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»Guten Abend«, sagte der Bär durch das Fenster. »Gleichfalls«, erwiderte der Mann. »Gebt mir Eure Tochter zur Frau«, sagte der Bär, »dann sollt Ihr so reich sein wie Ihr jetzt arm seid.« »Nun …«, begann der Mann. »Nein«, sagte Scatterheart.

Als Hannah am nächsten Morgen aufwachte, stellte sie fest, dass sie sich an den Gestank fast schon gewöhnt hatte. Aber es gab ein neues Problem. In der Zelle war kein Wasserklosett, nur ein übervoller Kübel in einer Ecke. Hannah errötete bei der Vorstellung, unter den Augen so vieler Menschen ihre Notdurft zu verrichten. Aber ihre Blase drückte fürchterlich. Sie versuchte, nicht daran zu denken. Lang würde sie sowieso nicht hierbleiben.

Als der Wärter endlich die karge Brot- und Wasserration brachte, stand Hannah an der Tür bereit.

»Entschuldigen Sie, Sir«, sagte sie, während die anderen Insassen sich um die paar Brocken Brot schlugen.

Aber der Wärter beachtete sie nicht.

»Ich bin irrtümlich festgenommen worden. Ich habe gar nichts gestohlen …«

Der Wärter verließ die Zelle und warf die Tür krachend ins Schloss.

»Warten Sie!«, rief Hannah. »Ich gehöre nicht hierher! Ich möchte einen Verantwortlichen sprechen!«

Die Schritte des Wärters hallten im Gang wider und verklangen. Hannah sank zu Boden. Sie versuchte die Tränen zurückzuhalten. Die zahnlose Alte berührte sie am Arm.

»Höflichkeit zu Unhöflichen zahlt sich nicht aus«, sagte sie zischelnd. Hannah starrte sie an. Hier waren alle verrückt. Tränen rollten ihr über die Wangen.

»Hör nicht auf die alte Tabby«, sagte Long Meg, die die Szene beobachtet hatte. »Die ist völlig verblödet.«

Die Alte spuckte auf den Steinboden und lutschte an ihrem Brotkanten. Hannah sah ihn sehnsüchtig an.

»Hier, Frollein!« Long Meg brach ihr Brot entzwei und bot Hannah die Hälfte an. »Aber nur dieses eine Mal.«

Hannah nahm das Stück und begann nun erst recht zu weinen. Sie konnte sich kaum noch erinnern, wann jemand das letzte Mal nett zu ihr gewesen war.

»Tut mir leid«, schluchzte sie hicksend.

»Wein dich nur aus«, sagte Long Meg. »Je mehr du weinst, desto weniger musst du pinkeln.«

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Thomas kam nicht wieder. In den ersten drei Tagen vergoss Hannah bittere Tränen, aber am vierten Tag verwandelten sich ihre Trauer und ihre Scham in ein Gefühl hart wie Glas.

Was kümmerte es sie, dass er fort war? Thomas war doch nur ein Diener, den ihr Vater eingestellt hatte, damit er sie unterrichtete. Dennoch wusch sie sorgfältig sein Taschentuch, faltete es ordentlich zusammen und legte es in ihre Kommode.

Nachdem Lettie und Thomas nicht mehr da waren, verhielten sich die anderen Diener Hannah gegenüber kühl. Morgens knallten sie ihr das Frühstück auf den Tisch, der Toast war an den Rändern oft verbrannt und der Tee lauwarm.

An den Vormittagen wanderte Hannah ziellos durchs Haus und wartete, bis ihr Vater aufstand oder einer ihrer neuen Lehrer zu einer Musik- oder Tanzstunde eintraf. Hannahs Vater hatte es anscheinend nicht eilig, ein neues Hausmädchen zu suchen. Er war zerstreut und geistesabwesend – mehr noch als sonst. Manchmal stand er erst um drei Uhr nachmittags auf, war aber um sechs Uhr schon wieder unterwegs und kam erst in den frühen Morgenstunden nach Brandy und Zigarrenrauch riechend nach Hause.

Ungefähr zwei Wochen nach Thomas Behrs Weggang saß Hannah eines Morgens im Salon und bestickte für ihren Vater ein Paar Pantoffeln. Draußen fiel der Schnee in dicken Flocken und bildete eigenartige graue Schlieren im Nebel. Das Feuer prasselte im Kamin, trotzdem zitterte Hannah vor Kälte und schlang ihren Schal enger um sich. Plötzlich wurde die Haustür mit einem Knall aufgerissen. Hannah zuckte erschrocken zusammen. Aus der Diele kamen Schritte. Hannah runzelte die Stirn. Niemand hatte geklopft und ihr Vater schlief sicher noch. Sie erhob sich und öffnete die Tür zum Flur.

