es ist so, und was sie getan haben, verändert bereits jetzt den Verlauf des Krieges. Sie haben das vollbracht.

Die Zeremonie verlief kurz und zurückhaltend. Der Vorsitzende Dalyell und der Stabschef hatten jede Menge Medaillen zu verteilen, vom Embry Star bis zur Militärmedaille der Allväter. Hoffman sah Dalyell tief in die Augen, als er vor ihm Haltung annahm.

»Überwältigender Mut, Colonel«, sagte Dalyell und streckte ihm seine Hand entgegen. »Noch nie in der Geschichte der Koalition wurden für eine einzige Operation so viele Sterne verliehen.«

Hoffman schüttelte die Hand des Vorsitzenden nicht. Er wusste, dass diese Beförderung seine letzte sein würde und dass es deshalb alles wert wäre, diesen einen Schuss abzufeuern.

»Ich nehme diese Auszeichnung an im Namen aller Pesang-Soldaten, denen nicht die Anerkennung zuteil wurde, die ich empfohlen habe«, sagte er und sah zu, wie sich Dalyells Gesicht verhärtete. »Pesang ist ein williger Alliierter und kein erobertes Territorium. Sie haben sich freiwillig unserem Krieg angeschlossen. Daher ist dies für Sergeant Bai Tak und seine Landsmänner.«

Oh ja, Hoffmans Karriere war beendet. Er konnte es in Dalyells Augen sehen. Und er war vollkommen im Reinen damit. Er trat in Übereinstimmung mit dem Programm elegant zur Seite, ging dann hinaus auf den Vorplatz und starrte mit vor Wut pochendem Herzen hinauf in den blauen Himmel. Als er an der Medaille herumfummelte, um sie von seiner Jacke zu lösen, zerfransten ein paar Fäden und er fluchte.

»Könnten Sie ihren Stern hochheben, Colonel?«, fragte ein Fotograf. Er hatte den Typen nicht einmal kommen hören. Wie ein Pesanga. »Nur ein kurzes Foto.«

Der arme Bastard machte nur seinen Job. »Nein, verdammt noch mal, kann ich nicht.«

Und er konnte nicht einmal erklären, warum. Die Mission war Verschluss-Sache. Die Medien wussten nichts über die Operation Leveler, was über »die Zerstörung einer feindlichen Einrichtung und Rettung von Mitgliedern der COG trotz überwältigenden Widerstands« hinausging und sie würden auch keine weiteren Informationen bekommen, bis es der Koalition vielleicht Jahre später einmal in den Kram passte. Aber die Medien waren solche Restriktionen gewöhnt. Schließlich befand man sich im Krieg. Sie waren an Helden gewöhnt, die nichts erklären konnten, und hatten gelernt, niemals zu viele Fragen zu stellen.

Hoffman setzte sich auf eine Steinbank im Garten des Grabmals der Unbekannten. Auf der anderen Seite des Kiesweges, eingerahmt von einer Miniatur-Hecke von exakt zwanzig Zentimetern Höhe, befand sich ein neues Grab mit einem frisch gravierten, glänzenden Grabstein, frei von Flechten und Verwitterung: PRIVATE CARLOS BENEDICTO SANTIAGO, ES, 26 RTI – GEFALLEN BEI ASPHO FIELDS, OSTRI, 15TER TAG DES DUNSTES, 77STES JAHR DES KRIEGES, ALTER 20.

»Das ist dein Schicksal, Private«, sagte Hoffman. »Dein ganzes Leben in fünf Zeilen.«

Carlos’ Familie war nicht erschienen, ebenso wenig Adam Fenix oder Doms Frau, aber sie hatte auch zwei Kinder, um die sie sich kümmern musste. Hoffman machte niemandem aus der Familie Santiago einen Vorwurf daraus, ihren Kummer aus den Nachrichten herauszuhalten. Er saß da und sah zu, wie die Sonne über den Grabstein wanderte, bis schließlich Fenix und Dom den Kiesweg entlangkamen und ihn ansahen, als wäre er ein Eindringling.

»Ich gehe besser«, sagte er.

