KAPITEL 9
Infanterie, Panzer, Artillerie – es handelt sich bei uns immer um Kanonen, größere Kanonen, Schiffe, um sogar noch größere Kanonen zu tragen, und ein Flugwesen, um diese Kanonen und die Gears, die sie tragen, zu unterstützen. Wir sind niemals besonders weit über das Modell der Vorrangstellung der Landstreitkräfte hinausgegangen. Wir haben eine Zufriedenheit mit dem Krieg erreicht, doch die Zeit wird kommen, in der wir schlauer ans Werk gehen müssen. Wir werden eigenständige Luft- und Seestreitkräfte aufstellen müssen und uns vielleicht sogar auf jenes Gebiet vorwagen, welches die Geheimdienste so sorgsam hüten. Wir müssen flexibler werden, um für das, was die Zukunft uns vielleicht entgegenschleudern wird, bereit zu sein. Denn der nächste Feind denkt vielleicht nicht wie wir.
(PROFESSOR ADAM FENIX IN EINEM SEMINAR FÜR FÜHRUNGSKRÄFTE IN DER VERTEIDIGUNGSWIRTSCHAFT AN DER LACROIX UNIVERSITÄT)
FLOTTENSTÜTZPUNKT MERRENAT, ÜBUNGSGELÄNDE, NORDOSTKÜSTE VON TYRUS, ZWEI JAHRE UND DREI MONATE VOR TAG A – SECHZEHN JAHRE ZUVOR
Carlos schätzte die Wassertiefe falsch ein.
Er trat von der Rampe des Landungsbootes und erwartete, ein paar Zentimeter abzusinken, doch unter seinen Stiefel befand sich absolut nichts und er ging unter. Es dauerte nur einen Sekundenbruchteil, bis er in der Dunkelheit die Orientierung verlor.
Das Wasser war nicht tief. Er befand sich beinahe am Strand. Er hatte schon das Gestöber der nassen Kieselsteine gesehen, die entlang der Strandlinie im roten und grünen Licht der Navigationslichter des Landungsbootes glitzerten.
Und trotzdem endete es damit, dass er eine Rolle vorwärts machte und nach unten glitt. Er atmete erschreckend kaltes Meerwasser ein, schlug verzweifelt mit einer Hand um sich, in der Hoffnung, etwas Festes zu fassen zu bekommen, während er damit kämpfte, sein Gewehr nicht loszulassen. Das hier war kein Swimmingpool. Es war dreckiges, pechschwarzes Wasser voller Algen und Schlamm, der von Schiffen aufgewirbelt wurde. Sein Rucksack war so schwer, dass er nicht hochkam. Er würde sterben, ein erfahrener Gear, der bei einem beschissenen Drill stirbt, und irgendwie war diese Schande dabei sein oberster Gedanke, als er anfing zu ertrinken.
»Ich hab dich, Carlos, ich hab dich. Alles klar, ich hab dich.«
Die Stimme kam von weit weg. Dann packte ihn irgendetwas am Nackenstück seiner Rüstung und sein Kopf wurde aus dem Wasser gezogen.
Carlos realisierte, dass sich vier Finger fest unter den Kragenausschnitt gehakt hatten und ihn wieder ins Leben zerrten. Er holte verzweifelt keuchend Luft, aber der tiefe Atemzug schien keinerlei Sauerstoff zu enthalten. Marcus zerrte und stemmte ihn nach oben. Er hustete und würgte und seine Beine bewegten sich automatisch, bis seine Füße festen Boden fanden. Er schaffte noch ein paar Schritte, dann sackte er auf dem knirschenden Kiesstrand zusammen. Gears rannten an ihn vorbei und schienen sich in Zeitlupe zu bewegen, während sie sich mit der zähen Kiesbank abkämpften.
Es kam ihm wie die schlimmste Kotzerei vor, die er sich nur vorstellen konnte. Er hustete und würgte, bis er glaubte, seine Eingeweide würden ihm aus der Nase platzen.
»Fenix! Fenix! Hab’ ich gesagt, du sollst verdammt noch mal anhalten und ein verdammtes Picknick veranstalten? Hab ich das?« Es war Major Stroud. Sie sprach mit einem geschliffenen, vornehmen Akzent, der manchmal einfach nicht zu ihrer farbigen Ausdrucksweise passen wollte. Carlos schaffte es gerade noch, sich mit tränennassen Augen aufzurichten, da stand sie schon bei ihm und verpasste ihm einen kräftigen Stoß in die Schulter. »Santiago, du würdest jetzt tot auf diesem gottverdammten Strand liegen, mit hundert verfickten Kugeln in dir. Beweg dich, bevor ich mit dem Stiefel nachhelfe!«
Bei Tageslicht war Stroud eine gut aussehende Frau für ihr Alter, gesegnet mit einem breiten Lächeln und dieser glänzenden Haut, die megafitte Leute immer hatten. Jetzt wurden ihre Züge von dunkler Tarnfarbe verzerrt und sie war alles andere als hübsch. Sie war von der Hüfte abwärts klatschnass und in ihrer Wut genauso hässlich wie jeder andere Sergeant mit Arschbehaarung.
Es war beschämend. Er war nicht irgendein neuer Rekrut und er war auch nicht ihre ehrfürchtige kleine Tochter. Er beschloss, lieber zu sterben, als zurückzufallen und vor Marcus wie ein komplettes Arschloch auszusehen. Das ärgerte ihn weit mehr als Strouds Geplärre, was für ein Sackgesicht er wäre. Marcus hielt mit ihm Schritt, bis sie die Kiesbank hinter sich hatten und die Wartestellung erreichten, in der sie sich auf den Bauch fallen ließen, um ihre Gewehre zu überprüfen.
Carlos hörte in der Dunkelheit das Klickklick der Ladehebel und spuckte Salzwasser in den trüben Sand.
»Alles in Ordnung?«, fragte Marcus.
»Super. Danke.« Carlos griff nach seinen Nachtsichtgläsern, dann überprüfte er seinen Ohrstöpsel und war überrascht, dass er noch funktionierte. »Scheiße, das Wasser ging mir grade mal bis zur Hüfte. Schlimmer, bis zum Knie.«
»Hey, ist das erste Mal, dass wir so was bei Nacht durchziehen. Du bist wahrscheinlich nur in ein Loch oder auf ’nen Stein getreten oder so. Wenn der Tag kommt, wird’s schon laufen.«
»Okay, vorwärts«, brüllte Stroud.
Wenn der Tag kommt. Welcher Tag? Carlos sprang auf und sprintete in die nächste Deckung und dann wieder zur nächsten, immer im Zickzack über kurzes, büscheliges Gras bis zu einer kleinen Ansammlung von Bäumen dahinter. Er befand sich auf festem Boden, die Art Gelände, mit der er sich auskannte. Welcher Tag? Sie hatten nichts erfahren, außer dass es eine amphibische Landung sein würde, in deren Anschluss sie einen Bereich einnehmen und für unbestimmte Zeit halten mussten.
Welcher Tag?
Was da auch kommen mochte, Dom hatte ebenfalls damit zu tun. Carlos hatte ihn nicht mehr gesehen, seit man ihn aus seinem Urlaub zurückbeordert hatte, und in seinen Briefen und Telefonaten gab er auch nicht den kleinsten Hinweis darauf, was er gerade tat. Das passte überhaupt nicht zu Dom. Man musste kein Atomwissenschaftler sein, um auf den Trichter zu kommen, dass hier was Großes vom Stapel lief, auch wenn das dazugehörige Aufgebot relativ bedeutungslos erschien.
Können wir es wissen? Nein. Wir wissen nur, was wir zu tun haben unser kleiner Happen von der Operation. Welchen Teil wir im Gesamtbild einnehmen, erfahren wir erst in der allerletzten Minute.
Wie er das hasste. Gut, über dem Ganzen stand das Prinzip der Wissenserfordernis, aber das Gesamtbild zu kennen, half ihm immer, sich zu konzentrieren. Vertraute man den Gears denn heute nicht mehr?
