Dunedin, 31. Dezember 2007
Sophie hatte beim Lesen Zeit und Raum vergessen. Langsam jedoch nahm sie wieder den Trubel des Strandlebens um sich herum wahr.
Sie legte das Manuskript aus der Hand, packte ihre Sachen zusammen und schlenderte in Richtung Bushaltestelle, aber nicht, ohne sich vorher ein Eis zu kaufen. Sie hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen, und ein Blick auf ihre Uhr zeigte ihr, dass sie über drei Stunden am Strand verbracht hatte.
Als sie gerade bezahlen wollte, regte sich erneut das merkwürdige Gefühl, dass sie beobachtet wurde. Dieses Mal wollte sie sich aber nicht blamieren und wie eine Furie umdrehen. Da hörte sie bereits hinter sich eine Stimme erfreut sagen: »Sophie! Das ist ja schön, dass ich Sie hier treffe! Sie wandte sich um und sah in John Franklins braune Augen, die sie sichtlich überrascht musterten.
»Ich wollte nur ein bisschen Sonne tanken.« Sophie wusste nicht so recht, wie sie sich verhalten sollte. Wäre es besser, schnell zu gehen oder stehen zu bleiben, um ein bisschen mit ihm zu plaudern? John nahm ihr diese Entscheidung ab, indem er sie zwanglos unterhakte und zu einem Haus direkt am Strand führte.
»Ich hoffe, Sie haben sich vom vorgestrigen Tag ein wenig erholt«, bemerkte John, nachdem er ihr auf der Terrasse einen Stuhl angeboten hatte.
»Ja. Im Hotel hat man mir diesen Strand empfohlen«, erklärte sie hastig. Sie fühlte sich zunehmend unwohl, denn nun kam eine ganze Gruppe von fröhlichen jungen Menschen vom Baden zurück, die sie alle zwanglos begrüßten.
»Umso besser!«, meinte John lachend. »Zufälle gibt es nicht. Das war ein Zeichen. Sie müssen unbedingt zum Fest bleiben ...« Er stockte und fragte zögernd: »Wo steckt denn Ihr Verlobter?«
»Jan ist nach Auckland zurückgeflogen und nimmt den nächsten Flieger zurück nach Deutschland.«
»Ach ja?« Das war das Einzige, was John Franklin hervorbrachte.
Ohne dass er weiter fragte, erklärte Sophie nachdrücklich: »Ich bleibe in Neuseeland, bis ich das Geheimnis meiner Mutter gelüftet habe. Jan hat mich vor die Alternative gestellt, mit ihm zu fliegen oder die Zukunft ohne ihn zu verbringen. Ich habe womöglich den größten Fehler meines Lebens begangen ... Ich sollte jetzt wohl besser ins Hotel zurückkehren.« Mit diesen Worten sprang sie von ihrem Stuhl auf, aber John sah sie bittend an.
»Bitte, bleiben Sie!«
Seufzend ließ sich Sophie zurück auf den Stuhl fallen. »Aber ich kenne hier doch niemanden!«, protestierte sie schwach.
»Judith, Besuch!«, rief er nur grinsend.
Und plötzlich stand Judith Palmer vor Sophie. Atemberaubend sah die Anwältin aus in ihrem weißen Sommerkleid zu der braunen Haut. Sophie konnte den Blick gar nicht abwenden von ihrer exotischen Schönheit.
»Das freut mich, dass Sie doch noch gekommen sind«, rief sie erfreut aus, und John warf Sophie einen triumphierenden Blick zu, der so viel sagte wie: Sie wollen meine Kollegin doch nicht enttäuschen, oder?
Sophie gab ihren Widerstand schließlich auf und erwiderte: »Es ist bezaubernd hier!« Und das meinte sie genauso, wie sie es sagte. Der meterlange weiße Strand, das urgemütliche Holzhaus mit der breiten Veranda, die langsam untergehende Sonne. Urlaubsstimmung, dachte Sophie, fehlt nur noch der Drink. Und prompt erschien jemand mit einem Tablett und bot den Gästen Campari mit Orangensaft an.
Ganz zwanglos setzten sich einige Leute zu ihnen an den Tisch und fragten Sophie nahezu Löcher in den Bauch, als sie erfuhren, dass sie aus Hamburg kam. Wie unkompliziert die Menschen hier sind!, dachte Sophie. Sie entspannte sich sichtlich zwischen den jungen Anwälten und ihren Freunden.