»Nicht nötig, Sir.« Dom hielt seinen Embry Star in dem kleinen roten Lederetui fest umklammert. »Wir veranstalten heute Abend ein Dinner. Alle kommen, sogar Kadett Stroud und Professor Fenix. Möchten Sie auch kommen?«

»Das ist sehr großzügig von Ihnen, Private Santiago.« Hoffman sah für einen Augenblick an ihm vorbei, um Fenix anzuschauen, aber der blickte nur mit gewissenhaft starrem Gesicht auf das Grab. »Aber ich muss ablehnen. Ich bin auf Ehefrau-Beschwichtigungs-Mission. Doch es wäre mir eine Ehre, schon bald mal ein Bier mit Ihnen zu trinken.«

Hoffman stand auf, schüttelte ihnen die Hände und ging langsam zum Stabswagen, der immer noch am Haupttor auf ihn warten würde. Aber er überlegte, ob er nicht einen Bogen darum machen und zu Fuß durch die Stadt gehen sollte, um seine Gedanken zu ordnen und darüber nachzudenken, ob er seine Chancen, jemals wieder befördert zu werden oder einen anständigen Posten zu bekommen, endgültig versenkt hatte. Was soll’s? Was spielt es für eine Rolle? Lieber bin ich wieder Unteroffizier. Er blieb stehen, um einen Blick zurück zu Marcus und Dom zu werfen.

Bis auf die Schlussfolgerung, dass er ein erstklassiger Soldat war, war sich Hoffman nie ganz sicher gewesen, was er von Marcus Fenix halten sollte. Was jedoch auch immer in seinem Kopf vorgehen mochte, blieb ein Geheimnis, und Hoffman fühlte sich unbehaglich in Gegenwart von Leuten, deren Beweggründe unergründlich waren.

Bis jetzt zumindest.

Fenix kniete nieder und fing an, mit seinem Messer in den weißen Granitkies auf dem Grab zu stechen, bis er ein Loch ausgehoben hatte. Er brauchte eine Weile dazu. Das Schauspiel verstörte Hoffman auf seltsame Weise und doch … bemitleidete er den Jungen. Hoffman sah zu, bis sein Adjutant mit knirschenden Schritten den Kiesweg entlangkam.

»Colonel, Ihr Wagen wartet.«

Der Rang klang neu und unbehaglich in seinen Ohren. »Ich weiß.«

»Was tut er da, Sir?«

Für einen Augenblick verspürte Hoffman einen unerklärlichen Beschützerinstinkt. »Hören Sie, fahren Sie allein zurück zum Hauptquartier. Ich komme allein zurück. Gehen Sie nur.«

Falls Fenix wusste, dass er beobachtet wurde, so schien es ihm egal zu sein. Er wischte sich den Staub von den Händen und senkte, immer noch kniend, den Kopf. Nach einer kurzen Weile nahm er den Embry Star von seiner Jacke, legte ihn in das Loch in Santiagos Grab und schaufelte die Erde und den Kies wieder zurück an Ort und Stelle.

Es traf Hoffman wie eine Ohrfeige. Für einen Moment verschlug es ihm buchstäblich den Atem. Er konnte nicht einmal schlucken und war nicht nur den Tränen nahe, sondern befand sich kurz davor, jeden Fixpunkt zu verlieren, an den er sich je in seinem Leben geklammert hatte. Es bestätigte, dass er getan hatte, was er tun musste, und dass er kein verrückter Verlierer war, der das Bisschen, das er erreicht hatte, einfach wegwarf.

Du würdest das nicht verstehen, Margaret. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich es erklären könnte.

Hoffman ging zurück in sein Büro, packte seinen Embry Star in eine kleine Schachtel und setzte sich hin, um erneut Bai Taks Witwe zu schreiben. Der Bankscheck, den er zusammen mit dem Embry Star dem Umschlag beilegte, würde für Bergbauern, die versuchten, im ländlichen Pesang über die Runden zu kommen, ein Vermögen darstellen.

 

REDOUBT HOTEL, EAST BARRICADE, SPÄTER AM SELBEN TAG

Es war ein schmerzvoller, leidgetränkter Abend.

Doms Eltern verabschiedeten sich noch vor dem Dessert, um den Babysitter abzulösen, und sie sahen nicht so aus, als ob sie es bedauern würden. Das Hotel war schon in guten Tagen nicht ihr Fall und jetzt, da sie noch immer jede Nacht um Carlos weinten, erst recht nicht.

Doms Fall war es auch nicht. Wegen des Silberbestecks und den gestärkten weißen Tischtüchern hatte er ständig Angst, etwas zu verschütten, aber letzten Endes waren es die untertänigen Kellner, die ihn am meisten erschreckten. Er konnte nicht glauben, dass irgendjemand diese Arbeit für Leute erledigte, die einem nicht einmal in die Augen sahen, wenn man sie bediente. Er und Marcus saßen in ihren formellen Uniformen da, an denen nur die Bänder der Embry Stars sichtbar waren, um zu zeigen, worum sich dieser Tag drehte, und Marcus strahlte dabei noch mehr Missbehagen aus, als Dom verspürte.

Professor Fenix meinte es gut, da war sich Dom sicher, aber er war auf solche Dinge einfach nicht eingerichtet. Das Essen verlief zum größten Teil in aller Stille. Es war nicht anders möglich, denn das Gewicht des gemeinsamen Verlusts wog schwer wie ein gefräßiges Gespenst, das jede Unterhaltung mit lautem Schweigen verschlang und nicht bereit war, irgendjemanden sprechen zu lassen.

