KAPITEL 5

 

Die meiste Zeit über sehe ich Marcus überhaupt nicht. Ich weiß einfach nicht, was für ein Mensch er ist, und das ist allein meine Schuld. Ich habe ihn angelogen, wegen dem, was mit Elain passiert ist, und je länger die Lüge andauert, desto schwerer fällt es, wieder ins Reine zu kommen. Kinder spüren es, wenn man sie anlügt. Dann schwindet ihr Vertrauen und stirbt ab.

 

(ADAM FENIX ÜBER SEINE ÄNGSTE BEZÜGLICH SEINES SOHNES IN EINEM VERTRAULICHEM GESPRÄCH MIT EINEM FREUND)

 

HAUS DER FAMILIE SANTIAGO, JACINTO; ACHTZEHN JAHRE ZUVOR, VIER JAHRE VOR TAG A

Dom saß mit gesenktem Kopf auf der Stuhlkante, stützte die Ellbogen auf die Knie und wartete auf die Explosion.

Sie blieb aus. Vielleicht wäre es andersherum einfacher gewesen.

»Du bist sechzehn«, sagte sein Vater schließlich. »Du bist grade mal sechzehn.«

»Dad, ich kann mich da nicht drum drücken.« Dom konnte Bewegungen vor der Tür zum Wohnzimmer hören. Mom musste gelauscht haben. »Ich muss das Richtige tun.«

Eduardo Santiago ging vor seinem Sohn in die Hocke, um ihm in die Augen sehen zu können. »Du willst wirklich ein kleines Mädchen heiraten, wo du selber noch ein Kind bist?«

»Ich will nicht, dass Maria das allein durchstehen muss«, sagte Dom. Aus irgendeinem Grund galt sein nächster Gedanke Marcus. »Und ich will auch nicht, dass mein Kind von Fremden adoptiert wird.«

Dom wusste nicht, woher diese Worte kamen. Für einen Augenblick kam es ihm vor, als würde er neben sich stehen und miterleben, wie er sich für seinen Vater anhörte. Er klang wie ein kleiner Junge, der irgendetwas wiederholte, was er bei einem Erwachsenen aufgeschnappt hatte, ohne überhaupt zu wissen, was es bedeutete.

Aber ich meine es ernst. Ich will Maria heiraten. Das wollte ich schon immer. Irgendwie ist es jetzt nur … viel dringender.

»Hat sie ihren Eltern gesagt, dass sie schwanger ist?«

»Nein.« Dom mochte Marias Eltern, aber er hatte ihr Verständnis noch nie so sehr auf die Probe stellen müssen wie jetzt. »Ich habe vor, bei ihr zu sein, wenn sie es tut. Ich sollte es ihnen sagen.«

Eduardo sah Dom eine Weile schweigend ins Gesicht und fing dann langsam an zu lächeln. »Schön, genau das würde ich von einem Mann erwarten.«

»Ich habe Angst, Dad.«

»Ich weiß.«

»Bist du wütend auf mich?«

»Nicht wütend. Ich hätte es lieber gesehen, wenn die Dinge anders gelaufen wären, aber das sind sie nicht, also … werden wir dir helfen, so gut wir können.«

»Es tut mir leid. Ich habe euch enttäuscht.«

Dom war sich nicht sicher, weshalb er glaubte, sein Vater würde wütend auf ihn sein, denn er hatte noch nie die Beherrschung verloren. Aber dieses Mal war die Sache so ernst, dass die alten Regeln nicht gelten konnten. Er wirkte in diesem Moment eher traurig und sentimental, so wie in den Augenblicken, in denen er sich an tote Kameraden aus der Armee erinnerte. Er legte Dom die Hände auf die Schultern.

»Du wirst mich niemals enttäuschen, Sohn«, sagte er ruhig. »Ich war noch nie so stolz auf dich wie jetzt. Es ist leicht, mutig zu sein, wenn alles im grünen Bereich ist, aber aus welchem Holz ein Mann wirklich geschnitzt ist, zeigt sich darin, wie er sich verhält, wenn er in der Klemme steckt.«

Dom kam sich in diesem Moment kein bisschen wie ein Mann vor und die Bestätigung, dass er tatsächlich in der Klemme steckte – sein Vater redete nie um den heißen Brei herum – zog ihm die Eingeweide zusammen, so wie in dem Augenblick, in dem Maria ihm gesagt hatte, dass ihre Periode ausgeblieben war. Er fühlte sich wie ein völlig überfordertes Kind, wünschte sich, die Zeit zurückdrehen zu können, wünschte sich, er hätte alles anders gemacht. Hatte er aber nicht. Damit musste er leben.