Die Stunden vergingen wie im Flug. Irgendwann wurde auf der Veranda getanzt, und John forderte Sophie auf. Es waren dieselben Schmusesongs, die auch in Deutschland auf Festen gespielt wurden, wenn man es romantisch wollte. John tanzte hervorragend, er roch nach Sonne und Meer, und es war ein angenehmes Gefühl, seine Wärme zu spüren. Das alles bemerkte Sophie sehr wohl, aber sie versuchte, sich nicht davon einlullen zu lassen, ein schwieriges Unterfangen bei Kuschelrock unter südlichem Sternenhimmel in den Armen eines attraktiven Mannes. So schwierig, dass Sophie vorgab, zu müde zum Tanzen zu sein.
Kaum dass sie wieder auf ihren Plätzen saßen, wurde John von einer langbeinigen Blondine in kurzem Rock aufgefordert. Sie wirkten äußerst vertraut miteinander. John lächelte Sophie entschuldigend an und entschwand mit der Frau auf der Tanzfläche. Sophie sah ihnen neugierig hinterher. John machte keine Anstalten, eng zu tanzen, aber die Blonde umschlang seinen Hals und zog ihn zu sich heran. Sophie verspürte einen leisen Stich.
Es war bereits dunkel. Außer dem Mond beleuchteten nun bunte Lampions und Lichterketten die Veranda. Sophie saß immer noch auf demselben Platz und beobachtete die anderen. Sie war Dutzende Male zum Tanzen aufgefordert worden, doch sie hatte stets abgelehnt. Auch John hatte sich sichtlich um sie bemüht, aber nun war sie allein zurückgeblieben mit ihrem leeren Glas vor sich. Die anderen tummelten sich auf der Tanzfläche. Plötzlich überfiel Sophie die Trauer mit einer solchen Heftigkeit, dass sie gar nichts mehr dagegen tun konnte. Schon hatten sich ihre Augen mit Tränen gefüllt.
»Kommen Sie, wir gehen ein Stück ans Wasser!« Das war Judith' vertraute Stimme.
Sophie gefiel der Vorschlag, denn sie wollte nicht, dass John sie so sah.
Arm in Arm verschwanden die beiden Frauen in der Dunkelheit. Sie entfernten sich so weit, dass sie nur noch das Rauschen des Meeres vernahmen und das Mondlicht ihnen den Weg wies. Fernab vom Haus ließen sie sich in den weichen, immer noch warmen Sand fallen. Eine Weile blickten sie beide gedankenverloren auf das Meer hinaus.
Sophie hatte fast alles um sich herum vergessen. Ihre Gedanken weilten bei Anna. Ob sie Kate wirklich verbieten wollte, je zu heiraten? Ein leises Schluchzen störte ihre Überlegungen. Zaghaft drehte Sophie sich zu Judith um, die sich hastig mit einem Taschentuch übers Gesicht fuhr.
»Ist es wegen Ihres Freundes?«, fragte Sophie zögernd.
Judith nickte. »Ich vermisse ihn so schrecklich. Und vor allem, ich verstehe nicht, was in ihn gefahren ist. Er war einfach weg!«
»John meinte, dass er immer wieder seinen Freiraum braucht«, sagte Sophie mitfühlend.
Judith seufzte. »Gut, ja, daran hatte ich mich auch schon gewöhnt, aber dieses Mal kam es so plötzlich. Aber ich will Sie nicht mit meinen Beziehungsgeschichten langweilen.«
Sophie lachte kurz auf: »Sie langweilen mich ganz und gar nicht. Und Sie sind gerade an der richtigen Adresse. Mein Verlobter, der überraschend in Dunedin aufgekreuzt ist, hat mir gedroht: Entweder fliege ich sofort mit ihm nach Hause, oder es ist Schluss. Und Sie sehen ja, wo ich hocke. Dabei wollten wir in sechs Wochen heiraten!«
»Okay, ich rede, aber nur, wenn Sie mir im Gegenzuge auch etwas von Ihrem Verlobten vorjammern.«
»Jetzt sind Sie erst mal dran. Mit ihrem ...« Sophie stockte. Sie hatte seinen Namen vergessen.
»Tom. Ich weiß, dass er mich liebt. So etwas spürt man als Frau, aber beim Thema Familie kneift er. Er ist selber adoptiert worden und durch die Hölle einiger Pflegefamilien gegangen. Kein Wunder. Ich habe das immer akzeptiert, aber jetzt ... Ich weiß seit gestern, dass ich ein Baby erwarte.«
Sophie traute sich nicht, sie zu dieser Nachricht zu beglückwünschen, denn die Tatsache, dass sie schwanger war, schien sie nicht besonders zu erfreuen.
