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An einem dunklen, stürmischen Abend saßen Scatterheart und ihr Vater am Feuer. Der Regen prasselte und der Wind riss an den Wänden ihrer kleinen Hütte. Plötzlich klopfte es dreimal an das Fenster. Der Mann sah hinaus. Dort stand ein großer weißer Bär.

Als Hannah das nächste Mal wach wurde, sickerte fahles Tageslicht durch das kleine Gitterfenster. Sie setzte sich auf. Die Zelle drehte sich ein wenig um sie und sie zitterte.

Ihre Handschuhe waren verschwunden, ebenso ihre Haube und ihre Schuhe. Sogar die Spitzenborte ihres Kleidersaums war abgerissen worden.

An der Wand saß eine alte Frau. Ihr Gesicht war so zerfurcht, dass Hannah sie auf mindestens hundert Jahre schätzte. Sie hatte ein altmodisches Mieder an, aber kein Oberteil, und sie trug einen mottenzerfressenen Rock von unbestimmter Farbe. Sie sah Hannah aus schwarzen glänzenden Augen an.

»Jemand hat meine Haube und meine Schuhe weggenommen«, sagte Hannah zu der alten Frau. »Haben Sie gesehen, wer das war?«

Die Frau antwortete mit einem so starken schottischen Akzent, dass Hannah sie kaum verstehen konnte.

»’ne Frau, die weint, is gradso zum Erbarmen wie ‘ne Gans, die barfuß läuft.«

Hannah beobachtete eine dicke Laus, die am Arm der Alten hinaufkrabbelte. Mit einem Mal packte die Frau das winzige Tier und steckte es in ihren zahnlosen Mund.

Sie kicherte. »Lecker, so ’ne frische Laus«, sagte sie kauend. Krachend ging die Zellentür auf und ein Wärter schob zwei Eimer hinein. In dem einen schwappte Wasser, der andere war mit Brotresten gefüllt. Die Gefangenen drängten sich darum und stürzten sich darauf wie hungrige Wölfe. Hannahs Magen knurrte. Sie stand auf und näherte sich vorsichtig dem Broteimer. Er war leer.

»Na, Frollein, hungrig?«, sagte jemand hinter ihr.

Hannah drehte sich um. Es war dieselbe Person, die sie in der Nacht von der Holzpritsche vertrieben hatte. Im trüben Tageslicht erkannte Hannah nun, dass es sich um eine junge Frau handelte, die kaum älter als zwanzig sein mochte. Sie war recht groß und hatte breite Schultern und lange Beine. Sie starrte vor Schmutz und ihr Gesicht war von Schorf und Pickeln übersät. Das Haar war dünn und strähnig und ihr fehlten einige Zähne. Sie hatte einen schmutzigen Rock an und ihr Mieder war so eng geschnürt, dass ihre Brüste hervorquollen. Auf ihrem Kopf trug sie Hannahs Haube. Die Frau saß auf dem Boden, den Rock nach oben geschoben, die nackten Beine ausgestreckt, und lehnte an einem dunkelhaarigen, bärtigen Mann, dessen eine Hand lässig auf ihrem Bein ruhte. Hämisch starrte sie Hannah an und hielt einen Kanten Brot hoch.

»Willst du?«

Beim Anblick des Brots lief Hannah das Wasser im Mund zusammen, aber sie beherrschte sich.

»Ich glaube, Sie haben meinen Hut«, sagte sie höflich. Die Frau lachte und erwiderte in einem gekünstelten Tonfall: »Ach, die Dame wird sich wohl täuschen. Das ist meine Haube, ein Geschenk von meinem Black Jack. Ein Häubchen von meinem Täubchen.« Sie tätschelte den Arm des Bärtigen. Dieser schlug ihren Rock ein wenig zurück und ließ seine Hand an ihrem Schenkel hochwandern. Hannah errötete. Die Frau gab ihr vornehmes Getue auf und betrachtete den Brotkanten.

»Du kriegst das Brot. Willst du?«

Hannah nickte.

Die Frau lächelte und zeigte ein paar einzelne graue Zähne. »Und ich will deinen Mantel.«

Hannah fasste mit ihrer Hand an den Pelzkragen. Die Frau hatte schon ihre Haube gestohlen, womöglich auch ihre Schuhe und die Handschuhe. Ihren Mantel sollte sie nicht bekommen!

