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Scatterhearts Vater war habgierig. Er befahl seiner Tochter den Antrag des Bären anzunehmen. Sie überlegte sich, dass es recht hübsch sein musste, in einem Schloss zu leben und schöne Kleider zu tragen. Also sagte sie Ja und kletterte auf den Rücken des Bären. Als sie von dannen ritten, fragte sie der Bär: »Hast du keine Angst?« Nein, sie hatte keine Angst.

Lacht nur, Miss«, sagte Long Meg, »aber ich habe meine Informationen. Stürme, die einen in Stücke reißen. Ungeheuer, groß wie Berge. Dunkelheit mitten am Tag. Schwimmende Inseln mit Elefantenzähnen. Und wir im Schiffsbauch angekettet, dicht an dicht wie Ölsardinen.«

Hannah sah sie skeptisch an. »Ich glaube, Sie haben zu viele Märchen gehört.«

Aber nun hatte Long Meg ein Publikum. Einige der anderen Insassen hatten sich zu ihr gedreht und sie erzählte mit tiefer, unheilvoller Stimme weiter.

»Und das ist nur die Seereise. Es heißt, wenn man erst einmal im Land hinter den Meeren ist, dann kommen die schlimmsten Ungeheuer hervor. Männer mit Hundeköpfen, Drachen, die einen in Stein verwandeln, Menschen mit Gesichtern auf der Brust! Überall gibt es Wilde mit pechschwarzer Haut, die unser Fleisch fressen wollen. Das Überleben ist ein einziger Kampf.« Sie sah sich mit großen Augen um.

Hannah schnaubte verächtlich. »Vater hat mir einige Berichte aus der Morning Post über die Kolonie in New South Wales vorgelesen. Von Männern mit Hundeköpfen und Drachen war darin nie die Rede.«

Die alte Frau, die Tabby genannt wurde, hatte offenbar auch zugehört. Sie stand umständlich auf und schlurfte mit gekrümmtem Rücken herbei.

»Alles hat ein Ende«, sagte sie.

In der Zelle herrschte einen Moment lang Totenstille, nur unterbrochen vom Husten eines Mannes, der in einer Ecke kauerte. Dann brach Long Meg in ihr dröhnendes Lachen aus.

»Aber wir machen uns keine Sorgen, Leute. Wir sind ja alle unschuldig!«

Donnerndes Gelächter erschütterte den Raum, danach wandte sich jeder wieder seiner Beschäftigung zu. Tabby blickte Hannah an, rülpste laut und schlurfte davon.

Hannah blieb sitzen und krümmte sich verlegen, um den Schmerz in ihrer übervollen Blase zu lindern. Sie presste ihre Beine zusammen und ballte die Hände. Sie biss sich auf die Zunge. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und ging zu dem Eimer hinüber. Rot vor Scham hob sie Rock und Unterrock an und streifte die Hose herunter. Ihr Urin plätscherte so laut, dass sie meinte, halb London müsste es hören. Aber keiner der anderen Insassen sah auch nur in ihre Richtung. Hannah fühlte sich so befreit, dass sie vor Erleichterung seufzte.

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Ohne Diener kam Hannah das Haus leer und fremd vor. Im Schlafzimmer war es kalt. Das Feuer war längst ausgegangen und das Wasser im Krug auf dem Nachttisch war sogar gefroren. Hannah konnte ihre Finger kaum noch bewegen, weil sie die ganze Nacht Thomas’ Taschentuch umklammert hatte. Ihr Magen war leer und knurrte laut – sie hatte seit dem gestrigen Morgen nichts mehr gegessen.

Sie stieg aus dem Bett, legte das Taschentuch vorsichtig auf den Nachttisch und ging zum Kamin. Die Feuerstelle war kalt und schwarz. Sie überlegte. So schwierig konnte es doch nicht sein. Hannah sah sich um und entdeckte erleichtert den Kohleneimer. Sie bückte sich und zog ein paar harte Brocken heraus. Die warf sie in den Kamin und wischte den schwarzen Staub an ihrem Nachthemd ab. Sie wusste nicht recht, was sie als Nächstes tun musste. Lettie hatte das mindestens tausendmal vor ihren Augen gemacht. Warum hatte Hannah nie richtig zugesehen? Sie nahm einen Schürhaken und stieß die Kohlen im Kamin an. Eine Aschewolke stob auf und sie musste husten. Ihr war zum Heulen zumute.

Hannah kniff die Augen zu und zählte bis zehn.

»Heute kommt Papa heim«, sagte sie fest. »Dann wird alles wieder gut.«

Sie stand auf, ging zum Fenster und schob die Vorhänge zur Seite. Ein dunkles gelbliches Nichts tat sich vor ihr auf. Alter, schmutzig grauer Schnee lag auf dem Fenstersims. Ihr kam alles stumpf und erstickend vor.

Sie zog die Vorhänge wieder zu und suchte in ihrer Kommode nach warmen Sachen. Die Fächer waren reichlich mit frischer weißer Leinenwäsche bestückt. Hannah öffnete eine Schublade nach der anderen und entdeckte schließlich ein Paar dicke Wollsocken. Die zog sie an und fand auch noch ein gestricktes Schultertuch. Sie rieb ihre Oberarme, damit sie warm wurden, und schlug das Tuch eng um sich.