Carlos bewegte sich durch die Baumreihe auf offenes Gelände und erwartete Feindkontakt. Den bekam er in Form seines Sturms aus pyrotechnischen Attrappen und Rauchgranaten, die ein Minenfeld darstellten. Carlos hustete immer noch Wasser oder zumindest fühlte es sich so an. Marcus verlangsamte sein Tempo, um Carlos ein paar Mal heftig zwischen die Schulterblätter zu klopften.
»Okay, wegtreten und ab zum Arzt«, sagte er. »Du hörst dich nicht besonders gut an.«
»Ich war nur für ein paar Sekunden unter Wasser.«
»Du gehst verdammt noch mal oder ich nehm dich nicht in meinen Trupp.«
»Marcus, ich hab nur ein bisschen beschissenes Meerwasser geschluckt.«
»Sekundäres Ertrinken. Lies das Sicherheitshandbuch. Ich schlepp dich nicht in ’nem Leichensack nach Hause.«
»Ja, Mom.«
»Ich mein’s ernst. Wegtreten.« Marcus hatte seinen harten Ich-bin-dein-Corporal-Tonfall eingeschaltet. Er rief über Funk einen Sani. »Du musst die ganze Lunge voll haben.«
»Und? Ich hab ja nicht gerade ein Bein verloren.«
Stroud meldete sich über Funk. »Santiago, Sie haben’s gehört. Sofort.«
Carlos war fuchsteufelswild. Der Sani kam und nahm ihn, was noch viel schlimmer war, tatsächlich mit, aber wenigstens ließ man ihn aus eigener Kraft gehen. Ihm war klar, dass er Marcus dafür dankbar sein musste, dass er ihn gerettet hatte, aber in diesem Moment fühlte er sich einfach nur erniedrigt und nutzlos. Im Davongehen blickte er immer wieder zurück, um die Blendgranaten und Rauchbomben zu sehen, die das Übungsgelände bei dem kleinen Waldstück hinter dem Küstenstreifen in ein ausgewachsenes Feuergefecht verwandelten.
Im Sanitätszelt ließ er die Untersuchung durch den Arzt nur widerwillig über sich ergehen.
»Das ist vollkommen bescheuert«, sagte er. »Sir.«
»Genau, eigentlich hätte man Ihnen erst den Arsch wegschießen müssen«, murmelte der Arzt, während er ihm den Rücken abklopfte. »Versuchen Sie’s noch mal und kommen Sie mir bloß nicht an, bevor Sie nicht ordentlich verstümmelt wurden.«
»Im echten Einsatz hat mich auch kein Schrapnell in der Fresse aufgehalten, also …«
»Hab ich alles schon gehört. Halten Sie die Klappe, während ich Ihre Lungen abhöre.«
Carlos bekam den ganzen Vortrag über den Tod innerhalb von zwanzig Sekunden nach dem Untertauchen und sekundärem Ertrinken nach dem Einatmen von fünfzehn Kubikzentimeter Wasser zu hören und noch einen ganzen Haufen anderen Scheiß, der wahrscheinlich dafür sorgen sollte, dass er sich besser fühlte und nicht mehr so wütend auf Marcus war.
»Wenn Sie in vier Stunden nicht tot sind«, sagte der Lieutenant unbekümmert, »sind Sie über den Berg. Bleiben Sie auf der Trage liegen und rufen Sie nach Hilfe, wenn Sie Brustschmerzen oder Atemnot verspüren.«
Carlos fand es witzig, dass hier beinahe eine Verwundetenevakuierung abgezogen wurde, nur weil er in einen Meter tiefes Wasser gefallen war, die COG aber kein Problem damit hatte, wenn ihm scharfe Munition um die Ohren flog. Er verbrachte zwei elende Stunden – zwei, er zählte die Minuten – damit, an die Decke des Zeltes zu starren und dem fernen Gefecht zu lauschen.
Als er es hinter sich hatte, ging bereits die Sonne auf und der Arzt gab nach und erklärte Carlos für nicht tot, damit er zur Nachbesprechung zum RV-Punkt gehen konnte. Der befand sich hundert Meter von den Unterkünften der Marinestation entfernt. Über den Drahtzaun wehte ein verführerischer Hauch brutzelnden Frühstücks. Marcus kam zu ihm herübergeschlendert und rieb sich mit dem Handrücken die Nase. Seine Augen waren vom Rauch und Schlafmangel blutunterlaufen.
»Ist nur eine Übung«, sagte er und seine versteiften Schultern zeigten, dass er sich auf einen Streit einstellte.
»Ich hätte weitermachen können. Du weißt das.«
»Schon. Aber ich dachte einfach, es wäre das Risiko nicht wert, dich für einen echten Einsatz zu verlieren.«
Pragmatisch – und wahr. Aber Carlos wusste, dass Marcus wie eines dieser Gedichte der Insulaner gestrickt war, die sich anhörten, als bedeuteten sie etwas ganz Bestimmtes, während man gleichzeitig etwas völlig anderes aus ihnen herauslesen konnte: Carlos’ Beinaheunfall hatte ihn erschüttert. Um seinen eigenen Arsch machte sich Marcus niemals Sorgen. Er sorgte sich immer nur darum, was mit Carlos und Dom geschah. Und andersherum verhielt es sich genauso.
Hinter dem Wort Freund versteckte sich ein ganzer Arschvoll Bedeutungen.
»Klar, wenn du keinen Santiago dabeihast, ist es kein echtes Gefecht«, sagte Carlos.
Das duftende Marine-Frühstück lockte weiter aus der Ferne, unerreichbar und verboten. Den Gears war es nicht gestattet, mit den Fischköpfen herumzuhängen. Sie sammelten sich im Schutz der Bäume und kramten selbsterhitzende Rationen aus ihrem Gepäck. Was immer sie hier trainieren mochten, es stand offensichtlich nicht zur Debatte, auch nicht mit anderen Waffengattungen. Carlos schloss sich wieder der Kompanie an und fühlte sich wie ein Betrüger.
Mataki hockte sich hin, die Fersen am Boden, und schüttete ihren Rationsbeutel aus, um den Inhalt zu vermischen.
»Was haben Sie, Sarge?«, fragte Kaliso.
»Chili-Kotze«, antwortete sie. »Und Sie?«
»Ich glaube, Dünnpfiff mit Scharf.«
»Tauschen?«
Die beiden Insulaner tauschen ihre Mahlzeiten aus. Marcus fing an zu spachteln, ohne auf das Etikett seiner Ration zu schauen.
Carlos fragte sich, was der alte Fenix davon halten würde, wenn er gesehen hätte, wie sein Junge zusammen mit einem Haufen Frontschweine Scheißerationen aß, sich benahm, als käme er aus dem Proll-Viertel der Stadt und nicht aus stinkreichem Haus, und dabei sichtbar und rundum zufrieden war. Marcus gehörte zu den Leuten, die das Leben anpackten. Nur weil er schlau war, bedeutete das noch lange nicht, dass er Lust hatte, sein Leben in einem Labor zu verbringen. Carlos hatte das gleich beim ersten Mal begriffen, als er gesehen hatte, wie Marcus zuschlug. Die Erinnerung daran blitzte manchmal wieder auf und sie erinnerte Carlos daran, dass in Marcus ein verzweifelter Kämpfer steckte, der keine halben Sachen machte.