Es ist bloß die Zeit. Es ist einfach nur früh. Wir hätten so oder so geheiratet und eine Familie gegründet. In drei, vier Jahren wird es genau so sein, wie es sein sollte.

»Ich werd’s Mom sagen«, meinte er schließlich. »Dann gehe ich zu Marias Eltern.«

»Möchtest du, dass ich mitkomme?«

»Danke, aber …«

»Das Reden kannst du übernehmen. Ich werd einfach nur hinter dir stehen.«

Eduardo Santiago wusste immer, wie er seinen Kindern Schützenhilfe leisten musste. Dom sehnte sich danach, einmal das gleiche geschickte Händchen mit seinen eigenen Kindern zu haben, immer da zu sein, wenn er gebraucht wurde, schlau genug zu sein, immer zu wissen, wann – und wie weit – er sich zurückhalten musste. Ein Baby unterwegs, stellte ein Problem dar, aber Doms Ängste wichen schnell einer begeisterten Zufriedenheit, die er aus der Einsicht zog, dass seine Familie immer für ihn da wäre und dass er fest vor hatte, ihnen keine Last zu sein.

»Ihr Dad wird durchdrehen«, sagte Dom.

An die Tür der Familie Flores zu klopfen, war so ziemlich das Härteste, was Dom jemals zu tun gehabt hatte, und wie sich herausstellte, war es Marias Mutter, die am schlimmsten ausnippte.

»Also, im Eier haben, bekommst du von mir ’ne Eins, Dom«, sagte Marias Vater, während er seiner schluchzenden Frau mechanisch die Schultern tätschelte. »Jetzt solltest du sie besser heiraten.«

Sie brauchten die Zustimmung ihrer Eltern. Weder Dom noch Maria waren alt genug, um ein Bier kaufen zu dürfen, aber andererseits kämpften da draußen Soldaten an der Front, die ebenfalls nicht alt genug dazu waren.

Dom schwor sich, dass dies die letzte Dummheit bleiben würde, die er in seinem Leben beging. Er würde sein Studium weiterführen, sich einen Halbtagsjob suchen und für seine Frau und seine Kinder etwas aus sich machen. Es würde nicht leicht werden. Aber vielleicht ging es gerade darum; wenn man einen Fehler gemacht hatte, musste man sich etwas mehr ins Zeug legen, um ihn wieder gut zu machen, ansonsten würde man nicht das Geringste lernen.

Und Carlos würde in seiner COG-Uniform den Trauzeugen spielen. Carlos schien immer alles richtig zu machen und Dom war entschlossener denn je, von seinem Beispiel zu lernen.

 

ANWESEN DER FAMILIE FENIX, JACINTO; VIER JAHRE VOR TAG A

Selbst wenn es keine Sicherheitskameras gegeben hätte, wäre es unmöglich gewesen, sich an Marcus’ Zuhause heranzuschleichen. Der Kies knirschte unter Carlos’ brandneuen Armeestiefeln.

»Stimmt es, dass man reinpinkeln muss, damit sie weicher werden?«, fragte Marcus.

Carlos blickte hinunter. »Nur bei Leder-Stiefeln. Nein, in diesen stecken zu viel Metallteile. Du musst sie zurechtbiegen, bevor sie dich zurechtbiegen.«

»Sieht aus, als würden sie gewinnen.«

Carlos hatte Schwierigkeiten, die Treppe raufzukommen. Er war immer noch dabei, sich an die dicken Sohlen und die eingeschränkte Bewegungsfreiheit der kniehohen Stiefel zu gewöhnen. »Wirst schon sehen. Mit voller Rüstung sehen die nach fetter Arschtreterei aus. Und sie funktionieren.«

Sie erörterten die Modetauglichkeit der Armeestiefel nur, um sich von dem abzulenken, was sie vor sich hatten. Es betraf nicht Carlos direkt, aber sein Magen zog sich trotzdem zusammen. Marcus’ alter Herr würde an die Decke gehen.