»Ich wollte immer Kinder«, fuhr Judith traurig fort. »Ich hätte es normalerweise auch mit Toms Widerstand aufgenommen, aber er war so seltsam. Ich habe Angst!«
Bei diesen Worten schluchzte Judith wieder laut auf. Sophie rückte ein Stück näher an sie heran, nahm sie in den Arm und murmelte: »Wenn es Ihnen guttut, reden Sie darüber. Was macht Ihnen Angst?«
Ohne aufzusehen, stammelte die Anwältin voller Verzweiflung: »Wir wollten Weihnachten unbedingt zusammen feiern. Das war auch sein erklärter Wunsch. Wo wir doch eine Fernbeziehung führen. Er in Wellington, ich in Dunedin. Wir haben uns so auf die gemeinsamen Ferien gefreut. Es war ja auch alles in Ordnung. Bis zum vierundzwanzigsten Dezember. Da war er vormittags sogar noch in der Kanzlei; er hat mir geholfen, Akten zu bearbeiten. Er ist auch Anwalt, müssen Sie wissen. Und plötzlich, wie aus heiterem Himmel, steht er auf und stammelt, weiß wie eine Wand: ›Ich muss weg!‹ Ich war total geschockt. Damit war er schon zur Tür hinaus. Zu Hause ein Zettel: Bin am Mount Cook. Einer, der sich so verhält, kann doch kein Vater werden - oder?«
Sophie schluckte das klare Nein, das ihr auf der Zunge lag, herunter. Mitfühlend fragte sie: »Ist denn irgendetwas vorgefallen, das ihn aus dem Tritt gebracht haben könnte?«
»Nicht, dass ich wüsste. Er hatte in der Woche davor sogar einen großen Sorgerechtsfall gewonnen. Und weil er der Jugendbehörde damit einen Riesengefallen getan hat, hat die ihm im Gegenzug eine Kopie seiner Adoptionsakte geschickt. Die traf am Morgen in unserem Büro ein. Da war er noch ganz zufrieden, hat Scherze gemacht. Er habe schon immer geahnt, dass ihn etwas mit dem Lieblingshelden seiner Jugend verbinden würde. Ich habe nicht weiter nachgefragt, weil wir gerade die Nachricht erhalten hatten von dem Unfall ...« Erschrocken unterbrach sich Judith Palmer.
»Sprechen Sie ruhig weiter! Sie müssen um die Zeit von Emmas Tod erfahren haben, denn kurz vor Mitternacht am dreiundzwanzigsten nach deutscher Zeit hat Ihr Kollege bei mir angerufen.«
»Genau. Also, mir ist das ziemlich an die Nieren gegangen, und deshalb habe ich Tom gebeten, die Akte Emma McLean für mich aus der Registratur zu holen.«
Sophie war bei diesen Worten kreidebleich geworden. Der Gedanke, der sich ihr mit aller Macht aufdrängte, ließ sie am ganzen Körper zittern.
»Wie heißt Ihr Freund denn eigentlich mit Nachnamen?« Das sollte möglichst beiläufig klingen.
Judith sah Sophie erstaunt an. »McLean!«
Sophie konnte ihr Zittern nun nicht mehr verbergen. McLean? Konnte das wirklich Zufall sein?
»Sie frieren ja!«, bemerkte Judith besorgt und legte Sophie ihre Strickjacke über die Schulter.
»Ist das der Name der Adoptivfamilie oder sein eigener?«
»Ich glaube, sein eigener. Er redet ja wenig über seine Kindheit, aber das habe ich immerhin herausgefunden. Da Tom die ersten Jahre seines Lebens wohl noch mit seinem Vater, einem Trinker, zusammengelebt hat, hat er trotz der Adoption seinen Namen behalten.«
Sophie merkte, wie ihr schwindlig wurde. McLean? Trinker? Hatte Tom etwas mit ihrer Familie zu tun? War er deshalb abgehauen? Und hatte er vielleicht Emmas Geschichte gestohlen? Es drehte sich alles in ihrem Kopf.
»Und was war mit seiner Mutter?«, fragte sie mit belegter Stimme.