»Ich lasse Ihnen meine Haube für das Brot!«, sagte Hannah.

»Ein faires Angebot«, räumte die Frau ein. »Zeig her.«

Hannah erwiderte verärgert: »Sie haben sie auf.«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Denkst du, ich bin besoffen, oder warum willst du mir meinen eigenen Hut andrehen? Gib mir den Mantel und der Kanten gehört dir.«

»Nein danke«, sagte Hannah, »ich glaube, ich warte lieber bis zum Lunch.«

Die Frau brach in schallendes Gelächter aus. »Lunch!«, schrie sie und klammerte sich an den Arm des Bärtigen. »Hast du das gehört, Black Jack? Lunch! Die hat wohl im Palast gewohnt. Gnädige Frau wünscht einen Lunch!« Sie schlug sich auf die Schenkel. »Hier in Newgate gibt’s keinen Lunch, Gnädigste. Und Dinner oder Abendessen gibt’s auch nicht. Das hier«, sie wedelte mit dem Brotkanten, »das hier ist alles. Bis morgen früh.«

Hannah sah das Brot an. Ihr Magen knurrte. Aber sie dachte daran, wie kalt es in der Nacht gewesen war, und schüttelte den Kopf. »Ich bleibe hier sowieso nicht lang«, sagte sie. »Es ist alles nur ein Missverständnis.«

Diese Worte lösten bei der Frau einen neuerlichen Lachanfall aus. »Natürlich, Gnädigste haben gar nichts verbrochen.«

Hannahs Augen verengten sich. »Sie haben ja keine Ahnung, wer ich bin«, sagte sie. »Aber früher oder später wird jemand kommen, der mich kennt, und dann könnt ihr alle etwas erleben.«

Sie ging zum Eimer und schöpfte eine Handvoll Wasser. Es schmeckte nach Erde und Eisen, aber ihr Hals war ausgedörrt und wund vom Erbrechen. Anschließend stakste sie vorsichtig zu der vergitterten Tür und wartete darauf, dass der Wärter zurückkehrte.

Einige Mithäftlinge schliefen, andere spielten Karten oder würfelten und tranken gierig aus dunkelbraunen Gin-Flaschen. Eine hochschwangere Frau lag unbeholfen auf dem Boden, ihre Hände ruhten auf ihrem gewölbten Bauch. Eine andere Frau stillte einen Säugling. Hannah beobachtete sie eine Weile fasziniert und ein wenig entsetzt, aber als die Frau zu ihr herübersah, errötete sie und schaute weg.

Wurden alle kleinen Kinder auf diese Weise gefüttert? Hannah konnte sich das kaum vorstellen. Hatte sie etwa auch von der Brust getrunken?

Hannah hatte keine Erinnerung an ihre Mutter, aber sie war davon überzeugt, dass ihre Mutter sie niemals auf diese Art gefüttert hätte. Ihr Vater hätte so etwas vulgär gefunden.

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Gerade als Hannah und Mr Behr vom Hyde Park zurückkehrten, kam Arthur Cheshire auf dem Weg zum Frühstück die Treppe hinunter. Er trug einen dunkelgrünen Morgenmantel aus Brokat, der mit grellbunten exotischen Vögeln und Blumen bestickt war. Dunkle Ringe lagen um seine Augen und sein Gesicht sah erschöpft und zusammengefallen aus. Er warf einen kurzen Blick auf seine durchnässte Tochter und ihre aufgelöste Haartracht und presste die Lippen zusammen.

Thomas blickte auf seine Fußspitzen.

»Zieh dich um«, befahl Arthur Cheshire seiner Tochter.

»Ich muss mit Mr Behr reden.«

Die Männer gingen ins Speisezimmer. Hannah kauerte auf der Treppe und versuchte etwas zu verstehen. Die Stimme ihres Vaters klang leise und aufgebracht.

»… wenn sie jemand so gesehen hätte …«

Mr Behrs Antwort war ein Murmeln. Arthur Cheshire setzte seine Strafpredigt fort.

»… große Erwartungen an meine Tochter … einen vermögenden Mann …«

Hannah biss sich auf die Lippen und schlich auf ihr Zimmer, um sich umzuziehen.

