Dunedin, im Januar 1935
Es war purer Zufall, dass Kate je wieder etwas über den Verbleib ihres Stiefsohnes erfuhr.
Sie konnte es kaum glauben, obwohl sie Bill Johns Brief immer und immer wieder las.
Seit drei Monaten studierte er in London Medizin. Kate hatte ihn nur ungern ins ferne Europa ziehen lassen. Noch schwerer war allerdings Christine Cramer der Abschied von ihm gefallen. Nachdem ihre Eltern beim großen Erdbeben in Napier ums Leben gekommen waren, hatte Kate sie in ihre Obhut genommen. Das Mädchen war Kate ans Herz gewachsen wie eine eigene Tochter, nur eines machte ihr Sorgen: Christine hing wie eine Klette an Bill John und betrachtete ihn bereits als ihren zukünftigen Ehemann.
Kate seufzte. Insgeheim hoffte sie, dass Bill in London die Chance ergreifen würde, eine junge Frau kennenzulernen, die besser zu ihm passte. Bill John durfte seine Entscheidung nicht aus falscher Rücksicht treffen. Ein paar Tage vor der Abreise hatte er ihr plötzlich anvertraut: »Ich kann sie nicht allein lassen!«
»Warum nicht?«, hatte Kate gefragt.
Bill John hatte gezögert. »Sie sagt, wenn ich gehe, bringt sie sich um!«
Kate hatte ihm erklärt, dass eine Drohung keine Basis für eine Ehe sei und dass er sich sein Leben lang Vorwürfe machen würde, wenn er nicht nach London ginge.
»Und mache ich mir etwa keine Vorwürfe, wenn sie sich wirklich etwas antut?«, hatte er eingewandt.
Kate hatte versprochen, auf Christine aufzupassen, und ihn beruhigt. »Sie bringt sich nicht um. Glaube mir!«
Das alles ging Kate wieder durch den Kopf, als sie den Brief noch einmal von vorn zu lesen begann.
»Was schreibt er denn? Sag mir, was er schreibt!«, forderte Christine ungeduldig. Dass sie selber erst gestern einen eigenen Brief von ihm erhalten hatte, schien sie nicht daran zu hindern, Kate beim Lesen zu stören. Er schrieb voller Lebenslust, und Kate musste öfter schmunzeln. Vor allem an der Stelle, an der er von einer bildhübschen Kommilitonin aus Christchurch schwärmte. Doch erneut erstarrte sie bei den folgen Zeilen:
Ich glaube, ich habe Walter gesehen, aber als ich auf ihn zueilen wollte, wechselte er die Straßenseite und verschwand in der Menge. Er war es bestimmt. Ich würde ihn unter Tausenden erkennen. Bei ihm war eine Frau, die einen Kinderwagen schob. Schade, ich hätte ihn zu gern gefragt, warum er uns verlassen hat.
Kate versuchte, sich ihre Bestürzung nicht anmerken zu lassen, aber schon fragte Christine neugierig: »Was ist passiert? Geht es ihm nicht gut?«
»Kein Grund zur Besorgnis!«, erwiderte sie knapp.
»Sag mir die Wahrheit! Es ist doch etwas geschehen.«
»Bill John glaubt, Walter auf der Straße gesehen zu haben«, erwiderte Kate seufzend.
»Der Kerl kommt aber nicht zurück, oder? Seid bloß froh, dass er weg ist! Ich hab ihn noch nie leiden können«, erklärte Christine ungerührt.
Kate zog es vor, das Gespräch zu beenden. »Mach dich fertig, Christine. Wir fahren gleich nach Pakeha«, sagte sie und faltete den Brief zusammen. An ihrem Herzklopfen erkannte sie, dass sie die Nachricht von Walters Verbleib alles andere als kaltließ.