Dort stand ihr Vater und klopfte sich schmutzig grauen Schnee vom Kopf und von den Schultern. Seine Reitstiefel, gewöhnlich auf Hochglanz poliert, waren stumpf und nass vom Schnee, und seine Hände in den gelben Handschuhen zitterten.

»Papa!«, rief Hannah. »Was ist geschehen? Wo ist dein Hut? Wo ist dein Mantel? Bist du letzte Nacht gar nicht nach Hause gekommen?«

Er wandte ihr das Gesicht zu. Seine Augen waren blutunterlaufen und seine Wangen schlaff und grau. Er schüttelte den Kopf. »Nur keine Sorge, mein Engel. Es ist nichts.« Sein Blick war unstet. Ihr Vater ging an ihr vorbei und stieg die Treppe hinauf. Er musste sich am Geländer abstützen. Hannah folgte ihm.

»Papa, ist wirklich alles in Ordnung mit dir? Bist du überfallen worden? Wo ist dein Hut?«

Er blieb auf halbem Weg nach oben stehen, wühlte in seinen Taschen und zog etwas heraus, das in ein schmuddeliges Leinentuch gewickelt war. Er warf es ihr zu. »Ein Geschenk, mein Engel. Und nun sei ein braves Mädchen und lass deinen Vater allein. Ich muss mich um meine … Geschäfte kümmern.«

Hannah nahm das Bündel und sah ihrem Vater nach, der schwankend die Stufen erklomm. Dann wickelte sie das Päckchen aus. Zum Vorschein kam ein Paar Silberohrringe mit winzigen, glitzernden Saphiren.

Hannah kreischte entzückt auf, rannte in ihr Zimmer und legte die Ohrringe an. Sie drehte ihren Kopf mal hierhin, mal dorthin und bewunderte sich im Spiegel. Das musste ihr Vater sehen!

Sie öffnete die Tür zu seinem Schlafzimmer und blieb erschrocken stehen. Ihr Vater warf fieberhaft Kleidungsstücke in einen Koffer auf seinem Bett.

»Papa, was tust du da?«, fragte Hannah.

Ihr Vater erstarrte und sah sie verständnislos an. Dann schüttelte er den Kopf und sagte mit einer rauen Stimme: »Geschäfte, mein Engel. Ich muss für ein paar Tage nach Paris. Nur keine Sorge. Du wirst schon allein zurechtkommen.« Er wühlte in seiner Kommode und zog eine Handvoll Krawatten heraus.

»Aber warum soll Adams nicht deine Sachen packen?« Er stopfte die Krawatten in den Koffer.

»Adams … ich habe Adams einem Freund ausgeliehen. Nur keine Sorge.«

»Du hast ihn ausgeliehen?«, fragte Hannah. »Du gehst ohne Diener nach Paris?«

»Nein, mein Engel. Er wird mich in Newmarket treffen. Nur keine Sorge.«

»Das sagtest du bereits.« Hannah kamen beinahe die Tränen.

Arthur Cheshire klappte den Koffer zu und drückte sich einen Hut auf den Kopf.

»Papa, du hast dich ja gar nicht umgezogen!«

»Siehst du nicht, dass ich in Eile bin?«, sagte er. »Ich habe wichtige Geschäfte zu erledigen. In ein paar Tagen bin ich wieder da.« Er schleifte den Koffer aus dem Zimmer.

»Vielen Dank für die Ohrringe!«, rief Hannah ihm mit bebender Stimme nach. Der Koffer schlug polternd über die Stufen, als Arthur Cheshire ihn die Treppe hinunterzerrte.

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Das Brot war hart und sandig, als wäre das Mehl mit Asche vermischt worden. Hannah wollte zum Wassereimer gehen, aber Long Meg hielt sie mit ausgestreckter Hand zurück.

»An deiner Stelle würde ich das Wasser nicht trinken«, sagte sie. »Da sind alle möglichen Würmer drin.«

Sie hielt Hannah die braune Flasche hin. Hannah nahm einen Schluck. Die Flüssigkeit brannte wie Feuer in ihrer Kehle und sie musste husten und würgen.

Long Meg lachte dröhnend. »Du wirst dich früh genug daran gewöhnen, gnädiges Fräulein«, gluckste sie.

Hannah verzog das Gesicht. »Ich glaube, ich probiere es doch mit dem Wasser, wenn Sie nichts dagegen haben.« Long Meg zuckte die Achseln. »Wie du willst.«

Von Long Meg erfuhr Hannah, dass es in ihrer Zelle zwei Sorten Gefangene gab. Solche, die ihrer Verhandlung entgegensahen, und solche, die auf die Vollstreckung ihres Urteils warteten.