»Man sollte meinen, die könnten die verfluchten Rampen bis ans Trockene ranschippern«, beschwerte sich Mataki und stocherte mit ihrer Gabel in der Folienschale. »Ich hasse einfach Wasser. Wasser gibt’s aus der Dusche oder im Glas. Flüsse – okay. Größer als Flüsse: drauf geschissen.«
Carlos nahm es als Zeichen des Mitgefühls. »Ich dachte, Sie kämen von den Inseln.«
»Eben«, erwiderte sie. »Die trockenen Flecken. Nicht die Nassen. Ich spring lieber mit dem Fallschirm drüber ab und danke.«
Die Nachbesprechung wurde an Ort und Stelle abgehalten, zusammengekauert zwischen den Bäumen, während ein eisiger, an Graupel grenzender Regen einsetzte. Stroud hatte ihre Tochter mitgebracht, vermutlich, um sie nach der bequemen, beschleunigten Ausbildung an der Akademie abzuhärten. Hinter ihr trottete noch ein anderer junger Kadett her, aber Carlos wusste nicht, wer es war. Zur Familie gehörte er schon mal nicht. Im Umgang mit Anya ließ Stroud nie durchblicken, dass sie ihre Tochter war. Sie verhielt sich nicht ablehnend oder grob, nur … distanziert und professionell. Es erinnerte Carlos an die Art, wie sich Marcus’ Dad verhielt.
Aber Stroud war kein kalter Fisch wie der Professor. Sie erfüllte jeden Raum, den sie betrat, und es war unmöglich, ihr nicht voller Zuversicht in die nächste Schlacht folgen zu wollen. Sie roch nach Sieg.
Ihre Tochter roch nur nach Können. Carlos hatte Mitleid mit ihr, mit dieser maßstabsgetreuen blassen und kleineren Modellausgabe, aber so erging es nun mal Jungpflanzen, die im Schatten eines viel größeren Baumes aufwuchsen. Sie schien nicht einmal zu wissen, wie schön sie war, so sehr wurde sie von ihrer Mutter überragt. Andere gut aussehende Frauen schienen sich immer in diesem Selbstvertrauen à la Ich-bin-Gottes-Geschenk-an-die-Männerwelt zu aalen, aber nicht Anya.
»Ich habe schon immer gesagt, dass wir amphibische Operationen ernster nehmen müssen«, dröhnte Strouds Stimme. Carlos war sich sicher, ein paar der Jungs würden den Atem anhalten. »Sie waren nie Teil der COG-Doktrin. Sera ist eine Welt aneinandergrenzender Landmassen, daher ging es immer um die Verlagerung der Gears über Land. Marineeinheiten wurden zur Flug- und Artillerieunterstützung eingesetzt. Nun, diese Nachlässigkeit wird uns endlich zum Vorteil gereichen. Die Unabhängigen werden nicht erwarten, dass wir an der Küste anrücken.«
Küste. Gut, das war offensichtlich. Sie hatten trainiert, mit Landungsbooten abgesetzt zu werden, und auf Sera gab es reichlich Küsten. Es verriet Carlos nichts, was er nicht schon gewusst hätte.
»Ma’am.« Marcus hob seine Hand. Er schaltete wieder um auf seine alte Stimme, der vornehme Marcus, Sohn einer Dynastie. »Dürfen wir Fragen zum Einsatz stellen?«
»Nein, aber Sie fragen ja sowieso, Fenix.«
»Welches Ziel besteht über die Errichtung eines Landekopfes hinaus? Wird das eine Invasion?«
»Das brauchen Sie nicht zu wissen«, antwortete sie ruhig. »Außerdem bin ich mir nicht sicher, ob ich eine Antwort drauf habe.«
Die vornehme Marcus-Stimme schien bessere Ergebnisse zu erzielen. Vielleicht teilte sie Stroud mit, dass sie mit jemandem aus der eigenen Klasse sprach, mit jemandem, der wusste, welche Gabel man beim Regimentsabendessen benutzte. Aber Carlos wusste immer noch keinen feuchten Furz über den Einsatz.
Nein, er wusste sogar noch weniger.
Zurück ins Feldlager ging’s mit dem Bus. Bis auf den kurzen Vorstoß zu den Landungsbooten – wie man sie besteigt, wie man landet, wie man sich nicht ertränkt – wurde der Kontakt der Gears zur Marine auf ein Minimum beschränkt. Die da oben wollten auf keinen Fall Aufmerksamkeit auf die Marine-Spezialausbildung lenken.
Auf der anderen Seiten waren natürlich überall UIR-Spione im Einsatz oder zumindest sagte die COG, man solle davon ausgehen. Die Wände haben Ohren. Das ergab Sinn. Wie alles, was die Koalition für gewöhnlich von sich gab. Carlos konnte hören, wie Stroud im Vorderteil des Busses Hof hielt; kein schicker Stabswagen, der sie nach Hause fuhr, oh nein, mein Herr. Sie hielt ihren beiden sichtbar erschreckten Kadetten einen Vortrag über die Vorteile, die es für sie hätte, aus dem Ausbildungskader herauszukommen und mitzuerleben, was die Gears am Boden durchzustehen hatten, bevor sie es wagten, Männer in Einsätze zu schicken. Aha, darum drehte sich also das Ganze. Es war Triff-den-edlen-Gear-Zeit für die Kinder in der Abfertigung.
»Die ist ’n Psycho«, flüsterte Marcus.
Carlos konnte Anya kurz in die Augen sehen, als sie ihren gebannten Blick vom Gesicht ihrer Mutter abwandte, und sie schienen zu sagen: Ich bin nicht würdig. Dann blieb ihr Blick jedoch für die kurze Zeit, die er abgelenkt sein durfte, auf Marcus haften und nicht auf Carlos, und er fühlte sich niedergeschmettert und schuldig zugleich.
Ach, scheiß drauf. Was hab ich denn erwartet? Was könnte sie schon in mir sehen?
»Wir brauchen ’nen Psycho«, sagte Carlos und tröstete sich mit dem Gedanken, dass eine unmögliche Verabredung mit Anya Stroud sowieso nur zu peinlich genauer Überwachung durch ihre Mutter geführt hätte. Und Verbrüderung würde einen Haufen Karrieren beenden. Sie war ein Hauptgewinn für Leute wie Marcus. »Ein Psycho, der siegt.«
Er musste Dom anrufen, sobald er die Möglichkeit dazu bekam. Marias Termin stand bald an. Sie würde stinksauer werden, wenn Dom zur Geburt nicht da wäre. Jedenfalls hatte sie das gesagt, woraus Carlos schloss, dass sie Angst hatte. Sie war siebzehn und bekam bereits ihr zweites Kind. Dom würde in ein paar Tagen achtzehn werden. Das hörte sich für Carlos schon Angst einflößend genug an, als er hinzufügen musste, dass Dom nun – sosehr er den Ausdruck auch hasste – auf einer geheimen Mission war.
Aber die Santiagos waren Glückspilze. Dom würde nichts zustoßen. Und wenn doch -
Nein. Carlos wollte daran nicht einmal denken.
BESPRECHUNGSRAUM, HOUSE OF SOVEREIGNS, EPHYRA.
»Von Ihrem Sohn hört man ja nur Gutes, Professor.« Hoffman streckte Adam Fenix seine Hand entgegen. Er hatte nicht besonders viel Ähnlichkeit mit seinem Sohn, bis auf diese tollwütigen Augen. Daran erinnerten sie ihn, endlich kam Hoffman darauf. Sie hatten den Blick dieser schwarz-weißen Wachhunde mit den manischen blauen Augen, extrem intelligent, aber wenn man ihnen den Rücken zukehrte, würden sie einem wahrscheinlich sofort die Eier abbeißen. »Der geborene Gear.«
Fenix bedachte Hoffman mit einem erstaunlich starkem Händedruck. »Danke. Marcus macht aus allem, was er angeht, einen Erfolg.«
Die meisten Väter sagten jedes Mal, sie seien stolz. Immer das gleiche – stolz. Fenix schien seine Ausdrucksweise jedoch mit dem Mikrometer abzumessen. Sie wollten, dass Ihr Sohn ein Offizier wird, nicht wahr?