Die Villa der Fenix’ zu besuchen, verunsicherte Carlos mit jedem Mal mehr. Sie war weniger ein altes Haus, sondern vielmehr eine Feststellung. Sie besagte, dass sie schon immer hier gewesen war und auch für immer bleiben würde und das Insekten wie er ein so kleiner Furz im Wind waren, dass sie sich nicht die Mühe machen würde, ihn auch nur zu beachten. Die gewaltigen Säulen und das umständlich gemeißelte Tympanon legten ihm nahe, sich die Stiefel abzuputzen, bevor er, vorzugsweise durch den Lieferanteneingang, über die Schwelle trat.

Das war kein Haus, es war ein Mausoleum. Die Statuen in dem kunstvoll angelegten, geometrischen Garten, der sich so weit erstreckte wie ein Stadtpark, erschienen eher wie Grabsteine. Der Lärm von Jacinto – Verkehr, Stimmengewirr, das stete Brummen einer Stadt – blieb respektvoll draußen vor der hohen, mit Wein überwucherten Umfassungsmauer.

Es kam ihm vor, als wäre jedes Leben aus diesem Ort herausgesaugt worden, aber wahrscheinlich hatte es hier von Anfang an nicht viel davon gegeben. Carlos wollte lange genug bleiben, um Marcus den Rücken zu stärken, und dann sofort wieder verschwinden.

»Und du willst das immer noch durchziehen?«, fragte er.

Marcus starrte auf die riesige Doppeltür, so als wolle er sie mit seinem Willen öffnen. Der dunkelgrüne Lack war spiegelglatt und mehrere Schichten, Jahre, Generationen dick. Es war das Portal in eine fremde Welt, die Carlos nur flüchtig zu sehen bekam und nie richtig verstand.

»Klar.« Marcus nickte. »Mehr denn je.«

Man vergaß leicht, dass Marcus der letzte und einzige Sohn einer wohlhabenden Dynastie war. Carlos dachte nur ungern so über ihn; er war einfach Marcus, ohne irgendwelche Starallüren.

Professor Fenix wollte, dass Carlos ihn Adam nannte, so als sei er jedermanns Kumpel oder so, aber er würde immer ein Mann mit zig Titeln und Rängen bleiben. Carlos konnte sich nie überwinden, ihn so anzusprechen.

»Habe ich dich dazu gebracht?«, fragte Carlos. »Machst du das nur, weil ich es getan habe?«

Marcus schüttelte den Kopf. »Ich wusste schon vor Jahren, dass es das Richtige ist.«

Als Marcus die Tür hinter sich schloss, verflüchtigten sich Jacintos Geräusche und Gerüche und die beiden befanden sich augenblicklich in einer anderen Welt. Professor Fenix war nirgends zu sehen. Wie sollte in einem so riesigen Haus, in dem man sich so leicht aus dem Weg gehen konnte, ein normales Familienleben überhaupt möglich sein? Hier brauchten keine Streitigkeiten geschlichtet zu werden. Man konnte einfach davonlaufen und sich vor ihnen verstecken.

»Dad?« Marcus ging durch die Marmorhalle und rief die Korridore hinunter, die von ihr weggingen. »Dad? Wo bist du?«

Carlos hörte, wie sich Schritte näherten. Adam Fenix trat mit offenem Hemd und einem kleinen Notizbuch in der Hand aus einem der Türbogen.

»Ich hatte dich noch nicht zurückerwartet.« Er nickte Carlos zu. »Schön, dich zu sehen, Carlos. Wann geht’s mit der Grundausbildung los?«

»Nächste Woche, Sir.«

Marcus unterbrach. Dieses Mal verfiel er nicht wieder in seinen vornehmen Akzent, so als hätte er endgültig den Versuch aufgegeben, sich der Welt seines Vaters anzupassen. »Dad, wir müssen reden. Ich habe eine Entscheidung getroffen.«

Fast wäre es seinem Vater gelungen, seine Reaktion zu verbergen, aber genau wie bei Marcus verriet ihn sein rasches Blinzeln. Wahrscheinlich wusste er, was jetzt kam. Carlos rang mit dem Drang, die beiden allein zu lassen, aber er musste Marcus beistehen, auch wenn er keine Ahnung hatte, wie man jemandem bei einem vornehmen, großbürgerlichen Familienstreit, in dem nur Augenbrauen hochgezogen, aber nicht gebrüllt wurde, den Rücken stärken sollte.