An den anderen Tischen klirrten Gläser, ein Geräusch, das von den schweren Vorhängen des Restaurants gedämpft wurde.

»Wirst du Carlos’ Medaille dem Regimentsmuseum leihen?«, fragte Professor Fenix.

Dom hatte keine Ahnung, dass so etwas überhaupt möglich war. Das war alles Teil der von Büchern gesäumten, antiquitätenschweren Welt, in der Marcus aufgewachsen war. »Nein, Sir. Ich habe sie Mom und Dad gegeben.« Er hoffte, Marcus’ alter Herr würde nicht fragen, was er mit seiner eigenen tun würde. Er wollte, dass Benedicto sie bekam. »Sie steht ihnen jetzt rechtmäßig zu.«

»Anya?«

Sie sah für einen Moment verfolgt aus, auf ihrem Platz zwischen Marcus und seinem Vater, ohne eine Möglichkeit, der Frage zu entkommen. In Anbetracht des Nervenbündels, das sie immer zu sein schien, wenn ihre Mutter in der Nähe war, hatte Dom eigentlich erwartet, sie würde zusammenbrechen. Sie war sowieso ein stilles Mädchen – soweit er das anhand ihrer gelegentlichen Kontakte beurteilen konnte. Aber irgendetwas in ihr hatte sich verändert.

»Nein, Sir«, sagte sie mit fester Stimme. »Sie ist alles, was mir von ihr geblieben ist, und ich will nicht, dass Fremde sie anstarren. Ich habe genug von öffentlicher Trauer.«

Das war tatsächlich eine völlig neue Anya. Selbst Marcus schien überrascht. Langsam und vorsichtig warf er ihr einen Blick zu, so wie er es tat, wenn er glaubte, niemand würde es bemerken, und Dom wünschte sich, die beiden könnten einfach nur wie alle anderen sein und zusammen ausgehen oder so.

»Ich verstehe«, erwiderte der Professor. »Entschuldigen Sie die Unhöflichkeit.«

Es war alles so steif und formell. Eduardo Santiago hätte ihr eine tröstliche Umarmung geschenkt, die Umarmung eines Vaters, den sie nie gehabt hatte. Major Stroud hatte sie allein großgezogen. Kein Wunder, dass Marcus sie anzog, sie beide trugen das einsame, schlaue Kind in ihren Genen.

Scheiße, der alte Fenix kann nicht mal mit Marcus über seine Mom reden. Und da erwarte ich von ihm, dass sich Anya an seiner Schulter ausheulen darf?

Dom versuchte, wieder über Carlos nachzudenken, ohne dabei in den endlosen Wiederholungen der letzten paar Tage zu versinken. Das Letzte, was er zu ihm gesagt hatte, das letzte Mal, an dem sie tatsächlich miteinander gesprochen hatten, statt sich nur Nachrichten zukommen zu lassen – Dom konnte sich nicht mehr daran erinnern.

Trauerfälle waren ein doppelter Schlag. Da war der Schmerz des Verlusts, der einen nie allein ließ, nicht einmal, wenn man träumte, und dann drehte einem dieser Schmerz auch noch das Messer in der Wunde herum, indem er einem ins Ohr flüsterte, dass er einen schon das ganze Leben lang gewarnt hatte, aber man hatte nicht zuhören wollen – du wirst mich vermissen, wenn ich nicht mehr bin, mach das Beste aus jedem Tag, denn es könnte der letzte sein, du würdest alles für einen letzten Augenblick geben, um ihnen zu sagen, was du gefühlt hast …

Es war die reine Wahrheit. Niemand konnte behaupten, nicht zu wissen, was auf einen wartete. Aber alle dachten, es würde niemals ihnen zustoßen oder dass es, wenn es soweit wäre, irgendwie anders sei.

Das war es nicht.

Maria ergriff unter dem Tisch Doms Hand. Alles, was er in diesem Augenblick wollte, war, nach Hause zu gehen, die Tür abzuschließen und – nach Hause. Ihm fiel ein, dass es das Haus seiner Eltern war. Ja, dort musste er jetzt hin, mit Maria und den Kindern, nur für ein paar Nächte bei der ganzen Familie, bei jenen, die er liebte. Das Bedürfnis löste Schuldgefühle in ihm aus. Denn Marcus brauchte ihn auch, obwohl er es niemals zugegeben hätte.

»Möchte noch jemand einen Kaffee?«, fragte Professor Fenix schließlich. »Maria? Anya?« Auf dem Tisch stand eine unübersichtliche Ansammlung von Gläsern, alle halb voll -Wasser, unterschiedliche Weine, auch Brandy –, aber eigentlich trank niemand. Anya hatte zwei Gläser Wein geschafft, Marcus drei. Dom meinte, das sei für beide recht viel.