Nach ungefähr einer Stunde ließ ihr Vater sie ins Speisezimmer rufen. Bevor sie eintrat, kniff sie sich in die Wangen und strich ihre Haare glatt.

Der Vater saß in einem Sessel und las die Zeitung. Vor ihm stand ein großes Glas Brandy.

»Guten Morgen, mein Schatz«, sagte er geistesabwesend.

»Es ist Nachmittag, Papa.«

»Wirklich?« Er blickte hoch. »Wer hätte das gedacht.« Er streckte die Hand nach seinem Glas aus.

Adams, der Diener, betrat das Zimmer. Ihm folgte Lettie, das Hausmädchen. Sie stellten silberne Platten und weiße Porzellanschüsseln mit eingelegten Heringen, Rührei, kaltem Braten und hauchdünn geschnittenem Schinken auf das weiße Leinentischtuch. Arthur Cheshire bedeutete Adams ihm nachzuschenken.

»Ist es gestern Abend spät bei dir geworden, Papa?«, fragte Hannah und nahm am Tisch Platz.

»Teuflisch spät«, erwiderte ihr Vater und füllte seinen Teller. Er schaufelte Rührei in sich hinein und spülte mit Brandy nach. Dann blickte er seine Tochter an und kniff die Augen zusammen. »Mein Engel, du musst wissen, dass ich sehr enttäuscht von dir bin.«

Hannah knetete das Tischtuch zwischen ihren Fingern. Ihr war zum Heulen zumute.

»Papa, bitte lass Thomas nicht gehen.«

Arthur Cheshire zog seine sorgfältig gezupften Augenbrauen hoch. »Ich habe mit Mr Behr ausführlich über seine … Erziehungsmethoden gesprochen. Sie sind völlig unangemessen für eine junge Dame von Stand.«

Hannah schwieg.

»Als ich ihn anstellte«, fuhr Arthur Cheshire fort, »hatte ich ihm ausdrücklich erklärt, welche Art von Erziehung ich für dich wünsche.«

»Aber Papa«, sagte Hannah. »Thom… Mr Behr ist ein ausgezeichneter Lehrer. Er hat mir wunderbare Dinge beigebracht.«

Arthur Cheshire runzelte die Stirn. »Genau das ist das Problem«, sagte er. »Für eine junge Dame von Stand ist es völlig unerheblich, etwas über die heidnischen Götter der Ägypter oder die Reisen des Marco Polo zu wissen. Unerheblich und unerwünscht.«

Hannahs Unterlippe bebte.

»Hannah, du musst endlich begreifen, dass du dich sittsam und würdevoll benehmen musst, wenn du einen guten Ehemann bekommen willst.«

Hannah sah ihn an. »Einen Ehemann?«

Arthur Cheshire lächelte. »Natürlich, mein Schatz. Das willst du doch auch?«

Sie nahm sich eine Scheibe Schinken.

»Du bist eine bildschöne junge Dame«, sagte ihr Vater.

»Du kannst dir einen wirklich vornehmen Mann angeln.« Hannah riss den Schinken in dünne Streifen. War sie wirklich schön?

Ihr Vater beugte sich vor und tätschelte ihr Knie. »Wir werden einen reichen Mann für dich finden. Du wirst in einem herrschaftlichen Haus in Mayfair wohnen, mit Kutschen und fünfzig Dienern. Und du wirst die besten Gesellschaften geben, die London je gesehen hat.«

Hannah dachte eine Weile darüber nach. Es klang märchenhaft.

»Aber was ist mit Mr Behr?«, fragte sie.

»Er wird zum Monatsende aufhören.«

Hannah erstarrte, die Hand halb zum Mund geführt.

Dann legte sie den Schinken wieder auf den Teller.

Ihr Vater seufzte. »Du bist fast fünfzehn, Hannah. Viel zu alt für einen Hauslehrer.«

»Oh«, machte Hannah und überlegte, was sie den ganzen Tag ohne Thomas Behr tun sollte.

»Du wirst viel zu beschäftigt sein, wenn du Tanztees besuchst und reiche Männer kennenlernst.«

»Ja, Papa«, sagte Hannah.