»Die ist wohl gleich nach der Geburt mit einem anderen Kerl auf und davon. Er hat einiges hinter sich. Aber trotzdem: Er hat sich seit Weihnachten nicht mehr bei mir gemeldet. Das hat er noch nie gemacht. Wissen sie, was ich denke? Er hat geahnt, dass ich schwanger bin, und hat die Flucht ergriffen. Das ist meine größte Angst!«
»Das glaube ich nicht!«, erwiderte Sophie ganz mechanisch, während es in ihrem Kopf wild durcheinanderging. Schauen Sie mal ins Telefonbuch. So viele McLeans, hatte Judith gesagt. Sophie, du verrennst dich da in etwas, ermahnte sie sich selber. War sie tatsächlich so verrückt, wie Jan im Zorn behauptet hatte? Auf jeden Fall völlig besessen, dachte sie mit Schrecken, besessen von der Idee, Thomas Holden zu finden. So besessen, dass ich sogar in diesem beziehungsunfähigen Tom jenen Thomas Holden vermutete. Sie schüttelte sich. So weit ist es also schon mit mir gekommen! Ich muss aufpassen, sonst verliere ich wirklich den Verstand.
»Er hat nichts damit zu tun! Das wäre ein merkwürdiger Zufall«, murmelte sie in sich hinein.
»Sophie?«, hörte sie nun die Anwältin wie von Ferne fragen. »Haben Sie etwa gedacht, Tom wäre jener zweite Erbe, den ihre Mutter bedacht hat?«
Sophie nickte beschämt.
»Natürlich müssen Sie jeden Strohhalm ergreifen. Aber Tom? Nein, das ist absurd. Und wissen Sie auch, warum? Er bräuchte dringend Geld, um sich seinen Traum von einer eigenen Kanzlei zu erfüllen, und wenn er wüsste, dass er so viel geerbt hat, würde er doch nicht weglaufen, sondern sich uns sofort offenbaren. Und das Testament Ihrer Mutter befand sich nicht in einem Umschlag, sondern war in der Akte abgeheftet, in einer Klarsichthülle! Er hätte es auf einen Blick erkennen können.«
Sophie schluckte trocken. Es war ihr peinlich, dass sie überhaupt auf diesen dummen Einfall gekommen war. Aber trotzdem: Konnte es wirklich Zufall sein, dass er ausgerechnet McLean hieß? So wie ihre Mutter? McLeans gibt es hier bestimmt wie Sand am Meer, Sophie, sprach die innere Stimme erneut. Oh Gott, ich muss aufhören mit diesen dummen Spekulationen, ermahnte sich Sophie, sonst werde ich eines Tages wie eine Irre durch Dunedin rennen und jeden Passanten auf der George Street fragen, ob er nicht Thomas Holden ist.
»Störe ich? Ich habe euch schon überall gesucht«, unterbrach John Franklin ihr Grübeln.
»Nein, gar nicht. Ich wollte eh zurück«, erklärte Judith sofort, sprang auf und ließ die beiden allein.
»John? Emmas Testament. Sie sagten, sie hat ein neues aufgesetzt. Wo ist das erste geblieben, das meine Mutter bei Ihrem Vater aufgesetzt hat?«
Der Anwalt setzte sich dicht neben sie. So dicht, dass sich ihre Arme berührten.
»Ihre Mutter hat mich gebeten, ihr alle Aufzeichnungen und Unterlagen aus der Akte von damals zu überlassen. Auch das ungültige alte Testament. Ich fragte sie sogar noch nach dem Grund.«
»Und was hat sie geantwortet?«
»Sie hat wortwörtlich gesagt: Meine Tochter könnte sofort alles aus den Aufzeichnungen erfahren. Auch, wer Thomas Holden ist. Sie soll es aber nicht den schnöden Papieren entnehmen. Sie soll es nämlich nicht nur wissen, sondern fühlen. Es soll sie im Herzen erreichen! Und das, so sagte sie wörtlich, könne nur geschehen, wenn Sie ihre Geschichte in Ruhe lesen würden.«
»Typisch Emma! Das hat ihr bestimmt diese Lebensberaterin in Hamburg eingeredet. Wissen Sie eigentlich, dass in den Aufzeichnungen meiner Mutter der Teil fehlt, der ihre eigene Geschichte erzählt? Und der Name Holden nirgendwo auftaucht?«
»Nein. Wirklich? Ich habe Ihnen alles so übergeben, wie es mir Ihre Mutter überreicht hat.« John klang verunsichert.
»Mit fast hundert leeren Blättern?«
John zuckte mit den Achseln: »Ich habe nie einen Blick hineingeworfen. Vielleicht auch mit leeren Blättern!« Täuschte sie sich, oder klang seine Stimme unwirsch?