»Geht es um das Thema, das wir bereits besprochen haben, Marcus?«

»Dad, ich lasse mich verpflichten.«

Professor Fenix nahm sein Notizbuch, drückte es mit beiden Händen ein paar Mal durch und sah es an, als würde er darauf warten, dass es auseinander fiel. »Nun, du kannst an der Akademie immer noch einen Technikkurs belegen«, sagte er. Nein, er hatte absolut nicht verstanden, was Marcus meinte. »Eine von der Armee finanzierte Ausbildung ist ebenso gut wie eine zivile. Für das Aufbaustudium könntest du dann an die LaCroix gehen und …«

»Nein, Dad. Keine Offizierslaufbahn. Kein Patent. Und ich werde auch auf keine Universität gehen.« Marcus holte tief Luft. »Ich sagte verpflichten. Ich werde ein ganz gewöhnliches Rädchen im Getriebe – ein Gear.«

»Oh, nicht schon wieder dieses Thema, Marcus …«

Carlos sagte nichts. In seiner Uniform fühlte er sich beinahe schuldig, so als hätte er ein Schild um den Hals, auf dem »SCHLECHTER EINFLUSS!« stand. Professor Fenix würdigte ihn keines Blickes.

»Es ist vorbei, Dad. Ich habe meinen Bescheid bekommen, mich beim Rekrutierungsbüro zu melden.«

»Es ist nicht vorbei. Wir müssen das besprechen. Du wirfst eine großartige Karriere fort.«

»Wir haben das schon besprochen.« Marcus baute sich zu seiner ganzen Größe auf. Das wirkte immer bedrohlich, auch wenn er es gar nicht darauf anlegte, einfach nur, weil er inzwischen so groß war. »Wenn du Waffen entwickelst, ist das also okay, aber wenn ich kämpfe, nicht? Carlos und die anderen können ihr Leben aufs Spiel setzen, aber für deinen Sohn ist dieser Job nicht gut genug?«

»Das habe ich nicht gesagt, Marcus.«

»Dad, ich muss das tun. Ich kann den Krieg nicht aussitzen.«

»Es gibt kein ›muss‹ bei der Sache. Niemand wird schlecht von dir denken, weil du nicht kämpfst.«

»Ich werde schlecht von mir denken. Und es ist die einzige Sache, die mir das Gefühl geben wird, am Leben zu sein.«

Eine grässliche, ungeschickte Stille trat ein. Eduardo Santiago hätte seine Söhne umarmt und gesagt, dass er mit allem, was sie taten, einverstanden sei. Professor Fenix schien nicht zu wissen, wie so etwas ging. Eine Weile lang sah er Marcus tief in die Augen, dann wandte er sich an Carlos.

»Kannst du ihn nicht zur Vernunft bringen? Du bist der einzige Mensch, auf den er noch hört.«

Oh Mann. »Sir«, sagte Carlos, »ich kann Ihnen nur sagen, dass ich mein Bestes geben werde, um dafür zu sorgen, dass Marcus in einem Stück zurückkommt.«

Adam Fenix sah aus, als wollte er einen letzten Versuch unternehmen, Marcus die Sache auszureden. Seine Kiefermuskeln zuckten, aber dann ließ er die Schultern hängen und fing wieder an, mit seinem Notizbuch herumzuspielen. Carlos spürte Schweiß auf seinem Rücken jucken, wagte es aber nicht, auch nur einen Muskel zu rühren. Er war … verlegen. Es war schrecklich, das Ganze mit ansehen zu müssen.

»Nun gut, ich kann dich nicht aufhalten«, erklärte Professor Fenix schließlich. »Und würde ich es dennoch versuchen, würde ich dich für immer verlieren, nicht wahr?«

Marcus wich der Frage aus und preschte an ihr vorbei. »Ich werde einhundert Prozent geben, Dad. Mach dir um mich keine Sorgen. Hör mal, ich werde zum Abendessen wieder zurück sein und …«

»Verdammt, ich muss einen Vortrag an der Universität halten.«

Sie sahen beide geschlagen aus. »Dann also ein anderes Mal, Dad«, sagte Marcus, als ob sie Geschäftskollegen wären, die eine Besprechung absagen mussten. »Ich muss los, Dad.«

Carlos hätte eine ordentliche Schlägerei vorgezogen, bei der alles ans Licht kam und abgefertigt wurde, damit endlich reiner Tisch war. Aber Leute wie die Familie Fenix schienen nicht auf die gleiche Art zu ticken. Carlos folgte Marcus den Kiesweg hinunter und dann trotteten sie ziellos und schweigend durch die Gegend, bis sie das Zentrum von East Barricade erreichten und dort ein Straßencafé fanden.