»Ich werde Hauslehrer für dich engagieren, die dir die Dinge beibringen, die ein junge Dame wirklich braucht. Tanzen, Klavier spielen, Malen. Und wenn du dann fünfzehn bist, wirst du in die Gesellschaft eingeführt.«

Hannah schwieg.

»Übrigens«, sagte Arthur Cheshire, »Mr Harris kommt zum Abendessen. Zieh dir etwas Nettes an.«

Hannah verzog das Gesicht. Mr Harris war ein dicker, asthmatischer Mann, der mit Arthur Cheshire Karten spielte. Er war mindestens fünfzig Jahre alt, sein Gesicht war immerzu gerötet und er schwitzte unaufhörlich.

»Du musst wissen, Hannah«, sagte ihr Vater, indem er sich erhob und seinen Brandy austrank, »Mr Harris ist ein sehr reicher Mann. Du sollst einen guten Eindruck auf ihn machen. Er besitzt ein Haus am Grosvenor Square.«

Er legte einen manikürten Finger an ihre Wange, dann verließ er mit wehendem Morgenmantel das Zimmer.

Hannah zog eine Grimasse bei der Vorstellung, einen ganzen Abend in Mr Harris’ Gesellschaft verbringen und seinem Schnaufen und Stottern zuhören zu müssen, während die Schweißflecken unter seinen Armen immer größer wurden. Thomas Behr hasste Mr Harris und nannte ihn einen Speichellecker.

Hannah seufzte und stocherte mit ihrer Gabel halbherzig im Rührei herum. Eigentlich spielte es keine Rolle, was Thomas Behr dachte, denn ihr Vater wollte ihn entlassen. Als Hannah jünger war, hatten sich Thomas und sie immer Geschichten über die Tiere ausgedacht, die in dem türkischen Teppich im Salon eingewebt waren. Hannah hatte ihm von den unerhörten Abenteuern der Tiger und Elefanten erzählt, und er hatte gelacht, bis ihm die Tränen gekommen waren.

Sie legte die Gabel beiseite und erhob sich. Ihr blieben nur noch wenige Unterrichtsstunden mit Thomas. Zum Monatsende musste er gehen und sie würde ihn vielleicht nie mehr wiedersehen. Sie dachte an seinen zerknitterten Mantel und seine Schneetiere. An die Art, wie er sie manchmal ansah. Sie dachte daran, wie sie im Park am liebsten sein Haar berührt hätte. Dann stellte sie sich selbst in Juwelen und herrlichen Kleidern vor und malte sich aus, wie sie in ihrer eigenen Kutsche durch den Hyde Park fuhr. Vielleicht hatte ihr Vater recht und es war wirklich an der Zeit, erwachsen zu werden.

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Die meisten Menschen in der Zelle starrten einfach ins Leere und warteten oder dösten vor sich hin. Der Hunger nagte an Hannah. Das Wasser, das sie getrunken hatte, schwappte in ihrem leeren Bauch hin und her. Als das trübe Zellenlicht verblich, lehnte Hannah den Kopf an die kalten Eisenstäbe. Sie zitterte vor Schwäche.

»Ui! Gnädiges Frollein!«, ertönte die Stimme jener Frau, die ihre Haube aufhatte. »Wieso poliert Ihr das königliche Eisen mit Euren Augenbrauen? Kommt lieber hier herüber.«

Hannah stand unsicher auf und schaute sich um. Die Frau und Black Jack lümmelten auf der Holzpritsche und tranken aus einer braunen Glasflasche.

»Immer noch hungrig?«, fragte die Frau.

Hannah nickte und fasste an die Knöpfe ihres pelzbesetzten Mantels. Ihr Vater hatte ihn ihr im vergangenen Jahr zum Geburtstag geschenkt. Er war in dezent duftendes Seidenpapier eingewickelt gewesen und hatte in einer weißen Schachtel mit grünem Samtband gelegen. Die Frau sah Hannah bedeutungsvoll an. Hannah seufzte und nestelte an den Knöpfen.

Sogleich klemmte sich die Frau die Flasche zwischen ihre Knie und streckte die Hände aus. Hannah hielt ihr den dunkelgrünen Mantel hin. Die Frau stand auf und zog ihn an. Er spannte um die Schultern und die Brust und reichte ihr nur bis zur Wade. Aber sie schnallte den Gürtel zu und stolzierte wie ein Pfau durch die Zelle.