Hoffman nickte höflich. »Ja, das tut er. Sie kennen auch die Santiago-Jungs, nicht wahr? Dominic ist in einem meiner Trupps. Cleverer, schneidiger Bursche. Immer unter Strom.«
»Sie sind seit Kindertagen enge Freunde von Marcus.«
Professor Fenix war also ein Mann, der anstelle einer Unterhaltung bekannte Fakten umformulierte. Na gut, sein Job verlangte nun einmal Verschwiegenheit. Bei Hoffman war es nicht anders. Aber wenn Hoffmann einen Sohn gehabt hätte, dann hätte er aus dem Bauch heraus etwas von ihm erzählt, da war er sich sicher. Vielleicht hob Fenix sich das für Stroud auf. Sie war diejenige, der das Leben seines Sohnes persönlich zur Verfügung stand.
»Ich nehme an, Ihr Sohn hat keine Kenntnis davon, dass Sie an dem Hammer-Projekt arbeiten«, sagte Hoffman.
»Selbstverständlich nicht. Davon zu wissen, ist für ihn nicht erforderlich.«
Das war der Punkt, an dem Hoffman entschied, dass er Adam Fenix nicht mochte. Er brauchte nie lange für eine Entscheidung. Agent Settile schlüpfte in den Besprechungsraum. Sie trug einen Ordner unterm Arm und fing an, ihm Papierbögen zu entnehmen, die sie an eine Schautafel an der Wand heftete.
Die Teilnehmerzahl bei diesen Besprechungen war drastisch gesunken. Inzwischen waren es nur noch Settile, General Iver, Hoffman, Michaelson und der jüngste Neuzugang, Fenix. Hoffman hatte keine Ahnung, was in anderen Besprechungen, die im Zusammenhang mit der Operation Leveler standen, vor sich ging. Hier ging es ausschließlich um Aspho Point selbst – den Job, den der Stoßtrupp erledigen musste.
Ich hoffe bloß, irgendein Bastard behält einen guten Überblick.
General Iver kam herein und deutete auf die Luftaufnahmen an der Wand, die sich inzwischen zu einem großen Bild der östlichen Küstenebene von Ostri zusammenfügten, das ein paar Städte mit einschloss.
»Planänderung«, sagte er. »Sehen Sie.«
Die Satellitenaufnahmen zeigten immer noch ein größtenteils unbewohntes Gebiet, in dem versprengte Überreste längst aufgegebener Farmhäuser lagen, aber auch drei militärische Ziele: Aspho Point selbst und zwei Armeelager der UIR, deren Größe nicht mehr als die Stärke jeweils einer Kompanie nahe legte. Aber es waren auch Ansammlungen von Punkten zu sehen – Armeefahrzeuge –, die sich entlang der Straßen am Zugang zum größten Wasserlauf, der das Mündungsdelta bildete, verteilten.
»Möchten Sie, dass ich Ihnen das im Zusammenhang mit dem Zeitplan erläutere?«, fragte Settile. »Wir haben über die letzten Jahre wiederholt die dortigen Aktivitäten überwacht und dieses Verhalten ist nicht normal. Im Grunde genommen verstärken sie den Norden von Aspho Point und die beiden wahrscheinlichsten Gründe dafür sind, dass sie dort ihren Einsatz intensivieren, das heißt, sie haben etwas noch Bedeutenderes zu verteidigen … oder sie wissen, dass wir kommen.«
Es trat eine lange Pause ein. Alles, was Hoffman vor Augen hatte, waren Monate intensiver Vorbereitung, die sich in Luft auflösten. Michaelson stand auf und ging zu der Tafel hinüber, um sich die Bilder aus der Nähe anzusehen.
»Wie zum Teufel sollte das durchsickern?«, fragte Hoffman. »Die gesamte Operation wurde aufgegliedert. Wir haben die Trainingseinheiten so weit voneinander isoliert, wie es möglich war, ohne sie dadurch völlig nutzlos zu machen. Wir haben die Anzahl des beteiligten Personals brutal gekürzt. Diese Operation ist so geheim wie nur irgend möglich.«
Iver zuckte mit den Schultern. »Es wäre möglich, dass die Unabhängigen schlussendlich erkannt haben, wie verwundbar die Einrichtung ist und wie nahe sie daran sind, das Hammer-Projekt in Betrieb zu nehmen. Der Grat zwischen dem angemessenen Schutz eines Zieles von höchstem Wert und der Bekanntgabe, dass man überhaupt darauf sitzt, ist sehr schmal.«
Der direkteste Weg nach Aspho Point führte in südlicher Richtung entlang der Küste, am Hafen von Berephus vorbei und in das Mündungsdelta. Ein abschüssiges Riff vor der Küste sorgte für genug Wassertiefe, um zwei kleine Sturmboote in nächster Nähe abzusetzen. Alle anderen Wege bedeuteten flaches Wasser und eine längere Infiltrationsdauer, Zeit, in der der Stoßtrupp schutzlos gewesen wäre.
»Also, wie wollen wir die Sache angehen?«, fragte Michaelson. »Wir können ihnen ja wohl schlecht sagen, wir hätten Aspho gar nicht bemerkt, damit sie sich wieder entspannen, oder? Also passen wir uns an. Wir müssen immer noch auf jeden Fall verhindern, dass sie diese Technologie einsetzen. Aber sie jetzt noch einzusacken, wäre ein bisschen viel verlangt. Was genau wollen wir in die Finger kriegen? Daten, Geräte, Wissenschaftler?«
Settile blätterte wieder in einem Papierstapel und reichte Fenix dann ein Dossier. »Das ist das jüngste technische Gutachten, das uns vorliegt. Entschuldigen Sie die Unvollständigkeit. Es wurde aus Protokollen überwachter Telefongespräche zusammengesetzt und ist daher entsprechend lückenhaft.«
Fenix war der einzige Mensch im Raum – und möglicherweise sogar der Einzige in der COG –, der eine Chance hatte, das zu verstehen, was auf den Seiten stand. Hoffman fühlte sich immer noch unbehaglich und hätte es vorgezogen, selbst einen Blick darauf zu werfen. Er sah zu, wie Fenix las, wie die tollwütigen Augen hin und her schossen, während sie jeden Absatz scannten, und Hoffman fragte sich, wie dieser Mann zu einer Beurteilung dessen, was zu tun war, kommen würde.
Fenix würde sich deutlich ausdrücken müssen, Klartext reden, den ein Trupp Commandos verstehen und auslegen konnte. Sie mussten genau wissen, wonach sie suchen mussten. Sie waren keine Wissenschaftler. Sie hatten nur ihren gesunden Menschenverstand, der sie leitete und das in großer Eile und unter Beschuss.
»Machen Sie’s durchführbar, Professor«, sagte Hoffman. »Wenn wir die Sache Pi mal Daumen abschätzen, können wir genauso gut die ganze Flotte anrücken lassen und die komplette Küste versenken.«
Fenix blickte nicht auf. Selbst Iver wartete auf ihn. Die gesamte Geheimdienstklitsche und das Militär waren jetzt die Laufburschen, abhängig von der Einkaufsliste der technischen Experten.
Wahrscheinlich weiß er schon davon, seit der Geheimdienst mit der Überwachung angefangen hat. Warum geht mir das so auf den Sack?
»Dann sorgen Sie dafür, dass Sie ein paar Bots im Gepäck haben«, sagte Fenix schließlich, »denn Sie werden den Hauptcomputer von Aspho anzapfen und dabei hoffen müssen, dass das Material nicht zusätzlich außer Haus gesichert worden ist. Wenn die Unabhängigen so paranoid sind, werden sie das vielleicht nicht getan haben, denn es würde ihr Sicherheitsproblem verdoppeln. Wenn unsere Truppen das geschafft haben – falls sie es schaffen können –, können sie die Anlage zerstören.«
»Ich dachte, wir brauchen die Studierten lebend«, bemerkte Michaelson. Das war sein Ausdruck für Wissenschaftler und Hoffman wusste nie genau, ob er es schmeichelnd oder abwertend meinte. »Wenn nicht, dann hat der Major ein Problem weniger. Er braucht sich nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, Zivilisten zu extrahieren.«
Fenix’ Kiefermuskeln arbeiteten für einen Moment. Er schien auf die Blätter zu starren, ohne sie zu lesen, seine Augen hatten aufgehört, sich zu bewegen.