Die nächste Verhandlung oder Sitzung, wie sie genannt wurde, sollte am kommenden Donnerstag stattfinden. An diesem Tag musste Hannah vor den Richter und die Geschworenen treten, sich verteidigen und ihr Urteil entgegennehmen. Die folgenden Tage nutzte sie dazu, die Rede zu üben, die sie vor Gericht halten wollte, damit keinerlei Zweifel an ihrer Situation entstünden.

Jene Gefangenen, die ihre Verhandlung bereits hinter sich hatten, verhielten sich teilnahmslos. Sie waren still und bedrückt. Hannah fand, sie sahen hohl aus, als würden sich ihre Körper nur aus alter Gewohnheit bewegen.

»Was geschieht mit ihnen?«, fragte sie Long Meg.

»Meistens Deportation, aber wohl auch ein paar Hinrichtungen.«

Hannah schluckte. »Und die, die deportiert werden … kommen die alle nach New South Wales?«

Long Meg nickte. »Ich glaube schon. Man nennt es ›das Land hinter den Meeren‹.«

Für Hannah klang diese Bezeichnung ziemlich romantisch und das sagte sie auch zu Long Meg.

Die lachte laut auf. »Romantisch? Soweit ich weiß, ist es die Hölle. Ich habe gehört, es soll fast zwei Jahre dauern, bis man dort ist. Die Schiffe werden von Banden befehligt, die mit Peitschen und Ketten nicht zimperlich sind.« Hannah stellte sich Thomas Behr in Offiziersuniform und Peitsche schwingend vor und musste lächeln.

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Hannah hatte kaum ein Wort gesprochen, seit ihr Vater das Haus verlassen hatte. Die Diener tuschelten miteinander und verstummten, sobald sie ins Zimmer kam. Hannah stand morgens wie gewöhnlich auf, aß Toast zum Frühstück und trank ihren Tee, arbeitete an ihrer Stickerei, las und übte Klavier. Jeden Nachmittag wies sie die Diener an, ein vollständiges Abendessen zuzubereiten, für den Fall, dass ihr Vater wieder nach Hause käme. Und jeden Abend saß sie in ihrem besten Kleid allein im Speisezimmer, vor ihr kalte, in Butter geschwenkte Krabben und Hammelragout, Rindfleischbrühe mit einem erstarrten Fettfilm auf der Oberfläche und zusammengefallener Mandelpudding. Hannah stocherte lustlos in der Fasanenpastete und schob die Rote Beete mit ihrer Silbergabel auf dem weißen Porzellanteller hin und her, während in den Servierschüsseln der Spargel und die grünen Böhnchen kalt und schlaff wurden. Um zehn Uhr kam Jenny und deckte den Tisch ab und Hannah ging auf ihr Zimmer und weinte sich in den Schlaf.

Zwei Tage nachdem Arthur Cheshire abgereist war, kam Thomas Behr zu Besuch.

Er sah noch schmuddeliger aus als sonst, wie er dort in der Tür zum Speisezimmer stand. Der Saum seines Mantels war abgerissen, sodass man die groben Nähte sehen konnte. Er hatte keine Handschuhe an und seine Finger waren blau vor Kälte. Hannah hätte sich ihm am liebsten in die Arme geworfen und geweint. Aber irgendetwas hielt sie zurück.

»Mr Behr«, sagte sie höflich und neigte den Kopf.

Er nahm seinen Hut ab und verbeugte sich.

»Bitte nehmen Sie Platz«, forderte Hannah ihn auf.

Er setzte sich kurz hin und schwieg. Dann stand er wieder auf und ging zum Kamin hinüber.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte Hannah.

Thomas Behr schaute ihr zum ersten Mal direkt in die Augen und bei seinem durchdringenden Blick musste Hannah zur Seite sehen.

»Dein Vater«, begann er.

Hannah lächelte. »Mein Vater ist geschäftlich in Paris. Er wird jeden Tag zurückkommen, falls Sie mit ihm über eine Erneuerung Ihres Vertrags sprechen möchten.«

Thomas stützte sich mit den Händen auf den Kamin.

»Er wird nicht zurückkommen.«

Hannahs Kiefer schmerzte vom krampfhaften Lächeln.

»Ich glaube, Sie irren sich.«

Thomas nahm eine Porzellanfigur vom Kaminsims und musterte sie sorgfältig. Hannah hörte das Ticken der Uhr aus der Diele.