»Na, wie sehe ich aus, Leute? Ein wahres Juwel, oder nicht?«

Black Jack gluckste. Er war sehr groß, größer als Thomas Behr.

»Warte!«, sagte Hannah.

Die Frau blieb stehen. »Geschäft ist Geschäft«, sagte sie finster.

»Nein«, entgegnete Hannah, »ich wollte nur …« Sie holte tief Luft. »In der Tasche von meinem – von Ihrem Mantel. Da ist etwas, etwas, das für mich kostbar ist.«

Die Frau legte ihren Kopf schräg. »Kostbar? So, so. Was ist es denn? Gold? Juwelen? Ein Briefchen von deinem Liebsten? So ein hübsches Püppchen wie du hat doch bestimmt einen stattlichen Herzensbrecher am Rockzipfel.« Sie wühlte in der Manteltasche und zog ein Taschentuch hervor. Es war zerknittert und auch ein wenig schmutzig. Sie sah erstaunt auf.

»Das? Das soll kostbar sein?«

Hannah nickte. »Bitte.«

Achselzuckend reichte die Frau Hannah das Taschentuch. Hannah wickelte es sich um ihre Hand.

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In der nächsten Unterrichtsstunde sprach Thomas Behr weder über die griechischen Sagen noch über die Reisen des Kolumbus. Und er erzählte auch keine Geschichten von Eispalästen und tückischen Winden. Er war förmlich, fast ein wenig unbeholfen. Hannah gähnte.

Thomas seufzte und machte ihr einen Vorschlag. »Sollen wir spazieren gehen? Bestimmt hat dein Vater nichts dagegen, wenn wir das Britische Museum besuchen.«

»Vater hat gemeint, es sei zu kalt zum Ausgehen. Er sagt, ich habe eine schwache Brust.«

»Dein Vater ist sehr besorgt um dich«, erwiderte Thomas steif.

Hannah spürte einen Stich in ihrem Inneren und wurde unruhig.

»Wollten Sie mir etwas sagen?«, fragte sie herausfordernd.

»Über meinen Vater?«

»Schon gut.« Thomas zog seinen zu kurzen Hemdsärmel herunter, der nach oben gerutscht war und den Blick auf ein dichtes Wirrwarr heller Haare freigegeben hatte.

»Nein«, sagte Hannah, »ich möchte, dass Sie mir sagen, was sie über meinen Vater denken.«

Thomas seufzte abermals.

»Ich warte«, sagte Hannah.

Er stand auf und ging zum Kamin. Dann drehte er sich um und sah sie an.

»Hannah, dein Vater putzt dich wie ein Porzellanpüppchen heraus und dann gondelt er durch die Stadt und wirft mit dem Geld anderer Leute um sich. Und dich lässt er hier in diesem großen Haus allein …«

»Mein Vater ist sehr bedeutend«, entgegnete Hannah, »und es macht mir gar nichts aus, dass seine Geschäfte ihn ab und zu fortrufen.«

Thomas schnaubte verächtlich. »Geschäfte. Das kann man wohl sagen. Dein Vater ist in ganz London berüchtigt für seine Geschäfte.«

Hannah starrte ihn sprachlos an. Thomas’ Augen funkelten und eigentlich machte es Hannah immer glücklich, sein Gesicht so aufgeregt leuchten zu sehen, auch wenn es nur aus Wut war. Aber so durfte er nicht mit ihr sprechen. Ihr Vater wäre bestimmt sehr erzürnt.

Thomas schüttelte den Kopf. »Hannah, ich …«

»Miss Cheshire«, sagte Hannah frostig.

Thomas schaute zur Seite. Die Röte war aus seinen Wangen gewichen und das Licht in seinen Augen war wieder erloschen. Seine Schultern fielen nach vorn.

Hannah spürte ein Ziehen in der Brust und war nun milder gestimmt. »Verzeihen Sie«, sagte sie und berührte seine Finger.

Thomas zog seine Hand schnell zurück.

»Ihre Hände sind eiskalt«, stellte Hannah fest.

»Draußen ist es eiskalt«, erwiderte Thomas Behr, ohne sie anzusehen.

»Nicht so kalt wie das Land, aus dem Scatterheart und der weiße Bär gekommen sind«, sagte sie lächelnd.