»Fragen Sie mich das als einen Menschen, einen Wissenschaftler oder als einen Soldaten?«, sagte er schließlich.
Settile ersparte Michaelson das Problem, darauf zu antworten.
»Wir fragen Sie als einen treuen Bürger, der nicht erleben will, wie die UIR irgendeinen Staat der Koalition vom Orbit aus ins Visier nimmt. Denn wenn Sie deren Personal zu den Daten nicht brauchen, fallen sie mit der Zerstörung des restlichen Materials unter die Überschrift Kampfmittelentzug.«
»Sie meinen, Sie erschießen sie«, sagte Fenix.
»Könnten diese Leute das Satellitenprogramm von Grund auf rekonstruieren?«
»Das ist nicht einfach eine Liste mit Zahlen, die Sie auswendig lernen können.« Fenix war bei dem Gedanken definitiv unwohl. Sein Zögern und sein Blinzeln verrieten ihn. »Aber niemand vergisst seine Methodik und von daher, ein wenig Zeit vorausgesetzt, könnten sie das Programm von Neuem starten, ja.«
»Das ist alles, was wir wissen müssen. Danke.«
»Das sind Zivilisten, Agent Settile.«
Sie schenkte ihm ein vollkommen kaltes Lächeln, lediglich ein Freilegen ihrer Zähne. »Sie bauen eine Massenvernichtungswaffe, Professor Fenix.«
Iver äußerte keine Meinung dazu und Michaelson ebenso wenig. Sie schauten zu Hoffman.
»Fordern Sie mich auf, Attentate mit auf die Aufgabenliste zu setzen?«, fragte Hoffman.
»Ich werde das mit dem Vorsitzenden Dalyell besprechen müssen, Major.« Soweit Hoffman ihn kannte, war Iver nie ein zimperlicher Kommandeur gewesen, aber er hatte politische Ambitionen und wollte wahrscheinlich nicht, dass eine Entscheidung wie diese in seiner Akte darauf wartete, später einmal zum ungünstigsten Zeitpunkt gegen ihn verwendet zu werden. »Dies bedarf seiner ausdrücklichen Autorisierung.«
Hoffman musste nur selten daran erinnert werden, weshalb er niemals in die höchsten Ränge aufsteigen würde. Er dachte ganz einfach nicht wie Iver und seinesgleichen. Seine größte Angst bestand nicht aus der Frage, was der Befehl zur Ermordung von Zivilisten mit seiner Karriere anrichten könnte, sondern darin, was mit seiner Welt und der eines jeden anderen geschehen würde, wenn man sie nicht beseitigte.
»Wir würden Zivilisten umbringen«, stellte Fenix erneut fest. »Noch dazu wahrscheinlich unbewaffnete Zivilisten.«
»Vielleicht haben Sie kurz geblinzelt und es übersehen«, meinte Hoffman, »aber diese unbewaffneten Zivilisten bauen gerade die beschissen größte Kanone auf dem ganzen Planeten.«
Iver unterbrach sie. »Meine Herren …«
»Na gut, vielleicht liegt es ja daran, dass sie qualifiziert sind und weiße Kittel tragen statt Uniformen.« Hoffman konnte es sich gerade noch verkneifen, zu fragen, was Fenix getan hätte, wenn er immer noch ein Gear gewesen wäre. »Ist es Ihnen unangenehm, weil die das tun, was Sie tun? Denn ich hätte geglaubt, Sie hätten diese Schießen-oder-erschossen-werden-Sache abgehakt, als sie noch als Offizier gedient haben.«
»Es ist falsch«, sagte Fenix ruhig. »Es ist ganz einfach falsch.«
»Wieso? Meinen Sie, die wüssten nicht, dass das, was sie da bauen, Leute umbringt? Wo liegt dabei deren Verantwortung?«
»Wenn dies eine Übung in Logik sein soll, Major, dann haben Sie gewonnen, aber ich kann mich trotzdem nicht mit dem Gedanken anfreunden, Zivilisten zu exekutieren, weil sie über gefährliches Wissen verfügen.«
»Das geht schon in Ordnung«, säuselte Settile. »Wir bringen die Intelligenzija um. Und Sie konzentrieren sich darauf, Dinge zu entwickeln, die Soldaten und Ungebildete umbringen.«
Hoffman konnte kaum glauben, dass sie das gesagt hatte. Iver scharrte nervös mit den Füßen, aber er schien ihr nicht auf die Finger klopfen zu wollen. Es lag nicht nur daran, dass sie zu den Maulwürfen gehörte. Sie wirkte auf eine Art, die Hoffman nur bewundern konnte, bemerkenswert einschüchternd. Solange der Job erledigt wurde, war es ihr vollkommen egal, ob man sie mochte oder ob sie befördert wurde. Das war eine Kollegin seinesgleichen. Gutes Mädchen.
Fenix lächelte einfach nur zurück, unerschütterlich – zumindest nach außen hin. »Das werde ich tun, Agent Settile«, sagte er.
Iver entschärfte die Situation so gut er konnte, indem er aufstand und mit dem Handrücken gegen das Panorama überlappender Bilder schlug. »Mir ist klar, dass dies auf alle einen unerträglichen Druck ausüben wird, also … werden wir nun daran gehen, so rasch wie möglich eine alternative Route auszuarbeiten.«
»Falls sie glauben, wir wären an den Werften von Berephus interessiert, sollten wir ihnen dahingehend entgegenkommen«, schlug Michaelson vor. »Arrangieren wir es so, dass sie glauben, wir würden eine Invasion von Pelles durch die Hintertür anstreben. Schwerfällige Aufklärung der dazugehörigen Marschroute, Gemunkel über Pelles’ riesige Imulsionsvorräte, verstärkte Marineaktivitäten im Norden von Aspho.«
»Das wird dann eine Menge Truppen in das Gebiet ziehen, wenn wir hineinspazieren wollen«, gab Hoffman zu bedenken.
»Aber dafür werden sie ihr Augenmerk nicht mehr verschärft auf Aspho Point richten, oder?«
»Nicht, wenn sie glauben, wir wüssten um die Wichtigkeit der Anlage.«
»Das lässt sich überprüfen«, warf Settile ein. »Und Fehlinformation stellt kein Problem dar. Allerdings wird es eine Stange kosten, es so aussehen zu lassen, als würden wir eine Invasion planen. Eine glaubhafte Truppenaufstockung, die ihre Aufklärung täuscht, wird teuer.«
Hoffman studierte die Karte. Sie ließ ihm kaum Alternativen. Überall ebenes Terrain, auf dem das Angriffsteam so wenig Zeit wie möglich verbringen durfte. Es musste also ein langer Weg durch die von Schilf und Riedgras umwachsenen Kanäle gefunden werden. »Wir werden von Süden aus reingehen müssen, durch die Salzmarsch. Drei Trupps sind immer noch das Minimum – einer, um die Sicherheitsvorkehrungen auszuschalten, einer, um das Stöbern zu übernehmen, und der letzte, um das Personal zu neutralisieren und die Sprengsätze zu legen. Ich nehme an, wir können das immer noch bei Nacht durchziehen?«
»Die Belegschaft lebt während der Arbeitswoche in der Einrichtung«, erklärte Settile. »Zeitlich planen wir den Angriff für den Abend eines Arbeitstages, genau wie bei der ersten Planung.«
»Sie bekommen eine Truppe aus Pesang-Bergmenschen, die wir von den alliierten Streitkräften hinzuziehen, und Sondereinsatz-Gears aus der Zwo-Sechs des RTI«, fügte Iver hinzu. »Angeblich das Beste, was die COG zu bieten hat.«
Hoffman zog eine Braue hoch. »Trotzdem haben sie alle jeweils nur zwei Arme, zwei Beine und einen Arsch, General.«
»Wohl wahr, daher wird die C-Kompanie des Zwo-Sechs RTI unter Major Stroud das Aspho-Gelände abschotten, wenn sie reingegangen sind, und jede unwillkommene Aufmerksamkeit, die von Landseite aus droht, aufhalten.«
Hoffman fragte sich, wie sich Fenix wohl fühlte, während er all dem zuhörte. Sein Sohn war in der C-Kompanie. Marcus Fenix würde bis zum allerletzten Augenblick nicht einmal wissen, wo oder weshalb er eingesetzt werden würde. Sein Vater wusste es jedoch schon jetzt.