»Wenn er zurückkommt, wird er getötet.«

Hannah lachte nervös. »Unsinn.«

»Hannah«, sagte Thomas und stellte das Figürchen wieder hin, »er ist in großen Schwierigkeiten.«

Hannah zitterte. Sie hielt sich an den Armlehnen fest, damit Thomas es nicht bemerkte.

»Er ist außer Landes geflohen. Er hat das Vermögen deiner Mutter verspielt. Über Jahre hinweg hat er nur Schulden gemacht.«

Hannah schüttelte den Kopf. »Mein Vater ist ein guter Mensch, ein Geschäftsmann.«

»Letzte Woche …« Thomas zerrte an seinem Kragen, als bekäme er keine Luft. »Letzte Woche hat einer seiner Gläubiger sein Geld zurückverlangt. Dein Vater war betrunken. Er wurde handgreiflich … Er hat den Mann fast umgebracht und sein Geld und seine Wertsachen gestohlen. Am nächsten Tag ist er verschwunden. Niemand weiß, wo er ist.«

Hannah sah ihren Vater vor sich, wie er mit blutunterlaufenen Augen ohne Hut und Mantel in der Diele gestanden hatte. Ihr war, als müsste die Welt um sie herum einstürzen.

»Woher wissen Sie das?«, fragte sie und schämte sich des Bebens in ihrer Stimme.

»Alle wissen es«, erwiderte Thomas Behr verlegen. »Es ist Stadtgespräch.«

Hannah dachte daran, wie die Diener miteinander getuschelt hatten.

»Sie sind ein Lügner«, sagte sie.

Eine Stimme in ihrem Inneren widersprach. Thomas hatte sie noch nie belogen. Hannah wehrte sich gegen die Stimme. Er musste lügen. Ihr Vater würde niemals so etwas … Niederträchtiges tun. Und niemals würde er sie für immer verlassen.

Thomas zog seinen Stuhl näher an sie heran.

»Hannah. Ich kann dir helfen. Du musst wissen, wie sehr ich …«, stammelte er und sah zur Seite, »wie sehr ich dich …«

Er holte tief Luft und nahm ihre Hand.

»Erlaube, dass ich mich um dich kümmere«, fuhr er fort.

»Ich kann dir kein Haus in Mayfair und keine vornehmen Kutschen bieten, aber ich weiß, dass wir glücklich sein könnten … Ich habe einen Onkel, der Kapitän ist. Er hat gesagt, er könnte mir eine Anstellung bei der Marine verschaffen.«

Er schwieg und wurde puterrot. Hannah starrte ihn an. »Sie wollen mich heiraten?« Mit einem hysterischen Kichern entzog sie ihm die Hand. »Aber Sie sind doch schon so alt!«

Thomas sah sie verblüfft an. »Ich weiß, du bist für eine Heirat noch ein bisschen jung, Hannah. Aber so etwas kommt vor. Außerdem bin ich nur fünf Jahre älter als du.« Hannah blickte ihn an, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Die hellen Haare, die ihr immer weiß erschienen waren, waren in Wirklichkeit hellblond. Er war fast vier Jahre lang ihr Hauslehrer gewesen. War er wirklich erst neunzehn?

Sie schüttelte den Kopf. Das war alles lächerlich. Ihr Vater rannte doch nicht davon! Thomas Behr log. Sie hatte ihm vertraut, zu ihm aufgeschaut. Und jetzt log er sie an. Sie erhob sich.

»Mr Behr«, sagte sie. »Sie sind in mein Haus gekommen, Sie haben mir abscheuliche Lügen über meinen Vater erzählt, und das alles in dem verzweifelten, erbärmlichen Versuch, meine Zuneigung zu gewinnen. So leicht bin ich aber nicht zu täuschen. Ich werde Sie oder Ihresgleichen niemals heiraten. Ich bin die Tochter eines Gentlemans und werde einen Gentleman heiraten. Nicht irgendeinen … dahergelaufenen Studenten.«

»Hannah, so hör doch!«, sagte Thomas und erhob sich ebenfalls. Er wollte wieder ihre Hand nehmen. »Lass es dir erklären.«

Aber Hannah zog ihre Hand zurück. »Fassen Sie mich nicht an!«

Thomas Behr zuckte unter ihren harschen Worten zusammen, dann senkte er den Kopf und verließ das Zimmer. Diesmal warf er nicht die Tür hinter sich zu. Diesmal machte er sie gar nicht zu. Er ging einfach.

Hannah sank auf den Boden, ihr Herz klopfte wie wild. Die Haustür fiel klackend ins Schloss. Doch Hannah weinte nicht. Sie saß nur stumm da.

An diesem Abend packten die Diener ihre Sachen und gingen. Hannah war allein.