Heiligabend 2007. Über den Wolken

 

Das Personal von Thai Airways war auf dem Flug von Frankfurt nach Auckland nach Kräften bemüht, den wenigen europäischen Passagieren den Aufenthalt an Bord so weihnachtlich wie möglich zu gestalten. Im Bordkino lief an diesem Abend Irving Berlins White Christmas mit Bing Crosby, und als erstes warmes Essen sollte Ente mit Rotkohl auf deutsche Art serviert werden.

Sophie de Jong schüttelte sich schon beim Lesen der Menükarte. Sie waren jetzt anderthalb Stunden unterwegs und befanden sich laut Ansage des Copiloten gerade über Wien. Sie konnte die Lichter der Stadt dort unten ganz deutlich funkeln sehen. Beim Anblick des Lichtermeers stiegen ihr sofort Tränen in die Augen, aber sie wischte sie mit dem Ärmel ihrer Jacke hastig fort.

»Darf es noch etwas zu trinken sein?«, fragte die Stewardess freundlich.

Sophie nickte. »Ja, danke. Ich nehme noch einen Beaujolais.«

Sie konnte sich sogar zu einem krampfhaften Lächeln durchringen, als die Stewardess ihr ein Glas Rotwein reichte. Das Lächeln erstarb jedoch, kaum dass sich die junge Thailänderin umgedreht hatte. Der Gedanke, dass sie diesen Abend mit ihrer Mutter in Hamburg gefeiert hätte, wenn nicht das Unfassbare geschehen wäre, versetzte Sophie einen Stich ins Herz. Nun konnte sie die Tränen nicht länger unterdrücken. Sie liefen ihr plötzlich die Wangen hinunter. Warum nur?, fragte sich Sophie verzweifelt. Wie konnte das passieren? Emma war doch immer so eine vorsichtige Frau. Diese Fragen quälten sie seit gestern, als sie die Nachricht vom Tod ihrer Mutter erhalten hatte. Sie holte ein Taschentuch hervor und vergrub ihr Gesicht darin. Auf keinen Fall wollte sie von diesen fremden Menschen, die wie sie den Heiligen Abend über den Wolken verbrachten, auf ihren Schmerz angesprochen werden.

Ihr Verlobter Jan hatte sie dazu überreden wollen, erst nach Weihnachten zu fliegen, aber das war Sophie ganz unmöglich erschienen. Sie musste erfahren, was am anderen Ende der Welt wirklich geschehen war.

Immer wieder ertappte sie sich bei der vagen Hoffnung, dass es sich doch nur um eine Verwechslung handelte, die sich bald aufklären würde.

»Ihre Mutter Emma de Jong ist heute auf dem Weg von Dunedin nach Ocean Grove tödlich verunglückt«, hatte der neuseeländische Anwalt, der sich mit John Franklin gemeldet hatte, in deutscher Sprache mit englischem Akzent am Telefon gesagt. »Falsch verbunden«, hatte Sophie schlaftrunken in den Hörer gemurmelt und eilig aufgelegt. Es war kurz vor Mitternacht gewesen. Doch der Mann hatte gleich darauf noch einmal angerufen. »Entschuldigen Sie bitte, ich hätte es Ihnen schonender beibringen müssen, aber es ist am Telefon so schwer. Es tut mir unendlich leid, aber können Sie herkommen? Ich habe ihr Testament.«

Testament? Das grausame Wort brannte immer noch in Sophies Ohren. Bei dem zweiten Anruf erst hatte sie jäh begriffen, was er gesagt hatte, aber ihre Gefühle weigerten sich hartnäckig, den Tod ihrer Mutter zu akzeptieren. Davon, dass Emma nicht mehr lebte, musste sie sich mit eigenen Augen überzeugen. Mit aller Kraft wollte sie daran glauben, dass alles nur ein fataler Irrtum war. Emma war auf einer Urlaubsreise gewesen. Wenn ihr etwas zugestoßen wäre, hätte sich doch wohl eher die Polizei gemeldet und kein Anwalt. Und wieso sollte Emma de Jong überhaupt einen Rechtsanwalt in Dunedin kennen? Einen, der ihr Testament besaß?

»Woher kennen Sie meine Mutter?«, hatte Sophie den Fremden noch gefragt, aber der hatte geantwortet, dass er es ihr vor Ort erklären wolle, weil es zu kompliziert sei, um es ihr am Telefon auseinanderzusetzen. Er hatte immer wieder versichert, wie leid es ihm tue, doch sie hatte nicht einmal geweint. Die ganze Zeit nicht. Bis jetzt.

Sophie schluchzte laut. In diesem Augenblick fragte sie sich zum ersten Mal, was wohl wäre, wenn es sich nicht um einen Irrtum handelte. Bei der Vorstellung, was sie in jenem Land am anderen Ende der Welt vielleicht erwartete, beschleunigte sich ihr Herzschlag merklich und ihr Magen klumpte sich zusammen. Eine diffuse Angst ergriff plötzlich Besitz von ihr, eine Angst, die sich in Panik auszuweiten drohte.