»Dom wird heiraten«, sagte Carlos schließlich. »Ich wollte dir nichts davon erzählen, bevor du die Sache mit deinem Dad nicht hinter dich gebracht hast. Maria erwartet ein Baby.«

Für einen Augenblick verlor Marcus seinen frostigen Gleichmut, nur ein kurzes Aufblitzen der Überraschung, aber bei ihm war das schon etwas Besonderes.

»Wow«, sagte er schließlich. »Wie haben deine Eltern das aufgenommen?«

»Ziemlich gut.«

»Wie will er sich das leisten? Schmeißt er die Schule?«

»Er musste Mom versprechen, dass er die Prüfungen abschließt. Du kennst Dom. Der kriegt das hin.«

»Er braucht Geld. Hör mal, wenn’s was gibt, von dem ich reichlich hab, dann Geld. Ich könnte …«

»Er kommt schon zurecht. Danke.« Carlos sah ein, dass sich das schroff anhörte, aber Dom würde niemals von irgendjemandem Geld annehmen. Er versuchte, die Abfuhr etwas abzuschwächen. »Scheiße, das war undankbar. Entschuldige, Marcus. Es ist nur so, dass Dom sich nicht als richtiger Mann fühlen würde, wenn er seine Familie nicht ohne Hilfe durchbringen kann. Hey, wenn’s mit der Zeit hinhaut, könnten wir beide vielleicht in Uniform bei der Hochzeit dabei sein. Mit Stil.«

»Wenn das ’ne Einladung sein soll, ja. Danke.«

»Als ob du ’ne Einladung brauchtest. Du bist ein Ehren-Santiago. Du gehörst zur Familie.«

Carlos lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und sah dem Kommen und Gehen der Zivilisten zu, die den Tag genossen. Der Krieg war weit von Ephyra entfernt, zumindest geografisch; emotional fand der Konflikt jedoch genau hier statt, in jedem Haushalt. Nach mehr als siebzig Jahren der Kampfhandlungen gab es kaum noch eine Familie, bei der nicht irgendein Mitglied im Krieg gekämpft hatte, immer noch diente oder in der Verteidigungsindustrie arbeitete. Jeder wusste um die Realität des Krieges. Niemand konnte ihn ignorieren. Niemand wollte das.

Ob wir um andere Treibstoffe kämpfen würden, wenn wir die Imulsion nicht entdeckt hätten? Um Wasser? Mineralien? Trashball?

Es schien keine Rolle mehr zu spielen. Feinde zu sammeln besaß eine eigene Trägheit, und die COG hatte reichlich davon. Carlos machte sich keine großen Sorgen um die Zukunft, weil sie ohnehin nur schwer vorstellbar war, aber jetzt hielt er die Zukunft tatsächlich in den eigenen Händen, zusammen mit einem Sturmgewehr. Er fühlte sich dadurch anders. Wie genau, versuchte er immer noch zu definieren.

Marcus studierte gedankenverloren die Oberfläche seines Kaffees. Er sprach nie viel von seinem Vater, aber Carlos nahm an, dass er sich wahrscheinlich nach Glückwünschen und Beistand zu seiner Entscheidung sehnte, obwohl er genau wusste, dass er sie nie bekommen würde. Vielleicht war es schon sein ganzes Leben lang so gewesen. Das hätte viel erklärte. Er musste unendlich viele Hürden nehmen, ohne je das erhoffte Lob zu bekommen.

»Sei mal ehrlich, Marcus.« Carlos knuffte Marcus mit dem Ellbogen und der Löffel auf seiner Untertasse fiel klappernd auf die metallene Tischplatte. »Machst du das nur, weil ich mich eingeschrieben habe oder um deinen Alten auf die Palme zu bringen?«

»Das musst du mich wirklich fragen?«

»Naja, schon. Ist ja nicht so, als würdest du mir alles haarklein erzählen. Ich muss mir ’ne Menge zusammenreimen.«

Marcus’ Schweigen verriet Carlos oft mehr als das, was er tatsächlich sagte. Jetzt starrte er wieder in seine Tasse.