»Wir brauchen eine Stunde«, sagte Hoffman. In Bezug auf Sondereinsätze eine Ewigkeit. Aber er wollte einen großen Sicherheitsspielraum für eventuell auftretende Probleme, schließlich hatte er die Aufklärung nicht persönlich durchgeführt. All seine Daten stammten von Settiles Teams im Feld, Krümel und Fetzen, die man akribisch zusammengesetzt hatte. Er besaß nicht einmal einen Grundriss, der auf dem neuesten Stand war, nur eine mutmaßliche Zusammensetzung aus Aufklärungsbildern und bruchstückhaften Einzelheiten, die man über Bauunternehmer und Reinigungskräfte erfahren hatte und von gutgläubigen Zivilisten, die unverfängliche Fragen beantworteten, ohne darüber nachzudenken, wo diese harmlosen Informations-Puzzleteile zusammengesetzt werden würden. »Und dann müssen wir schneller wieder raus, als wir reingekommen sind.«
Hoffman sagte wir und er meinte wir. Er war kein junger Mann mehr, aber er hielt sich fit und er würde die Sache um nichts in der Welt aussitzen.
»Ich habe eine Idee«, sagte Michaelson. »Allerdings haben wir das noch nie wirklich ausprobiert. General, ich nehme an, ich kann mir einen Sea Raven Fracht-Heli ausborgen und meine Ingenieure mit einem Schweißbrenner darauf loslassen, ja?«
Fenix sammelte seine Unterlagen zusammen und bedachte alle im Raum mit einem oberflächlichen Nicken. Settile trat ihm in den Weg und streckte ihre Hand aus. »Diese Unterlagen werden dieses Gebäude nicht verlassen«, sagte sie nachdrücklich. »Aber Sie können jederzeit, ich meine, wirklich jederzeit, zurückkommen und sie durchlesen. Rufen Sie einfach mein Büro an. Wir arbeiten in ständigem Drei-Schichten-Wechsel.«
Fenix wirkte nicht beleidigt. Aber schließlich hatte er auch seinem eigenen Sohn nichts hiervon erzählt und Marcus Fenix würde zu den Männern gehören, die den Sperrgürtel für den Überfall bildeten. Das war die Natur dieses Geschäfts. Hoffman fand sich zusammen mit Settile in einem leeren Raum wieder.
»Ich werde es selbst tun«, sagte er. »Ich werden den Aspho-Stab übernehmen.«
Settile sah aus, als würde sie ihm gleich ihre Hand auf die Schulter legen. Scheiße, sie glaubt, ich würde meine gottverdammte Seele für das Vaterland opfern. Doch sie zögerte und verschränkte ihre Arme fest vor ihrer Brust.
»Es gibt hier keine moralischen Aspekte zu beachten, Major«, sagte sie. »Wenn ich kämpfe, kämpfe ich, um zu gewinnen. Ich glaube wirklich nicht, dass es von Belang ist, wie wir letzten Endes gewinnen, denn sportlich und fair zu bleiben, mag bei Thrashball in Ordnung gehen, aber es ist eine unverantwortliche Art, einen Krieg zu führen. Minimale Verluste an COG-Leben. Alles andere ist zweitrangig.«
Hoffman zuckte mit den Schultern. Er hatte seine eigenen persönlichen Grenzen, aber feindliche Wissenschaftler zu beseitigen, befand sich, wie er glaubte, durchaus in deren Rahmen. »Stellen Sie nur sicher, dass wir genügend Informationen haben, um sie zu identifizieren, denn ich will mich nicht zurückziehen und dann feststellen, dass wir den Hausmeister erschossen und den Obermacker zurückgelassen haben.«
»Iver könnte das mit einem Luftschlag regeln, sobald ihre Männer draußen sind.«
»Agent Settile, die Leute überleben manchmal auch die extremsten Bombardierungen, aber für gewöhnlich keine Kopfschüsse.«
Sie wirkte beschämt. Hoffman hasste die Vorstellung, sie würde ihn zu irgendeiner Art Held emporheben. Es musste getan werden. Also tat er es.
Er würde todsicher kein Kind wie Dominic Santiago bitten, es zu tun, selbst wenn es zu den Dingen gehörte, die Commandos zu tun hatten.
»Sie sind ein ehrenhafter Mann«, sagte sie schließlich.
»Nein«, erwiderte er. »Ich bin ein Kommandant, der niemals etwas von seinen Männern verlangt, was er nicht selbst tun würde. Nicht mehr und nicht weniger.«
Und vielleicht liegt es daran, dass ich von dem Tag an, an dem ich es tun würde, nichts mehr hätte, für das es sich zu leben lohnt.
Hoffman ging hinaus in den Hof, wie immer überrascht, dass nach einer Besprechung noch Tageslicht herrschte, und wählte den Weg über das Grabmal der Unbekannten. Das Mausoleum gedachte den nicht identifizierten, gefallenen Gears, aber hier standen auch andere Denkmäler großer Schlachten wie Anvil Gate sowie die Gräber der am höchsten ausgezeichneten Kriegshelden, der Träger des Embry Star. Ein Gefühl ungezwungener Kameradschaft lag über dem Ganzen: Generale und einfache Soldaten lagen Seite an Seite. Hoffman gefiel es – brauchte es –, die Gräber in regelmäßigen Abständen zu besuchen, damit er nicht nur die kalkulierten Risiken und annehmbaren Verluste verstand, sondern auch auf einem Niveau, das über Sprache hinausging, fühlte, was er tat.
Vor einem formschönen Grabstein aus Granit blieb er stehen: SERGEANT MAJOR GRAME, J. Es tat nichts zur Sache, dass er ein hochdekorierter Mann gewesen war. Grame lag einfach hier, nur einen Steinwurf von dem Ort entfernt, an dem genau jene Entscheidungen gefällt worden waren, die ihn letztendlich in sein Grab gebracht hatten.
Vergiss die Medaillen. Bin ich bereit, mit dir den Platz zu tauschen, Sergeant?
Ja, das war er. An dem Tag, an dem es nicht mehr so sein würde … hätte er nicht länger das Recht, Männer anzuführen.
ÜBUNGSBEREICH FÜR MARINEEINSÄTZE, GEHEIMER STANDORT: COG-KRIEGSSCHIFF »CMS POMEROY«
Dom stand auf dem Helikopterdeck der Pomeroy und kam zu dem Schluss, dass es letzten Endes doch aufwärts ging.
Ein Sea Raven landete auf seiner Markierung. Es war die schwere Fracht-Variante, die Marine-Ausgabe, aber im Wesentlichen immer noch das gleiche Luftfahrzeug, an das er nicht nur gewöhnt, sondern in das er richtiggehend verliebt war. So ging es jedem Gear. Ravens gaben einem das beruhigende Gefühl, dass die Guten eingetroffen waren und einem entweder etwas brachten, was man dringend brauchte, oder einen irgendwo rausholten, wo man ganz sicher nicht mehr sein wollte. Es gab nichts an ihnen, was man nicht lieben konnte. Allein der Tschakka-tschakka-Klang ihrer Rotoren ließ die Herzen höher schlagen. Ihre Roststreifen waren heilig. Und ihre Piloten waren samt und sonders durchgedreht.