Thomas blickte sie überrascht an und lächelte zurück.

»Nein, so kalt nicht.«

»Wo liegt dieses Land?«, fragte Hannah.

»Die Geschichte stammt aus Norwegen.« Er nahm seine Brille ab, die sich in dem warmen Zimmer beschlagen hatte, und polierte sie mit einem Taschentuch.

»Woher wissen Sie das? Sind Sie aus Norwegen?« Sie überlegte, warum sie ihn noch nie danach gefragt hatte, und stellte fest, dass sie überhaupt sehr wenig von ihm wusste. Wo wohnte er? Hatte er noch eine andere Arbeit? Wo lebte seine Familie?

»Mein Vater ist Deutscher, aber seine Mutter stammte aus Norwegen. Sie hat immer Geschichten erzählt …« Er unterbrach sich, als irgendwo im Haus eine Tür zuschlug. Sodann hörten sie ein Schluchzen und das Geräusch von zerspringendem Glas.

»Was ist denn hier los?«, fragte Thomas und sprang auf. Das Taschentuch glitt zu Boden.

»Wahrscheinlich Lettie«, erwiderte Hannah gleichgültig.

»Vater hat sie gestern Nachmittag entlassen.«

»Hat sie entlassen? Aber warum?« Thomas starrte nach oben, als könnte er durch die Decke Arthur Cheshire in seinem Bett sehen.

Hannah zuckte die Achseln. »Vater war mit ihr nicht zufrieden. Sie hat immer mit der Tasse geklappert, wenn sie ihm Tee serviert hat.«

»Sie hat mit der Tasse geklappert?«, fragte Thomas. »Er hat sie entlassen, weil sie mit der Tasse geklappert hat?« Hannah verdrehte die Augen. »Er glaubt auch, dass sie seine Perlmuttmanschettenknöpfe gestohlen hat. Jedenfalls kann er sie nirgendwo finden. Machen wir jetzt mit dem Unterricht weiter?«

Thomas drehte sich zu ihr um und runzelte leicht die Stirn. »Natürlich«, sagte er und setzte sich wieder. Aber er schwieg.

»Thomas?«, flüsterte Hannah.

»Das arme Mädchen.«

Jetzt war es Hannah, die die Stirn runzelte. »Das arme Mädchen? Dieses arme Mädchen hat uns bestohlen«, sagte sie. Was hatte er nur? Wen kümmerte es schon, wenn ein Hausmädchen entlassen wurde?

Thomas seufzte. »Aber was könnte sie dazu gebracht haben? Sie schien hier glücklich zu sein.«

»Bei solchen Leuten kann man das nie wissen.«

»Bei was für Leuten?«, fragte Thomas. »Bei Dienern? Bei Armen? Bei Leuten wie mir?«

Hannah errötete. »Sie ist eine Diebin. Sie hat es nicht anders verdient.«

Thomas stand wieder auf und ging zum Kamin hinüber. »Hast du denn kein Mitleid mit ihr?«, fragte er. »Dein Vater hat sie auf die Straße gesetzt. Das heißt, sie muss stehlen oder verhungern oder noch schlimmer. Vielleicht wird sie auch zum Tode verurteilt oder deportiert.«

Hannah spürte einen Hauch von Schuld, den sie aber gleich wieder verscheuchte. »Das ist ja lächerlich. Sie kennen sie doch gar nicht.«

»Du auch nicht.« Thomas warf seine Arme nach oben.

»Letzte Woche wurde ein neunjähriges Mädchen verurteilt, weil es drei verschrumpelte, alte Äpfel gestohlen hatte. In der Woche davor wurde eine Neunzehnjährige gehängt, weil sie ihrer Herrschaft einen silbernen Löffel gestohlen hatte. Einen einzigen Löffel!«

»Genau«, seufzte Hannah erleichtert. »Vater hat sie auch nicht angezeigt, sondern ihr nur gesagt, dass sie gehen muss. Sie wird wegen des Diebstahls also nicht vor Gericht gestellt. Eigentlich war er sehr edelmütig.«

»Warum verteidigst du ihn?«, fragte Thomas und sah sie mit einem eigentümlichen Blick an.

»Es hätte auch viel schlimmer für sie ausgehen können.« Hannah verschränkte die Arme vor der Brust.