»Kann ich Ihnen helfen?« Die fürsorgliche Stimme der Stewardess ließ Sophie zusammenschrecken.

»Nein, nein, alles in Ordnung. Ich habe ein wenig Schnupfen.« Sie konnte nicht mehr verhindern, dass die Flugbegleiterin ihr das Essentablett reichte, und sofort löste der Geruch der gebratenen Entenkeule Übelkeit in Sophie aus. Obwohl sie seit dem Vortag keinen Bissen angerührt hatte, hob sie gar nicht erst den Aludeckel über dem Teller an, sondern schob das Tablett möglichst weit von sich fort. Ihr Nachbar, ein älterer Herr, dem Äußeren nach zu urteilen ein Thailänder, sagte besorgt: »Solly, Sie müssen essen.«

»Nein!«, erwiderte Sophie knapp und bot ihm ihre Portion an. »Ich habe sie nicht angerührt«, fügte sie hinzu und nahm einen kräftigen Schluck von dem Rotwein.

Da sie in der vergangenen Nacht kein Auge zugetan hatte, sehnte sie sich danach, endlich ein wenig zu schlafen. In der Hoffnung, der schwere Rote würde ihr die Angst nehmen und sie schläfrig machen, trank sie das Glas hastig leer und schenkte sich gleich ein zweites ein. Der Schlaf des Vergessens! Das war es, wonach sie sich sehnte. Zur Sicherheit schluckte Sophie zusätzlich ein leichtes Beruhigungsmittel. Das hatte sie in der Handtasche, seit sie mit ihrer Klasse einen Kunstwettbewerb gewonnen und im Rathaus eine Rede vor den Honoratioren hatte halten müssen. Sie seufzte bei der Erinnerung an diesen unvergesslichen Abend. Ihre Mutter hatte in der ersten Reihe gesessen und wäre vor lauter Stolz auf ihre Tochter beinahe geplatzt.

»Solly, blauchen Sie Hilfe?«, hörte sie nun ihren Nachbarn fragen, aber sie schüttelte nur abwehrend den Kopf und schloss die Augen, bemüht, zur Ruhe zu kommen. Aber die Gedanken tobten wie ein Wirbelsturm durch ihr Hirn. Kein Gedanke ließ sich fassen. Und über allem hing diese lähmende Furcht.

Ich bin jetzt ganz allein, dachte Sophie, mit vierunddreißig Jahren Vollwaise. Diese Gewissheit schnürte ihr die Kehle zu. Sie spürte eine schmerzhafte Sehnsucht nach ihrem Vater und Trauer darüber, dass er ihr nicht beistehen konnte. Sie sah ihn wieder vor sich in seinem Krankenbett, an dem sie bis zu seinem letzten Atemzug gewacht hatte, bis der Krebs ihn endgültig besiegte. Lag das wirklich schon zwei Jahre zurück? Seitdem war kein Tag vergangen, an dem sie ihn nicht vermisst hatte.

Emma hatte sich nach dem Tod ihres Mannes völlig verändert. Sie lebte fortan in einer düsteren Gedankenwelt, zu der sie niemandem Zutritt gewährte - nicht einmal ihrer Tochter. Von einem Tag auf den anderen hatte sie ihre Stelle als Journalistin aufgegeben und nie wieder eine Reisereportage geschrieben. Alle hatten sich Sorgen um sie gemacht, aber keiner war mehr zu ihr durchgedrungen. »Depressionen«, hatte der Arzt diagnostiziert, eine Erklärung, die Sophie nie einleuchten wollte. Emma hatte die Medikamente, die er ihr verschrieben hatte, niemals angerührt. Sophie hatte Emma schließlich vorgeschlagen, zu ihr zu ziehen, doch auch der Wohnungswechsel hatte den seelischen Zustand ihrer Mutter nicht verbessert.

Erst seit Emma eine seltsame Frau konsultierte - eine Heilerin, wie Emma ehrfurchtsvoll behauptet hatte -, lebte sie schlagartig wieder auf. Einmal wöchentlich hatte sie diese Frau schließlich aufgesucht. Sophie hatte ihrer Mutter mehrfach angeboten, sie zu begleiten, weil ihr das nicht ganz geheuer war. Emma hatte das allerdings stets vehement abgelehnt. Auf der regenbogenfarbenen Visitenkarte der Dame hatte nichts von einer Ausbildung gestanden. Als »Lebensberaterin« präsentierte sie sich dort, und das war Sophie entschieden zu schwammig, aber Emma hatte auf ihre Heilerin nichts kommen lassen.

Dann plötzlich hatte ihre Mutter alle mit der Nachricht überrascht, dass sie für drei Monate nach Neuseeland reisen werde. Sie war wie in Trance gewesen, als sie ihrer Tochter davon erzählt hatte. Sophie hatte das Ganze für eine verrückte Idee gehalten.

»Hat deine Lebensberaterin dir diese Reise verordnet?«, hörte sie sich noch ironisch fragen. Und sie erinnerte sich noch genau an das entrückte, geheimnisvolle Lächeln ihrer Mutter, als wäre es gestern gewesen.