Sophie beschloss, die schöne Stimmung nicht zu verderben. Wortlos blickte sie auf das Meer, das jetzt leicht bewegt war. Wind war aufgekommen und spielte mit ihrem blonden Haar. Dank Judith' Strickjacke war ihr trotzdem noch warm. Ihre Gedanken schweiften in die Vergangenheit, und sie musste an diesen widerlichen Philipp McLean denken.
»John, Sie haben doch so viele aufgezeichnete Fälle in Ihrer Kanzlei. Sind die alle aktuell, oder reichen auch welche zurück bis ins neunzehnte Jahrhundert?«
Er lächelte: »Mit welchem Fall kann ich Ihnen denn dienen?«
Sophie fühlte sich ertappt. Sie hatte sich erst einmal vorsichtig vortasten wollen, aber nun sah es so aus, als bäte sie ihn schon wieder um Hilfe. Wie sollte sie ihm das jemals vergelten?
»Es geht um einen Mord. Im Jahre 1881 wurde die Farmersfrau Melanie McLean von ihrem Mann Philipp erschlagen. Ich hätte gern gewusst, warum der nur zwei Jahre bekommen hat.«
John betrachtete sie prüfend. »Ist der Mann ein Vorfahre von Ihnen?«
»Um Gottes willen, nein! Das ist ein Zufall, dass meine Mutter so hieß!«, erwiderte Sophie empört.
»Ich will mal sehen, was sich machen lässt«, versprach John, während er einen Blick auf seine Armbanduhr warf.
»Wollen wir wieder zu den anderen gehen? In drei Minuten ist Mitternacht.«
»Hier ist es doch viel schöner!« Sophie wandte sich ihm zu.
Auch in seinen dunklen Locken verfing sich jetzt der Wind. Er sah sie durchdringend an. Sophie konnte seinen Blick nicht deuten. Sie hätte zu gern gewusst, was er in diesem Moment dachte, aber da näherte sich sein Mund bereits dem ihren. Sie spürte seine kühlen Lippen, spürte Leidenschaft und Zurückhaltung zugleich. Sophie vergaß alle Bedenken und erwiderte seinen Kuss. Ihr Körper stand in Flammen. Als sie sich voneinander lösten, raunte er mit belegter Stimme: »Ich wünsche dir, dass alle deine Wünsche in diesem Jahr in Erfüllung gehen mögen!«
»Das wünsche ich dir auch!«, hauchte Sophie, ein wenig verlegen, weil ihr nichts Besseres eingefallen war.
»Hier bist du, ich suche dich schon überall!« Der Vorwurf war nicht zu überhören. Schon warf die Blondine, die John vorhin zum Tanzen aufgefordert hatte, sich neben ihn in den Sand und umarmte ihn herzlich.
»Das ist Lynn, und das ist Sophie, eine Mandantin von mir«, stellte John die beiden Frauen einander vor.
Es war Lynn deutlich anzumerken, dass sie kein Interesse daran hatte, Sophie näher kennenzulernen. Und auch Sophie fühlte sich sichtlich unwohl. Eine Mandantin war sie also in seinen Augen. Ob er alle seine Mandantinnen so inniglich küsste? Und warum hatte er ihr nicht gesagt, wer die Blonde war? Seine Friseuse, seine Therapeutin - oder etwa seine Freundin?
Sophie wandte den Blick von den beiden ab, denn Lynn hatte ihren blonden Schopf nun zärtlich an seine Schulter gelegt. »Ich muss los!« Abrupt sprang Sophie auf. John stand ebenfalls auf. »Ich begleite dich!«
»Musst du wirklich schon gehen?«, quengelte Lynn.
»Ich bin gleich wieder da«, versprach John und fragte Sophie sachlich: »Willst du dich noch von Judith verabschieden?«
Sophie nickte.
Der Anwältin schien es schon wieder besser zu gehen, jedenfalls tat sie so, als Sophie und John auf die Veranda traten.
»Ich wünsche Ihnen, dass Ihr Freund ein wunderbarer Vater wird!«, raunte Sophie Judith beim Abschied zu, lächelte sie dankbar an und drückte ihre Hand.
»Und ich wünsche Ihnen, dass sich alles zu Ihrer Zufriedenheit aufklärt und Sie endlich um Ihre Mutter trauern können«, sagte Judith und überraschte Sophie mit einem Kuss auf die Wange.