»Ich glaube, ich muss jetzt zurück«, sagte Anya. »Vielen Dank, Professor. Dieses Beisammensein war sehr tröstlich.«

Wir müssen hier raus. Ich halte es nicht mehr aus.

Dom ertappte sich bei dem Wunsch, Anya wäre die Richtige für Marcus, denn einen Verlust ertrug man leichter, wenn man sich auf jemanden stützen konnte, der einen liebte. Vor Aspho hatte sie sich definitiv für ihn interessiert und Marcus starrte ein bisschen zu lange auf ihre Beine, wenn sie nicht hinsah.

Jetzt schienen sie nur noch verbunden durch eine Art Erleichterung darüber, sich nicht gegenseitig erklären zu müssen, wie schlecht es ihnen ging. Vielleicht waren besonders begabte Kinder, die im Schatten ihrer überlebensgroßen Eltern aufwuchsen, dazu verdammt, die alltäglichen intimen Momente, die Normalsterbliche als gegeben hinnahmen, niemals unbeschwert erleben zu können.

Sie stand auf. »Wirst du zurechtkommen?«, fragte Dom, der sie am Ellbogen nahm. Sie schien immer Schwierigkeiten zu haben, in hochhackigen Schuhen herumzustaksen, und jetzt, da sie ein, zwei Drinks genommen hatte, war sie etwas wackelig auf den Beinen. »Marcus, ich werde Anya ein Taxi rufen und sie zurück in die Offiziersmesse begleiten.«

»Danke, es geht schon«, sagte sie. »Ich muss sowieso noch in Moms Wohnung vorbeischauen.« Sie wandte sich an Maria. »Dein Dom ist ein Hauptgewinn. Wirklich.«

Es war ein seltsamer Satz für Anya. Dein Dom. Beinahe wirkte es, als wolle sie klarstellen, dass sie nur gute Freunde waren und dass sie keinerlei Absichten hegte. Vielleicht behandelten sie alle anderen wie eine Verführerin.

Marcus trat dazwischen.

»Ich werde mich um sie kümmern«, sagte er. Und dann bot er ihr, völlig untypisch für ihn, nach alter Schule seinen Arm an, als wäre er darauf gedrillt worden, dass dies die Art und Weise war, wie man mit einer Dame umging. »Wir kommen zurecht.«

Dom rief trotzdem das Taxi und steckte dem Fahrer ein paar Scheine zu. »Die beiden da«, sagte er und zeigte auf Anya und Marcus. »Bringen Sie sie, wohin immer sie wollen.«

Dom und Maria gingen zurück zum Haus seiner Eltern und er verbrachte die Nacht zusammengerollt mit ihr auf dem Sofa, Benedicto und Sylvia in ihren Armen. Er konnte es nicht ertragen, die Augen zu schließen oder sie loszulassen, und war sich nicht sicher, wie er wieder seinen Dienst aufnehmen sollte, weil er seiner Familie nicht eine Sekunde den Rücken zukehren wollte, aus Angst, sie könnten nicht mehr da sein, wenn er sich wieder nach ihnen umschaute.

»Sie hat recht«, murmelte Maria mit geschlossenen Augen. »Du bist wirklich ein Hauptgewinn.«

»Hey, das ist nichts in der Art.«

»Ich weiß.«

»Wir standen nur im gleichen Raum und haben drauf gewartet, die Medaillen zu bekommen, und irgendwie … ich weiß auch nicht. Ich, sie und Marcus. Freundschaft. Irgendwas hat zusammengepasst.«

»Also, Marcus und Anya …«, meinte Maria. »Ich weiß, du hältst es für eine gute Idee, aber länger als heute Nacht wird das mit den beiden nichts werden. Versuch nicht, es für sie in Ordnung zu bringen. Außerdem ist sie eine Offizierin und er Soldat. Das endet noch mit einer Klage.«

»Nicht, wenn sie sich auf dienstfreie Zeit beschränken.« Dom hasste es, wenn Hoffnungen zunichtegemacht wurden.

Er wollte Marcus am nächsten Morgen Hals über Kopf verliebt sehen und nicht mit hängendem Kopf, damit er ihn nicht anstupsen und fragen musste, ob alles in Ordnung sei. »Außerdem ändern sich die Dinge. Die Menschen ändern sich.«

Das Leben würde jetzt für immer so weitergehen. Es gab vor Aspho und nach Aspho. Dom lebte jetzt im Nach-Aspho und es war ein fremdes, neues Land, in dem die einzigen Orientierungspunkte seine Familie und Marcus Fenix waren.

Und selbst die würden nie wieder dieselben sein.