»Weil es der einzige Ort ist, an dem ich mich zu Hause fühlen werde, mit Leuten, die mich verstehen«, sagte er schließlich.

»Scheiße, wenn dich irgendjemand versteht, dann können sie dich mir vielleicht erklären.« Carlos brachte ein Lachen zuwege. Ja, Marcus wünschte sich die allgemeine Kameradschaft des Armeelebens, aber er wollte auch mit seinem Kumpel zusammen sein. Carlos verstand das. Es war komisch, einen Typen vor sich zu haben, dessen Familie alles besaß und der trotzdem noch nach etwas suchte, das sie ihm weder kaufen, noch auf irgendeine andere Art geben konnten. »Das wird der absolute Hammer, ich spür’s.«

Erschossen werden, verwundet, verkrüppelt – mit solchen Gedanken konnte sich Carlos nicht aufhalten. Als Grund reichte das nicht aus, um zu Hause zu bleiben. Außerdem konnte niemand, der nicht bereit war, für sein Land zu kämpfen, etwas von ihm verlangen. Die Santiagos waren keine Schmarotzer.

Der Rest der Woche wurde zu einer Lawine aus unumkehrbaren, das Leben bestimmenden Entscheidungen. Carlos wartete im Rekrutierungsbüro darauf, bis Marcus die ärztliche Untersuchung hinter sich hatte. Er hörte Mitarbeiter, die sich hinter einer Reihe von Aktenschränken unterhielten.

»Das ist definitiv Major Fenix’ Sohn«, sagte eine Männerstimme. Wenigstens hier sah man im alten Fenix noch den Offizier und nicht den Wissenschaftler. »Der hätte direkt auf die Akademie gehen können. Vielleicht sogar die Generalstabsakademie.«

»Vielleicht will er einfach nur ein richtiger Gear sein«, erwiderte eine andere Stimme. »Nicht jeder wünscht sich den einfachsten Weg durchs Leben.«

Genau, sie hatten Marcus ganz gut eingeschätzt. Vielleicht war er gar nicht so undurchschaubar. Er schien unendlich stolz zu sein, die Uniform zu tragen, und Carlos musste zugeben, dass sie beide auf Doms Hochzeit ein verdammt gut aussehendes Duo abgeben würden.

Dom kam das gesamte Hochzeitsfest mit einem einzigen Glas Wein aus. Anscheinend hatte er Angst davor, was ein paar Gläser mehr mit ihm anstellen könnten. Es war komisch, ihn immer noch so nervös wie ein Kind zu sehen und gleichzeitig als verheirateten Mann, dessen eigenes Kind bereits unterwegs war. Carlos wusste, dass er ihn das letzte Mal in diesem Schwebezustand zwischen Junge und Mann erleben würde.

Er ist immer noch mein kleiner Bruder. Er weiß, dass ich immer für ihn da sein werde.

»Ich muss es noch mit Maria durchsprechen«, sagte Dom und drehte sein Glas in der Hand, »aber ich werde mir einen Ganztagsjob zulegen. Einen echten Job.«

»Mom wird dich umbringen. Trotzdem, Mechaniker ist ein anständiger Beruf …«

»Nein, ich werde mich verpflichten lassen.«

»Scheiße, Dom …«

»Es ist der Sold«, meinet Dom. »Das ist gutes Geld und ich habe jetzt eine Familie zu ernähren.«

»Klar ist es das. Ich glaub’s dir ja.« Carlos umarmte ihn stürmisch und zerknitterte seinen schicken Anzug. Er hatte gewusst, dass Dom früher oder später eintreten würde, aber so früh – na ja, wenigstens konnte er so weiter auf ihn aufpassen. »Dir geht’s immer nur ums Geld, was?«

Als der Frost kam, brachte Maria einen Sohn zur Welt, Benedicto, und als es taute, brach Dom die Schule ab und ließ sich verpflichten. Es war genauso unvermeidbar wie das Kommen und Gehen der Jahreszeiten, dachte Carlos. Manche Fesseln ließen sich nicht ablegen.

Die Santiago-Brüder – ob durch Blut oder ehrenhalber verwandt – würden für den Rest ihres Leben zusammenbleiben.