Schweigend fuhren Sophie und John in die Stadt zurück. Er hatte einen neuseeländischen Radiosender angeschaltet. Ein Neujahrskonzert. Ausgerechnet das Opus zwanzig, die Sonnenquartette, durchfuhr es Sophie. Emma hat Haydn so geliebt!
Als sie die Innenstadt erreichten, waren die Straßen voller Menschen, aber Sophie hatte nur noch den einen Wunsch: allein zu sein!
Dieses Mal aber machte John nicht einmal Anstalten, sie bis vor die Zimmertür zu begleiten; er schien es eilig zu haben. Klar, er will zurück zur Party, dachte Sophie traurig. Die Langbeinige mit dem Minirock wartet.
Er sagte zum Abschied nur freundlich: »Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.« Er war zwar mit ausgestiegen, aber an einen Abschiedskuss war nicht zu denken, denn er wahrte einen gehörigen Abstand zu ihr.
»Würdest du mich morgen nach Pakeha, ich meine Ocean Grove, begleiten?«, hörte sich Sophie nun fragen und lief augenblicklich rot an. Das hatte sie doch gar nicht sagen wollen, denn sie wollte auf keinen Fall aufdringlich wirken, aber Johns Gesicht hellte sich merklich auf.
»Gern! Ich hole dich gegen Mittag ab! Und zerbrich dir nicht unnötig den Kopf über diesen Holden. Wie ich hörte, hast du ja schon einen Detektiv auf ihn angesetzt.«
»Woher weißt du das?«, entfuhr es Sophie erschrocken. Sie hatte es ihm jedenfalls nicht erzählt.
»Von Wilson!«, erwiderte er breit grinsend.
»Aber warum hast du mir denn nicht gesagt, dass du den kennst?«, fauchte Sophie empört.
»Was hätte ich denn sagen sollen? Wilson ist die schmierigste, geldgeilste Ratte von ganz Dunedin, aber wir arbeiten alle mit ihm?« John grinste immer noch.
Sophie aber wurde immer wütender. »Und wieso sagt er dir, dass ich einen Thomas Holden suche?«
»Schließlich muss ich auch in knapp acht Wochen wissen, wo der sich aufhält, um ihn von seinem Erbe zu unterrichten. Deshalb wollte ich Wilson einschalten. Und der sagte nur: ›John, das mache ich für einen alten Kumpel wie dich natürlich umsonst! Die deutsche Lady zahlt, und ich werde dich vom Stand der Dinge unterrichten‹ Bis morgen, Sophie.«
Sophie war völlig verdutzt. Sie hätte gern noch Näheres über diesen seltsamen Deal auf ihre Kosten erfahren, aber da stieg John bereits wieder in seinen Jeep.
Nachdenklich betrat Sophie das Hotel. Bevor sie auf ihr Zimmer ging, schaltete sie den Hotelcomputer in der Lobby an und sah nach, wo Samoa lag. Genau dort, wo ich es vermutet habe, stellte sie befriedigt fest. Im südwestlichen Pazifik.
Sophie lag auf dem Bett und grübelte über die Ereignisse des Tages nach. In die beschämenden Gedanken an ihren absurden Verdacht bezüglich Tom schlich sich immer wieder der Kuss ein.
Schließlich sprang Sophie auf und griff sich das Manuskript. Sie hatte noch gar nicht angefangen zu lesen, als ihr das brüchige Büchlein aus Emmas Nachlass einfiel. Die Kiste hatte sie in die hinterletzte Ecke des Schrankes geschoben, noch hinter Emmas Handtasche. Nun zerrte sie sie aus dem Versteck, öffnete sie, nahm gezielt das schwarze Buch heraus und blätterte es auf. Otago 1863, das konnte sie gerade noch lesen. Alles andere war in einer Schrift geschrieben, die sie nicht entziffern konnte, aber es gab keinen Zweifel: Das hier war Annas Tagebuch, und Emma hatte es nicht nur gelesen, sondern sich auch die Mühe gemacht, ihr, Sophie, die wichtigsten Stationen im Leben ihrer Ahnin nahezubringen.
Nachdenklich legte Sophie den Band in die Kiste zurück, schloss den Deckel und ließ sie wieder im Schrank verschwinden, aber nicht, ohne vorher die Daguerrotypie noch einmal zu betrachten. Dieses Mal nahm sie Christian genauer unter die Lupe. Wenn sie ihn jetzt so mit Abstand betrachtete, konnte er einem eigentlich leidtun. Wie gehemmt er in die Kamera blickte! Kein schönes Leben, das er da gehabt hatte!