Ocean Grove, 20. Januar 2008

 

Sophie starrte eine Weile wie betäubt gegen die Zimmerwand. In ihrem Kopf tobte ein Orkan. Sie wollte und konnte nicht glauben, was sie da gelesen hatte. Vor allem mochte sie den Gedanken nicht zu Ende denken. Wenn Emma diesen Kerl wirklich geheiratet hatte, dann hieße das ja, sie hätte ihrem Vater und ihr zeitlebens eine Ehe verschwiegen und vielleicht sogar Schlimmeres ...

Sie sprang aus dem Bett. Bloß weg von dieser verdammten Geschichte!, dachte sie. Plötzlich wollte sie überhaupt nicht mehr wissen, wie es weiterging. Am liebsten hätte sie alles in tausend Schnipsel zerfetzt und im Meer versenkt.

Als sie schwer atmend unten ins Wohnzimmer trat, kehrte Judith gerade von ihrem sonntäglichen Ausflug ins Büro zurück. Auch sie wirkte nicht besonders glücklich.

»Judith, was ist passiert?«, fragte Sophie hastig, um von sich abzulenken.

»Dasselbe könnte ich dich fragen. Hast du ein Gespenst gesehen?«

»Nein, alles in Ordnung, ich habe nur ein wenig Hunger.«

»Leider habe ich nur noch Pizza bekommen. Der Fish and Chips-Stand hatte schon zu.«

Sie stellte eine große Schachtel auf den Tresen, öffnete sie, holte ein Messer und schnitt Sophie ein Stück von der Pizza ab. Sie selbst aß nichts.

»Ist was mit Tom?«, fragte Sophie zögernd, bemüht zu verbergen, dass das mit dem Hunger nur eine Ausrede gewesen war, um der Freundin zu verheimlichen, was für ungeheuerliche Dinge sie soeben erfahren hatte.

»Nein, das weniger. Das Testament gibt keinen Aufschluss darüber, warum er sich so merkwürdig verhält. Eigentlich könnte er sich doch freuen, dass er endlich das Geld für eine eigene Kanzlei hat. Es ist -«

Das Klingeln von Sophies Handy unterbrach die Ausführungen der Anwältin. Es war Wilson, der sie jovial begrüßte. »Sorry, dass ich heute störe, aber ich arbeite sonntags gern. Mit einem Bierchen, dann muss ich nicht mit meiner Frau diese Sonntagsausflüge unternehmen. Seien Sie froh, dass ich so gute Beziehungen habe!« Seine Stimme klang verschwörerisch. »Ich halte hier gerade die illegale Kopie einer Akte in der Hand. Einer Adoptionsakte. Die Akte von einem gewissen Tom McLean. Und jetzt halten Sie sich fest! Der Knabe heißt mit richtigem Namen Thomas Holden und ist der Sohn eines Harry Steven Holden und einer -«

Weiter kam er nicht, weil Sophie wortlos auf den Kopf mit dem Auflegesymbol drückte. Sie hatte das Gefühl, ins Bodenlose zu fallen. Nein, das konnte und wollte sie nicht glauben!

Sophies Telefon klingelte erneut. Seufzend nahm sie das Gespräch an.

»Na, da sind Sie ja wieder!«

»Ja! Schlechter Empfang«, sagte sie heiser.

»Gut. Ich habe eine Adresse von dem Jungen in Wellington. Die schicke ich Ihnen zusammen mit meiner Rechnung zu, und damit ist mein Job erledigt.«

»Okay! Machen Sie das!«

»Sophie, was ist geschehen?«, hörte Sophie Judith wie durch eine Nebelwand besorgt fragen.

»Nichts. Gar nichts! Bitte sag mir lieber, was mir dir los ist.« Sophie zitterte am ganzen Körper.

»Und du bist sicher, dass du das jetzt wirklich hören willst?«

Sophie nickte.

»Ach, ich hatte doch am Freitag eine Scheidungsverhandlung. Den Fall habe ich gewonnen, aber der Ehemann meiner Mandantin rastet jetzt aus und macht mich für alles verantwortlich. Er hat mir sogar in der Kanzlei auf den Anrufbeantworter gesprochen, dass ich es bedauern werde ...« Sie seufzte. »Normalerweise kann mich so eine Drohgebärde nicht schrecken. Ich hatte das schon öfter mal, aber ich glaube, ich bin im Moment zu dünnhäutig wegen der Sache mit Tom. Sophie, mach mir doch nichts vor! Wer war das eben am Telefon?«

»Der Detektiv«, gab Sophie zögernd zu.

»Und was hat er dir Schreckliches mitgeteilt? Du bist kreidebleich.«

»Es geht um Tom.«

»Was ist mit ihm? Ist etwas passiert? Geht es ihm gut?«

»Ich weiß jetzt, warum meine Mutter ihn zum Erben eingesetzt hat.«

Judith schaute sie entgeistert an.

»Er ist ihr Sohn!«, fuhr Sophie tonlos fort: »Tom ist mein Bruder!«