Dunedin, im Dezember 1915

 

Als in der Princes Street Bill John McLean, ein kräftiger Junge mit einer lauten Stimme und einem dunklen Haarschopf, das Licht der Welt erblickte, war die Freude groß. Wenn Kate nicht längst entschieden hätte, ihren Sohn nach seinem Vater und dem Großvater mütterlicherseits zu nennen, sie hätte es spätestens jetzt getan. Der kleine Wurm ist seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten, dachte Kate gerührt, als sie ihn zum ersten Mal im Arm hielt. Und ein bisschen von Großvater John hat er auch!

Auch Nora hatte sich sofort in den kleinen Kerl verliebt und verwöhnte Mutter und Kind wie eine Königin und ihren Prinzen. Dabei schwor sie ihrer Schwägerin, dass sie es ihr alsbald nachmachen würde. Sie wollte so gern ein eigenes Kind. Ein Wunsch, dessen Erfüllung ihr bislang versagt geblieben war.

 

Am dritten Tag nach Bill Johns Geburt drang eine laute Stimme in Kates Schlafzimmer.

»Sie muss ja auch nur so lange in Opoho leben, wie er ihre Betreuung braucht, und jetzt lass mich zu ihm!«, brüllte Paul McLean.

Kate warf einen prüfenden Blick auf die Wiege, die neben ihrem Bett stand. Bill John schlief süß und selig.

»Du wirst da nicht reingehen und sie mitnehmen. Nur über meine Leiche!,«, schrie Nora.

Kate zog sich ihren Morgenmantel über, schlüpfte in ihre Hausschuhe und trat auf den Flur, wo sich Vater und Tochter unversöhnlich gegenüberstanden. »Kate, ich erledige das schon. Leg dich ruhig wieder hin!«, befahl Nora streng.

Aber Kate fragte ihren Schwiegervater mit ruhiger Stimme: »Was führt Sie her?«

Paul wirkte plötzlich verstört. »Was mich herführt? Ich möchte meinen Enkel sehen!«

»Bitte! Aber nur, wenn Sie ganz leise sind. Er schläft gerade«, antwortete Kate.

Nora schüttelte den Kopf. Es war offensichtlich, dass sie das niemals erlaubt hätte.

»Keine Angst, Nora. Ich denke, er wird sich wie ein anständiger Großvater verhalten.« Damit öffnete Kate leise die Tür und ließ ihn eintreten.

Auf Zehenspitzen ging Paul McLean auf die Wiege zu. Sein hartes, unversöhnliches Gesicht bekam weiche Züge. »Bill!«, flüsterte er. »Mein kleiner Bill!«

Kate ließ ihn eine Weile gewähren, bevor sie ihn bat, ihr in den Salon zu folgen. Nora hatte vor der Tür Wache gehalten. Sie schien dem Frieden nicht so recht zu trauen.

»Worüber habt ihr euch vor meiner Tür gestritten?«, fragte Kate nun.

Paul McLean schwieg.

»Er verlangt, dass du mit Bill zu ihm nach Opoho ziehst!« Noras Stimme zitterte vor Aufregung.

»Niemals!«, erklärte Kate entschieden.

»Das habe ich ihm auch gesagt, aber er will nicht hören!«

Paul McLean funkelte seine Tochter wütend an. »Es ist mein einziger Erbe, er gehört in mein Haus, unter meine Obhut.«

»Aber ich möchte nicht unter Ihrem Dach leben. Sie hassen mich. Und ich weiß inzwischen auch, warum!«, entgegnete Kate fest.

Paul und auch Nora sahen Kate fragend an. »Ich habe inzwischen erfahren, dass eure und meine Großmutter beste Freundinnen waren, Nora. Eure Großmutter hat sich nicht umgebracht. Das ist eine infame Lüge. Sie ist ermordet worden. Als Melanie gegen die ständigen Misshandlungen durch ihren Mann Philipp aufbegehrte, hat er sie einfach erschlagen. Er hat behauptet, es sei ein dummer Unfall gewesen, und gehässige Gerüchte über seine Frau verbreitet. Melanie hätte ihn betrogen, und das nicht nur mit einem irischen Lehrer, sondern sogar mit einer Frau, mit meiner Großmutter. Doch das waren nur schmutzige Lügen. Dein Großvater wurde verurteilt, aber nur zu zwei Jahren Gefängnis. Dein Vater hat nämlich behauptet, er sei Zeuge des Unfalls gewesen -«

Da fühlte Kate einen brennenden Schmerz auf der Wange. Paul McLean hatte ihr mitten ins Gesicht geschlagen. Nora stand mit erhobenem Arm da, als drohten auch ihr Schläge.

»Ich habe nichts anderes von Ihnen erwartet!«, zischelte Kate ihrem Schwiegervater zu.

»Du überlässt mir das Kind, du freches Weibstück! Du kannst meinetwegen verrecken. Ich werde dich nicht unter meinem Dach dulden, aber der Junge, der Junge gehört mir!«, schrie er.

Mit diesen Worten trat er entschlossen auf das Schlafzimmer zu, aber Kate war schneller. Sie warf sich schützend vor die Tür und fauchte: »Wagen Sie es nicht, mein Kind anzurühren!«

»Vater, sei vernünftig! Erlaube Kate und Bill, in diesem Haus zu leben, wenn wir fortgezogen sind. Dann wirst deinen Enkel sicher jederzeit besuchen dürfen. Nicht wahr, Kate?«, mischte sich Nora ein. Das klang ängstlich.