»Das bezweifle ich«, entgegnete Thomas. »Du hast keine Ahnung, wie das Leben außerhalb dieser vier Wände ist. Du warst noch nie in Seven Dials, wo es Mütter gibt, die ihren Säuglingen Gin zu trinken geben, weil sie kein Geld für Milch haben. Oder Männer, die so betrunken sind, dass sie ihre Frauen bewusstlos schlagen, und sich anschließend zu Tode saufen. Oder Kinder, die weder Familie noch Wohnung haben und in der Gosse erfrieren … du hast sämtliche Silberlöffel und Äpfel, die du dir wünschen kannst. Du weißt nicht, wie die Wirklichkeit aussieht.«

Hannah schwieg. Wusste er es denn? Hatte Thomas solche Dinge gesehen? An solchen Orten gelebt? Das Ozeanblau seiner Augen sah aus wie zu Eis gefroren. Er war enttäuscht. Hannah spürte, wie ihr die Tränen kamen.

Thomas Behrs Stirn glättete sich wieder und seine zusammengepressten Lippen entspannten sich.

»Entschuldige«, flüsterte er. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Vielleicht sollte ich mit deinem Vater darüber sprechen. Ihn überzeugen.«

»Und was würden Sie ihm sagen?«, ertönte hinter ihnen eine ölige Stimme.

Hannah drehte sich um. In der Tür stand ihr Vater. Im Vergleich zu Mr Behr sah er klein und zart aus, wie eins ihrer Porzellanfigürchen neben einer groben Stoffpuppe.

»Sir«, sagte Mr Behr, »bitte tun Sie Lettie das nicht an.«

Arthur Cheshire sah belustigt aus, aber Hannah wusste, dass er wütend war.

»Es tut mir leid, Thomas«, sagte er, »aber von Dienstboten nehme ich keine Ratschläge an.«

Hannah bemerkte, dass Thomas’ Schultern sich strafften. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Zornesröte überzog sein Gesicht.

»Sie sind eine erbärmliche Gestalt«, brachte er hervor.

Davon schien sich Arthur Cheshire nicht einschüchtern zu lassen. Er lächelte ausdruckslos und musterte seine wohlgefeilten Fingernägel.

»Finden Sie nicht, dass Sie sich endlich eine richtige Arbeit suchen sollten, Thomas?«, sagte er. »Sie kommen seit fast vier Jahren hierher und stellen meiner Tochter nach.

Das wird langsam unschicklich. Sie sollten sich endlich ein hübsches Dienstmädchen zum Heiraten suchen. Eine, die Ihrer gesellschaftlichen Stellung besser entspricht.«

Thomas beachtete Arthur Cheshire nicht weiter und blickte Hannah an.

»Was ich gesagt habe, tut mir leid«, entschuldigte er sich. Seine Stimme klang ruhig und eigenartig sanft. »Ich wollte dich nicht durcheinanderbringen.«

Hannah schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. Ihr war heiß. Sie wollte, dass Thomas blieb, aber ihr Vater hatte recht. Sie sah zu Thomas auf.

»Hannah?«, sagte er.

Hannah schaute zur Seite und schwieg.

»Reden Sie meine Tochter gefälligst mit Miss Cheshire an«, forderte ihr Vater, »falls Sie sie überhaupt noch einmal ansprechen, was mir höchst überflüssig erscheint.«

Thomas schreckte zurück. Er bückte sich und zog Hut und Handschuhe an. Dann hob er das Bücherpaket auf, seufzte und wandte sich wieder Hannah zu.

Die starrte auf ihre gefalteten Hände.

»Hannah«, sagte Thomas wieder.

Sie sah hoch. Auf seinem Gesicht lag ein eigentümlicher Ausdruck, drängend, traurig und zärtlich zugleich. Sie wollte wegschauen, aber sie konnte nicht, obwohl sie wusste, dass ihr Vater nur wenige Schritte entfernt war und sie beobachtete.

Sie schloss die Augen und drehte ihren Kopf zur Seite. Er sollte ihre Tränen nicht sehen.