Dieser Raven sah etwas anders aus. Seine Frachtluken waren erweitert worden. Der Rest des Trupps – Young, Morgan und Benjafield – und die beiden Teams der Pesang-Bergmenschen scharten sich um ihn herum, sobald die Rotoren zum Stillstand gekommen waren. Dom ertappte sich dabei, wie er auf die Köpfe der Pesangas hinunterblickte und sich fragte, wie irgendwelche Typen, die so klein waren – und die bis auf leichte Panzerplatten kaum Rüstung trugen –, einen solchen Ruf haben konnten.
»Heißt das, wir werden uns abseilen, Sir?«, fragte Timiou. »Planänderung?«
Hoffman schüttelte den Kopf. »Nein, ihr werdet immer noch mit Marlins eindringen.« Er deutete auf den Marineoffizier, der gerade aus dem Cockpit des Sea Ravens kletterte. »Captain Michaelson meint, er hätte eine bessere Lösung, um die Zeit zu verkürzen, die wir auf der Wasseroberfläche verbringen müssen, ohne dabei unsere Anwesenheit durch Schiffe preiszugeben.«
»Ich habe schon vor Jahren gesagt, dass sie dieses Fassungsvermögen brauchen«, sagte Michaelson und schüttelte den Gears die Hände, was Dom von einem Offizier absolut nicht gewohnt war. »Aber jetzt können wir aus dieser Not eine Tugend machen. Die Reichweite eines Marlins beträgt bestenfalls ungefähr sechzig Klicks, aber Sie werden eine Menge Ausrüstung bei sich haben, wodurch sie weiter verkürzt wird, und das bedeutet, ein Trägerschiff müsste viel zu nahe vor der Küste von Aspho liegen. Wir könnten euch auch per U-Boot absetzen, aber dazu ist das Wasser zu flach. Die beste Lösung besteht also im Absetzen aus der Luft.«
Dom glaubte, dass würde bedeuten, kleinere Schlauchboote ins Meer hinunterzulassen, in die sie sich dann abseilen würden. Okay, das würde er draufhaben. Bei rauer See und Dunkelheit könnte es etwas haarig werden, aber sie mussten es nur einmal richtig hinkriegen. Die Pesang-Soldaten schauten in andächtigem Schweigen zu. Sie gehörten zur Infanterie, genau wie Dom und die anderen, und die Seefahrernummer war ihnen genauso fremd. Für die COG war es ein Aufbruch in neue Gefilde.
Michaelson hatte daher etwas zu beweisen, nämlich, dass die Marine mehr tun konnte, als nur die Fähre für große Kanonen und große Flugmaschinen zu spielen. Zumindest sein Teil. Dom stellte immer häufiger fest, dass Politik – Karrierepolitik, nicht die große – in der COG weit verbreitet war, und das deprimierte ihn. So sollte es einfach nicht sein. Es hätte eine Gruppenanstrengung sein sollen; der Eid, den er abgelegt hatte, verlangte das. Er sollte ein Teil in der großen Maschinerie der Gesellschaft sein, so wie jeder andere auch, verbunden durch die gemeinsame Sache.
Toll. Wir sind ein beschissenes Experiment, damit irgend so ein Sack seine eigene Abteilung aufbauen kann.
»In Ordnung«, sagte Hoffman. »Ich erwarte, jederzeit den Einsatzbefehl zu erhalten. Ich weiß nicht, wie viel Zeit uns bleibt, um die Sache durchzuexerzieren.«
»Es sind die Piloten, die’s nötig haben«, sagte Michaelson. »Alles, was Sie tun müssen, ist die Marlins starten. Die bringen Sie dahin, wo Sie hinmüssen.«
»Plural«, murmelte Hoffman.
»Ein Marlin pro Raven. Bei der Ausrüstung, die Sie mitnehmen müssen, ist das die beste Umsetzung. Darf ich vorschlagen, dass wir für die Trockenübung statt den Bots und der Munition nur Ballast einladen? Falls etwas schief geht, würden Sie eine Menge technisches Gerät verlieren, das nicht leicht zu ersetzen ist.«
Timiou gab ein Geräusch von sich, das wie ein unterdrücktes Husten klang. Commandos konnte man schließlich auch nicht innerhalb einer Stunde ersetzen. »Ich verstehe es immer noch nicht, Sir.«
»Die Ravens wurden umgebaut wie Docks«, sagte Michaelson und lächelte, als würde er etwas für jemanden wiederholen, der schwer von Begriff war. »Wie Landungsschiffe. Verstehen Sie, mit der Bugrampe hinten. Der Raven lässt den Marlin direkt ins Meer rutschen.«
Dom dachte sofort, so tief zu fliegen, wäre selbst für einen Raven-Piloten der reine Wahnsinn. Er müsste wahrscheinlich knapp einen Meter über dem Wasser schweben. Dom glaubte, er hätte es verstanden. Das tat er wirklich. Der Sprung würde nicht gefährlicher oder schmerzhafter sein, als große Wellen abzureiten, aber es blieb trotzdem riskant.
Sie hievten eines der Flachwasserboote über die Heckrampe in den Frachtraum des Ravens. Die beiden Besatzungsmitglieder des Ravens, die das Boot in Empfang nahmen, trugen Überlebensanzüge die von der grellgelben Sorte, mit denen man nach einer Notwasserung eine Weile im Wasser treiben konnte.
»Dann macht mal hin«, rief der Lademeister und deutete auf den Marlin. »Ihr setzt euch hin. Wir übernehmen die Männerarbeit. Weißt du, wie man so ’ne Wanne fährt, Junge?«
Malcolm Benjafield hatte sich freiwillig als Bootsführer gemeldet. »Mein Dad hat ein Rennboot.«
»Oh, na sehr schön, dann ertrinkst du schneller.«
Die Marlins waren leicht zu bedienen, solange leicht bedeutete, man wusste, dass das Meer keine Straße war und seinen eigenen Kopf hatte. Die Grundkenntnisse waren Teil von Doms Ausbildung gewesen, aber jetzt war es Benjafields Kiste.
»Scheiße«, sagte er mit Blick über Doms Kopf auf die offene Rampe. »Ihr habt doch nicht etwa das vor, wovon ich denke, dass ihr’s vorhabt?«
»Ooh, ich weiß nicht«, erwiderte der Lademeister und hakte seine Sicherheitsleine ein. Er war ganz klar ein Anmache-Verteiler, wie der Captain es nannte, ein Klugscheißer. »Vielleicht ersäufen wir euch dieses Mal noch nicht. Habt ihr eure Schwimmwesten an? Gut. Mal schauen, was der Vogel von Wasser hält.«
Die Gears drängten in den Marlin und zwängten sich zwischen Kisten und andere schwere Gegenstände, die als Ersatz für Munition und Bots herhielten. Die sechs Pesang-Soldaten, die hineinhüpften, sahen aus, also würden sie sowieso den ganzen Tag grinsen, auch wenn sich alles langsam komplett in Rattenscheiße auflöste. Dom setzte sich hinter Hoffman und dachte daran, was für eine tolle Geschichte für seine Kinder das Ganze abgeben würde, wenn sie einmal alt genug wären, solche Dinge zu verstehen.
Das wird auch ’ne Mörderstory für Carlos und Marcus …
Die Mission vor seiner Familie geheim zu halten, war mit das Schwerste für Dom. Nicht einmal Maria wusste mehr, als dass er für etwas trainierte, was ihn aufs Meer führen würde. Das wurmte ihn, denn ein Großteil des Reizes, ein Gear zu sein, bestand darin, Carlos und Marcus an allem teilhaben zu lassen, aber das ging nun nicht, und auch wenn er durchaus verstand, weshalb, war es ihm doch unangenehm.
»Okay, nicht vergessen, falls wir runtergehen, läuft die Kabine voll, bevor wir rauskönnen«, sagte Benjafield. Dom fand es immer noch verwirrend, vor dem Fahrer zu sitzen, ein weiterer Grund, aus dem er wohl nie zum Matrosen taugen würde. »Absturz-Prozedere. Verstanden?«
»Scheiße, Mann, muss das sein?«, sagte Morgan.