Ob auch er seine Kinder geschlagen hat? Dieser Gedanke durchfuhr Kate wie ein Blitz, und sie ballte die Fäuste. Ihr Kind würde er nicht zerstören. Seine brutalen Erziehungsmethoden hatten schon genug Schaden angerichtet.

»Kate, er darf Bill doch besuchen, oder?«

»Ja, das darf er!«, erwiderte Kate, während sie ihrem Schwiegervater kampfbereit gegenüberstand. Der zögerte, sie zur Seite zu schubsen.

»Aber Bill John ist und bleibt mein Kind. Und kein Gericht der Welt würde es Ihnen zusprechen.«

»Oho!«, höhnte er. »Da sei dir mal nicht so sicher! Eine deutsche Spionin hat im Moment schlechte Karten.«

»Vater, damit kommst du nicht durch!«, rief Nora verzweifelt. »Ich würde vor dem Richter beschwören, dass Kate nur eine neuseeländische Mutter ist, die ihr Kind nicht den Fängen eines prügelnden Großvaters überlassen will. Geh weg von der Tür, und sei vernünftig! Lass sie in Frieden in diesem Haus leben.«

»Das Haus bekommt Jane, und die da wird noch zu Kreuze kriechen. Worauf du dich verlassen kannst. Sie wird mir meinen Enkel freiwillig geben. Ich werde sie aushungern und aus dem Land jagen. Sie wird noch froh sein, dass das Kind bei mir ein Dach über dem Kopf hat.«

Mit diesen Worten polterte er fluchend davon.

Nora fiel Kate erleichtert um den Hals und schluchzte: »Komm mit uns nach Europa, Kate! Wir werden in Edinburgh ein großes Haus haben. Und auch die Schotten werden deine Bilder mögen.«

»Aber Nora, der Krieg ist noch nicht zu Ende. Und so, wie es aussieht, werdet ihr noch ein wenig bleiben.«

»Wir können nicht mehr warten. Wir fahren noch in diesem Monat. Ich wollte es dir die ganze Zeit sagen, aber ich habe es nicht über mich gebracht. Und deshalb beschwöre ich dich: Komm mit! Vater wird dir das Leben zur Hölle machen! Glaube es mir! Jetzt, wo er weiß, dass du sein Geheimnis kennst. Sag, woher weißt du das eigentlich?«

»Meine Großmutter hat Tagebuch geschrieben.«

»Das wird er dir nie verzeihen!«, murmelte Nora.

»Schon möglich!«, entgegnete Kate. »Aber ich möchte, dass Bill John in Neuseeland aufwächst. Und ich habe doch noch Pakeha.«

»Das wird er dir auch noch nehmen«, prophezeite Nora traurig.

»Nein, Bill hat sich vor seiner Abreise von ihm unterschreiben lassen, dass Pakeha mir gehört, wenn ihm etwas zustößt. Wenn ihr abreist, werde ich mit dem Kleinen dort einziehen und zusehen, dass ich mit meinen Bildern den Lebensunterhalt bestreiten kann. Keine Sorge, Nora, ich bin stark. Ich schaffe das schon!«

 

Die Zeit bis zu Noras Abreise verging wie im Flug. Noch vor Weihnachten fingen die Varells zu packen an.

Kate bat Nora, sie ein letztes Mal nach Opoho zu begleiten, denn sie wollte ihre Sachen endgültig abholen. Es kostete ihre Schwägerin viel Überredungskunst, dass man sie überhaupt ins Haus ließ. Kate mit dem kleinen Bill auf dem Arm musste vor der Tür warten. Dabei bemerkte sie, wie sie aus dem ersten Stock beobachtet wurde. Paul schien einen heimlichen Blick auf seinen Enkel erhaschen zu wollen, zeigte sich jedoch nicht.

 

Der Abschied von Nora und Peter war schmerzhaft für Kate. Trotzdem ließ sie es sich nicht nehmen, die beiden zum Hafen zu begleiten. Sie drückte ihren Sohn noch fester an die Brust, nachdem das Schiff außer Sichtweite war. Dann kehrte sie in die Princes Street zurück. Peter hatte ihr geraten, so lange im Haus zu bleiben, bis Jane dort einziehen würde.

Als sie vom Hafen in die Princes Street zurückkehrten, erblickte Kate als Erstes einen Wagen, der voller Möbel war. Sie stutzte, doch dann traf sie im Haus ihre überaus geschäftige Schwägerin.

»Was tun Sie noch hier?«, fragte Jane bissig.

»Ich wusste nicht, dass das Haus so schnell den Besitzer gewechselt hat«, erwiderte Kate kalt.

»Sie haben eine Stunde Zeit, um Ihre Sachen auszuräumen. Dann will ich Sie und Ihr Blag nicht mehr sehen, verstanden?«

Wie betäubt packte Kate ihr Hab und Gut zusammen, während Bill selig schlief.

Ohne sich noch einmal umzuschauen, fuhr sie wenig später mit ihrem Gespann hinaus nach Pakeha. Sie erinnerte sich an die erste Fahrt dorthin. Mit Bill ... Kate spürte, dass ihre Wangen feucht wurden, doch sie trocknete die Tränen entschlossen mit dem Ärmel ihrer Bluse. Sie durfte nicht zurückschauen. Nur die Zukunft zählte!