Dann ging sie nach unten. In dem leeren Haus hallte das Knarren der Stufen wider. Hannah war bisher nie richtig allein gewesen, immer waren Diener da. Sie klammerte sich an das Treppengeländer und atmete tief ein. Angst wollte sie nicht zulassen.

Im Salon glühte nur noch eine einzige Kohle im Kamin. Hannah holte neue Kohlenstücke aus dem Eimer und häufte sie auf den Feuerrost. Die kirschrote Kohle wurde stumpf und fing beängstigend an zu qualmen. Hannah blickte sich suchend um. Sie brauchte etwas Brennbares. Sie rannte ins Speisezimmer. Auf einer Ablage entdeckte sie ordentlich gefaltet einen Stapel Zeitungen für ihren Vater. Hannah sah auf das Datum. Sie waren vier Tage alt. Sie packte den ganzen Stapel und rannte in den Salon zurück.

Das Kohlenstückchen glühte kaum noch. Hannah riss einen dünnen Streifen Zeitungspapier ab und legte ihn vorsichtig auf die Kohle. Sie wollte nicht wieder Gefahr laufen, sie zu ersticken. Die Papierränder glühten rot auf, dann flackerte plötzlich eine Flamme empor und war genauso schnell wieder erloschen. Hannah riss noch einen Papierstreifen ab, diesmal einen längeren, und versuchte es erneut.

»Brenn«, murmelte sie. »Brenn.«

Sie starrte hoffnungsvoll in den Kamin. Dann nahm sie eine ganze Zeitungsseite, zerknüllte sie und schob sie dicht an die glühende Kohle heran. Das Papier schwelte erst und flammte dann gelb auf.

Nach ungefähr einer Stunde hatte Hannah vier Ausgaben der Morning Post und zwei Ausgaben der Times aufgebraucht. Erschöpft, aber etwas beruhigter ließ sie sich auf ihre Fersen nieder.

Das Feuer im Kamin brannte zwar nicht so munter wie sonst, trotzdem gab das schiefe Kohlenhäufchen etwas Wärme ab. Hannah klopfte sich Kohlenstaub und Zeitungsschnipsel vom Nachthemd. Ihr Magen knurrte. Es war Zeit fürs Frühstück.

Ganz zufrieden mit sich ging sie in die Küche hinunter, wo sie ein altbackenes Brot, ein Schälchen Butter und ein Messer fand.

Wieder im Salon setzte sie sich in einen der Chintzsessel, kaute auf dem harten Kanten herum und überdachte ihre Lage.

Es gab keine Diener mehr. Es gab kein Essen. Das Feuer brannte zwar, aber wie lange? Und die Zeitungen waren auch fast weg.

Hannah besaß kein eigenes Geld – ihr Vater kaufte ihr alles, was sie sich wünschte. Er fand es vulgär, wenn eine Frau mit Geld hantierte. Nicht ladylike, wie er sagte. Unschicklich. Aber vielleicht befand sich in seinem Zimmer etwas Geld.

In seinem Schrank lagerten Unmengen ungestärkter weißer Leinentücher, die darauf warteten, gebügelt und in kunstvolle Krawatten geschlungen zu werden. Hannah entdeckte auch einige andere merkwürdige Leinenstücke, von denen sie annahm, dass es sich um Unterwäsche handelte. Sie errötete und legte sie hastig wieder zurück. Dann ging sie zum Nachttisch hinüber.

Er war von Tiegelchen und Fläschchen übersät, auf denen die verführerischsten Namen standen. Pomade de Neroles war eine dunkle, bröckelige Masse, die nach Veilchen duftete. Olympian Dew war durchsichtig und klebrig wie Honig. Liquid Bloom of Roses war dunkelrot und wachsweich. Pearl of India war ein zart duftender, feiner weißer Puder.

Außerdem gab es Nagelscheren, Rasierzeug und andere seltsame Gerätschaften, deren Funktion Hannah nicht einmal erahnen konnte. Sie wunderte sich aber, dass ein so gut aussehender Herr wie ihr Vater derart viele Utensilien benötigte.

Geld fand sie keines.

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Der Mann in der Ecke hielt Hannah die ganze Nacht lang mit seinem rasselnden, keuchenden Husten wach. Allein vom Zuhören bekam sie selbst einen kratzigen Hals.

Am nächsten Morgen schwitzte er stark und zitterte am ganzen Leib. Einer der Mithäftlinge wollte ihm etwas Wasser einflößen, aber der Mann konnte nicht schlucken. Er verkroch sich in die hinterste Ecke, schirmte seine Augen ab und murmelte und stöhnte vor sich hin, dabei zuckte sein ganzer Körper.

Nach zwei Tagen bekam er einen hochroten Ausschlag auf der Brust, der sich rasch ausbreitete. Die anderen Gefangenen hielten möglichst großen Abstand zu ihm und pressten sich Stofffetzen vor Mund und Nase. Offensichtlich hatten alle Angst davor, sich anzustecken. Dann kam ein Arzt und flößte ihm gewaltsam eine glibberige, silberne Flüssigkeit ein, aber sein Zustand wurde nicht besser. Am fünften Tag war er tot.