Sophie hatte Emma immer wieder mit der Frage bedrängt, warum sie ausgerechnet nach Neuseeland reisen wolle. Doch Emma hatte stets nur geantwortet: »Es muss sein. Du wirst es eines Tages verstehen.« Sophie hatte schließlich aufgehört, Fragen zu stellen. Es zählte doch schließlich nur, dass es ihrer Mutter endlich wieder besser ging. Und danach hatte es in der Tat ausgesehen. »Weihnachten bin ich zurück«, hatte Emma ihrer Tochter noch versprochen. »Dann bereiten wir deine Hochzeit vor.«

Die Hochzeit! Die war plötzlich unendlich weit weg - genau wie Jan. Mit jeder Meile, die Sophie sich von ihrem Zuhause entfernte, entschwand er zunehmend aus ihren Gedanken. Sophie musste sich regelrecht dazu zwingen, sich sein Gesicht in Erinnerung zu rufen. Dabei meldete sich sofort ihr schlechtes Gewissen, hatte er doch wirklich alles getan, was ein Mann nur tun konnte, wenn seine zukünftige Frau vom Tod der geliebten Mutter erfuhr. Oder etwa nicht? Plötzlich überfiel Sophie der Gedanke, dass Jan sie eigentlich hätte begleiten sollen. Schließlich war seine Kanzlei zwischen Weihnachten und Neujahr geschlossen. Andererseits ... War er nicht gewöhnt, dass sie alles allein regelte? Und schließlich brauchte auch er dringend Erholung von seinem anstrengenden Job. Aber trotzdem ... Sophie starrte nachdenklich aus dem Fenster und zwang sich, tiefer zu atmen.

Und es wirkte, allmählich entspannte sie sich. Statt wie ein Sturm durch ihr Inneres zu fegen, flossen die Gedanken nun wie ein ruhiger Fluss dahin. Sie fühlte sich ein wenig schläfrig, und statt der eisigen Kälte in ihrem Körper breitete sich eine wohlige Wärme in ihr aus.

Bilder ihrer Kindheit zogen an ihr vorüber wie ein Film: Das Haus in Hamburg mit dem großen Garten, in dem sie ihre frühste Kindheit verbracht hatte, der Umzug der Familie nach London, das Internat in Oxford, die vielen Länder, in denen die Eltern gelebt hatten. Sophie seufzte. Wenn sie damals geahnt hätte, wie wenig Zeit ihr noch mit ihren Eltern bleiben sollte, wäre sie vielleicht doch mit nach Afrika und nach Paris gegangen, wie es der diplomatische Dienst von ihrem Vater, Klaas de Jong, verlangt hatte. Sie aber hatte es vorgezogen, im englischen Internat zu bleiben und nicht erneut den Wohnsitz zu wechseln, um nicht den Freundeskreis zu verlieren.

Ihr Vater! Sie sah ihn vor sich: lachend, scherzend, immer gut gelaunt. Sophie war ein ausgesprochenes Vaterkind gewesen. Sie hatte besonders seinen Witz geliebt. Allein mit seinem Akzent, mit dem er als gebürtiger Holländer deutsch gesprochen hatte, hatte er sie immer wieder zum Lachen gebracht. Natürlich hatte Sophie auch an ihrer Mutter gehangen, aber Emma hatte sich stets wie eine Glucke um sie gesorgt, sie oft wie ein Kleinkind behandelt, ja, sie hätte ihre Tochter am liebsten in Watte gepackt. Das war Sophie manchmal zu viel geworden. Ihr Vater war im Vergleich herrlich unbekümmert gewesen.

Merkwürdig, dachte Sophie, von der Art her schlage ich eher nach ihr. Diese Unruhe, diese Rastlosigkeit - genau wie bei Emma. Schon als Kind hatte Sophie diese Unruhe in sich gespürt. In den Ferien hatte sie stets ihre Eltern besucht. Sie war jedes Mal unglaublich aufgeregt gewesen bei dem Gedanken, in ein fernes Land zu reisen, aber es war jedes Mal wieder eine herbe Enttäuschung geworden. Nirgendwo auf der Welt hatte sie das Gefühl gehabt, zu Hause zu sein. Weder im Internat noch in Hamburg, weder in Kapstadt noch in Paris. Und dieses Gefühl verfolgte sie bis heute. Selbst der Gedanke, den Rest ihres Lebens mit Jan von Innering zu verbringen, vermittelte ihr nicht die Geborgenheit, die sie sich von der Entscheidung, den erfolgreichen Anwalt zu heiraten, erhofft hatte.

Erneut wurde Sophie schmerzhaft bewusst, dass sie jetzt völlig allein auf dieser Welt war. Sie besaß keine nahen oder engen Verwandten mehr. Emma und Klaas hatten ihre Eltern früh verloren. Emma hatte immer erzählt, ihr Vater sei im Krieg in Frankreich gefallen und ihre Mutter kurz darauf an gebrochenem Herzen gestorben. Sophie merkte, wie die Müdigkeit Besitz von ihr ergriff. Sie wollte unbedingt mit der Erinnerung an den Mann einschlafen, den sie heiraten würde, aber Jans Gesicht blieb schemenhaft.