Thomas seufzte tief. Er ging hinaus und zog die Tür zum Salon hinter sich zu. Krachend fiel sie ins Schloss – Hannah wusste nicht, ob Thomas’ Zorn oder nur ein Windstoß schuld daran war. Die Wände bebten, eine blau-weiße Porzellanvase fiel vom Kaminsims und zerschellte am Boden.

Arthur Cheshire zog seine Augenbrauen hoch, drehte sich um und verließ das Zimmer. Hannah hörte das Knarren der Stufen, als er die Treppe zu seinem Schlafzimmer hinaufstieg.

Sie ging zum Kamin, um die Scherben aufzuheben. Da entdeckte sie auf dem Boden Thomas’ Taschentuch. Sie bückte sich und hob es auf. Zerstreut dachte sie, sie könnte es ihm in der nächste Stunde zurückgeben. Dann erinnerte sie sich, dass er nicht wiederkam. Ihre Finger schlossen sich um das Taschentuch und sie begann zu weinen.

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»Wie heißen das gnädige Frollein denn?«, fragte die Frau. Hannah schluckte. »Hannah Cheshire.«

»Hannah Cheshire«, spottete die Frau. »Also, Hannah Cheshire, ich bin Long Meg.«

Hannah streckte die Hand aus. »Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss Meg.«

Long Meg starrte die ausgestreckte Hand an und prustete los. »Hui, ist die vornehm, Black Jack! Hast du das gehört? Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss Meg. Hast du so was schon mal gehört?«

Black Jack schüttelte den Kopf.

Hannah sah Long Meg erwartungsvoll an. Diese starrte zurück und fragte schroff: »Gibt’s noch was, Hannah Cheshire?«

Hannah nickte. »Ich … ich habe Ihnen meinen Mantel gegeben. Könnte ich jetzt etwas Brot bekommen?«

Long Meg schlug sich auf die Stirn. »Also, ich bin so was von vergesslich!« Sie wühlte in ihrem Rock und zog ein Stück Brot heraus. Hannah riss es ihr aus der Hand.

»Aber pass auf, sonst kotzt du wieder deine Schuhe voll wie letzte Nacht«, sagte Long Meg.

Sie beobachtete, wie Hannah das Brot hinunterschlang. »Wieso sitzt du eigentlich?«

Hannah sah sie ausdruckslos an und kaute weiter.

»Was hast du ausgefressen? Weshalb bist du hier? Hast du was geklaut? Diese schicken Klamotten vielleicht?«

Hannah verzog entrüstet das Gesicht. »Natürlich nicht. Ich sollte gar nicht hier sein. Es ist nur ein Versehen. Ich habe nichts getan.«

Long Meg lachte wieder ihr röhrendes Lachen. »Na klar hast du nichts getan. Keiner von uns hat was getan, oder Leute?« Sie breitete ihre Arme aus. Ein paar Insassen stimmten ihr mit einem Nicken oder einem Winken zu.

Sie wandte sich wieder an Hannah. »Wir sind alle unschuldig, Schätzchen. Alle.«

Hannah wurde heiß vor Zorn. Ihr lag schon eine bissige Antwort auf der Zunge, aber dann schwieg sie doch. Wozu auch? Sie wollte ihre Kraft lieber aufsparen, um dem Wärter alles zu erklären. Sie schluckte die letzten Brotkrumen hinunter.

»Und was haben Sie gemacht? Warum sind Sie hier?«

Long Meg erhob sich stolz und verschränkte ihre Hände hinter dem Rücken, als wollte sie ein Gedicht vortragen. »Ein taubengraues Coventrykleid, ein weißes Baumwollkleid mit grünblauen Streifen, ein Seidenkleid aus Norwichcrêpe, ein rosa Steppunterrock, sieben Yard von schwarz glänzendem Wolltuch, ein Mieder, ein schwarzer Satinmantel, ein roter Dufflecoat, eine feine Schürze aus weißem Batist, ein schokobraunes Seidentuch, ein rotschwarz gemustertes Seidentuch, ein schwarzes Seidentuch, ein Damenhut aus Seide, drei weiße Leinenschürzen, zwei karierte Leinenschürzen, ein Paar Lederschuhe und ein Paar geflochtene Schuhschnallen.« Sie setzte sich wieder.

»Wie haben Sie das alles gestohlen?« Hannah war beeindruckt.

Long Meg grinste nur und griff nach der braunen Glasflasche.