»Na klar«, knurrte Hoffman. »Ihr seid gottverdammte Commandos. Ihr nehmt’s, wie’s kommt und könnt später eure Freundinnen zu Tode damit langweilen, was für Bullenklöten ihr gezeigt habt.«
Falls der alte Bastard Angst hatte, zeigte er es niemals. Dom mochte ihn eigentlich. Hoffman hätte nicht halb so beruhigend gewirkt, wenn er locker flockige oder väterliche oder gar aufmunternde Sprüche gebracht hätte. Seine schlechte Laune und die Tatsache, dass es ihm scheißegal war, wen er beleidigte, waren sein dickes Fell, das ihn vor einer natürlichen, ehrlichen Angst, wie sie jeder andere auch verspürte, abschirmte. Dennoch war Dom sich sicher, dass seine Furcht eher von seinem Rang herrührte als vom drohenden Tod. »Späteinsteiger« wie er mussten sich permanent vor ihren Offizierskollegen beweisen und nicht vor ihren Männern.
»Frau«, sagte Dom. »Nicht Freundin.«
»Und das nächste Kind ist schon unterwegs, ja?«
»Ja, Sir.«
»Dann wollen wir Aspho mal unter Dach und Fach bringen, damit du rechtzeitig da sein kannst. Und dann suchst du dir besser ein anderes Hobby, sonst hast du ’ne ganze Thrashball-Mannschaft zu ernähren, bevor du die ersten Falten hast.«
Die Rampe schloss sich und der Raven stieg mit einer Drehung zur See senkrecht in die Höhe. Abgesehen von der Riesenpfütze unter ihnen, hatten sie so etwas schon zigmal durchgezogen. Die Aussicht aus der Frachtkabine war auf ein paar Bullaugen begrenzt, hinter denen nur Fetzen bedrohlicher, kabbeliger See zu sehen waren.
Der Raven wurde langsamer und ging in einen Schwebflug über, der eine dichte Gischt aufwirbelte, sodass Dom kaum mehr sah als einen grauen Sturm aus Meerwasser. Erst als sich der Lademeister an den Halteschienen unter der Kabinendecke zu der Rampe hangelte, die sich langsam hinuntersenkte, wurde der schiere Irrsinn des Manövers klar. Das Heck des Ravens war auf gleicher Höhe mit der Wasseroberfläche.
Nein – es hing im Wasser.
Doms gesunder Menschenverstand flüsterte ihm zu: Ganz schlechte Idee. Die See strömte auf das Frachtdeck und der Lärm erinnerte Dom daran, dass er sich Gehörschutzstöpsel zulegen musste, wenn er nicht in ein paar Jahren taub sein wollte. Aber der markerschütternde Krach der Rotoren konnte Dom nicht von dem Gedanken ablenken, dass der Raven im gottverdammten Ozean hing.
»Heilige Scheiße«, murmelte Hoffman.
»Bin froh, dass ich nicht der Einzige bin, Sir …«
Der Lademeister gab Benjafield ein Zeichen, den Motor anzulassen. Dom war sich nicht sicher, ob der Raven seine Schnauze angehoben hatte, damit der Marlin hinausrutschte, oder ob genügend Wasser in die Kabine gelaufen war, um dem Marlin Auftrieb zu geben, aber der Lademeister und sein Kollege packten schon die Halteleinen des Bootes und hievten es die Rampe hinunter. Dom konnte durch die Gischt überhaupt nichts sehen. Eine Welle schlug ihm ins Gesicht und für einen Augenblick war er sich sicher, sie würden absaufen. Doch dann ließ Benjafield den Außenborder an und sie zogen in langsamem Tempo davon.
»Wusstest du, dass die so etwas draufhaben?«, brüllte er gegen den Sturm an.
»Jetzt schon«, rief Dom zurück.
Benjafield steuerte den Marlin in einem großen Kreis herum. Sie schauten zurück auf den Sea Raven.
»Wow … das ist mal krank.«
Dom konnte immer noch nicht glauben, was er sah. Eingehüllt in peitschende Gischt sah der Raven aus, als würde er mit untergetauchter Rampe im Wasser sitzen. Dann stieg er wieder in die Luft und Wasser lief aus ihm heraus, als ob er sich in die Hosen gepisst hätte. Dom wusste genau, wie sich die Maschine fühlen musste.
Die Bergung verlief vergleichsweise unspektakulär. Der Raven zog sie per Winde an Bord, nahm dann den Marlin an den Haken und schleppte ihn als angehängte Fracht mit.
»Gar nicht so haarig, wie’s in den Filmen aussieht«, meinte Dom zum Lademeister.
»Musst es mal bei Sturm probieren, wenn noch drei Schwestern anrollen …«
Es gab Tage, an denen es Dom leichter fiel, die Pesangas – die seine Sprache nicht sonderlich gut beherrschten – zu verstehen als die Marines, aber er ging davon aus, dass er die drei Schwestern besser nicht kennen lernen wollte.
»Wenn man mit dem Boot so einfach von der Rampe runterfahren kann, warum dann nicht auch wieder rauf?«, wollte Benjafield wissen. »Ginge das nicht schneller als mit der Winde?«
»Meldest du dich freiwillig?«, fragte der Lademeister.
»Klar.«
»Dann versuchen wir es vielleicht mal, wenn wir einen Piloten kriegen, dem’s nichts ausmacht, wenn er einen Marlin in den Hinterkopf gerammt bekommt.«
»Ihr habt’s noch nie ausprobiert?«
»Ein Mal. Bevor du so ’ne Nummer abziehst, brauchst du sehr viel mehr Übung. Mal schauen, wie viel Zeit wir noch haben.«
Die Gears blieben über Nacht an Bord der Pomeroy. Benjafield wurde ein inoffizielles Raven-Pilotenabzeichen verliehen, während im ebenso inoffiziellen Kasino der Flugbesatzung reichlich Bier konsumiert wurde und die allgemeine Stimmung auf dem Höhepunkt war. Sie waren Commandos; sie konnten alles erreichen, was sie sich in den Kopf setzten.
»Es kann nur besser werden«, meinte Benjafield kleinlaut. »Und Morgan muss erst noch lernen, wie’s geht.«
Hoffman, der an einem Glas Saft nippte, ließ seine Fassade so weit fallen, wie Dom es noch nie erlebt hatte, aber das musste nicht viel heißen.
»Es hat zwanzig Jahre gedauert, das Commando-Programm aufzustellen«, erklärte er. »Stellt euch vor, wozu wir imstande wären, wenn wir die alte Infanterie-Doktrin sausen lassen würden. Mehr Spezialeinheiten. Mehr abteilungsübergreifende Teams. Schlankere und flexiblere Gegenschläge.«
»Ketzerei, Sir«, meinte Timiou. »Wenn Sie die konventionelle Armee verkleinern, verändern Sie die Gesellschaft der Koalition. Sie funktioniert, weil sie ein Teil des Sozialgewebes ist. Die Bürger wissen, welcher Preis zu zahlen ist.«
»Verdammt, hat man mir einen beschissenen Intellektuellen zugeteilt?« Hoffman lachte tatsächlich. »Stimmt schon, du hast recht.«
Dom war glücklich. Er brannte darauf, Carlos anzurufen und ihm zu erzählen, wie sie Ravens in den Ozean tunkten. Er wollte es Maria erzählen. Heute Nacht würde er Gelegenheit haben, sie anzurufen, aber bei dem Gespräch musste er sich leider auf seine Begeisterung über die neuesten Nachrichten von dem Baby beschränken und durfte nicht den leisesten Hinweis darauf geben, wie er den Tag verbracht hatte.
Er würde später noch Zeit genug haben, Geschichten zu erzählen. Er wusste es. Sie würden Aspho Point den Saft abdrehen und das würde den Pendelkriegen ein Ende setzen.