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Zuerst war Scatterheart glücklich. Sie tat, was ihr gefiel, und kleidete sich in feinste Seide und Juwelen. Doch bald fühlte sie sich einsam und traurig. Sie sah den weißen Bären nur beim Abendessen, den übrigen Tag war sie immer allein. Da begann sie zu überlegen, was wohl hinter der kleinen Tür in der Mauer aus Eis läge. Und eines Tages fasste sie Mut und ging hinaus in den Garten.

An ihrem zwölften Tag in der Zelle wachte Hannah schweißgebadet auf. Draußen regnete es heftig und drinnen war es kalt und klamm. Hannahs Strümpfe waren voller Löcher. Ihre Hände zitterten. Heute sollte die Sitzung stattfinden.

»Hohes Gericht«, murmelte sie vor sich hin, »eine Kette von Missgeschicken und widrigen Umständen …«

Sie fuhr sich mit bebenden Fingern durchs Haar und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Ihr Kleid war nicht mehr zartrosa, sondern von einem unbestimmten Graubraun. Sie strich es, so gut es ging, glatt und biss die losen Fäden vom Saum ab, wo die Spitze abgerissen war. Die anderen Insassen schauten ihr belustigt dabei zu, machten selbst aber keine Anstalten, sich herauszuputzen. Long Meg hockte mit Black Jack kichernd und flüsternd in einer Ecke, als wäre es ein Tag wie jeder andere.

Hannah wartete auf den Wärter und kratzte geistesabwesend ihre Flohstiche, die rot und entzündet aussahen. Ihr Herz schlug heftig und ihr war ein wenig schwindelig vor Hunger und Durst.

Sie zog Thomas’ Taschentuch unter ihrem Kleid hervor, wo sie es versteckt hatte. Es war schmutzig, aber sie hielt es fest in der Hand.

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Hannah folgte den trüben orangefarbenen Lichtkegeln der Gaslaternen, die frei in der Luft zu schweben schienen, denn die Laternenpfähle wurden von der schwefelgelben Dunkelheit verschluckt. Sie bog in die Oxford Street ein.

Die Straßen waren schummrig und beinahe menschenleer. Nur manchmal tauchte plötzlich jemand aus dem Dunst auf – große dunkle Schemen in schwarzen Mänteln. Der Nebel erstickte jedes Geräusch, deshalb hörte Hannah nicht, wenn ihr jemand entgegenkam. Die Gestalten ragten plötzlich vor ihr auf und strichen lautlos an ihr vorüber.

Wie sollte sie einen Pfandleiher finden? Hannah hatte keine Ahnung, wo sie suchen sollte. Sie bog in eine Seitenstraße ein, dann in eine andere und ging, so schnell sie konnte, um sich warm zu halten. Sie kam durch eine enge Straße und befand sich plötzlich auf einem kleinen Platz. In dem grauen Schnee spielten schmutzige Kinder mit Murmeln. Sie kreischten und quiekten wie kleine Ferkel. Ein Junge sah hoch und entdeckte sie.

»Ach, Frollein!«, schrie er. »Bitte einen Schilling! Meine kleine Schwester ist erkältet und meine Mami hat den Tripper.«

Hannah eilte weiter, bis die Schreie der Kinder vom Nebel verschluckt wurden.

Sie befand sich in einem Teil von London, wo sie noch nie zuvor gewesen war. Statt der vornehmen Gebäude aus Klinker und Sandstein drängten sich Holzhäuser dicht aneinander, als wollten sie sich gegenseitig das Licht stehlen. Die wenigsten Fenster hatten Glasscheiben, die meisten waren mit Lumpen und braunem Papier verstopft. Eine Ratte huschte vor ihr über die Straße. Hannah unterdrückte einen Schrei. Aus dem Nebel taumelte ein Mann und prallte mit ihr zusammen. Sie presste ihren Pompadour fest an die Brust. Der Mann hatte ein rotes Gesicht und einen unsteten Blick. Er trug einen fadenscheinigen braunen Mantel und alte Kniehosen.

»’tschuldigung, Frollein«, rülpste er und schwankte davon.

Sie bog um eine Ecke und sah einen Mann, der eine Frau gegen eine Hauswand presste. Die Hosen des Mannes waren heruntergelassen und die Beine der Frau um seine Hüften geschlungen. Hannah lief ein Schauer über den Rücken und sie meinte erbrechen zu müssen. Die Frau bemerkte, dass Hannah sie beobachtete, und sah sie gleichgültig an. Hannah errötete und eilte weiter.

Ein loser Pflasterstein kippelte unter ihren Füßen und eisiges Schmutzwasser spritzte unter ihren Rock. Sie fing an zu rennen. Ein Hund bellte. Rasch stürzte Hannah um eine Ecke und fand sich in einer Sackgasse wieder. Kleine verfallene Holzhäuser stützten einander ab.

Im Schnee saß eine Frau. Sie hatte einen schmutzigen Unterrock und ein altmodisches Korsett an. Neben ihr lag eine Flasche, deren Inhalt sich in den Schnee ergossen hatte, es roch bitter. Die Frau sah starr auf den Boden. »Entschuldigen Sie«, sagte Hannah mit bebender Stimme, »ich habe mich anscheinend verlaufen.«

Die Frau antwortete nicht. Sie regte sich nicht einmal. Hannah beugte sich vor und berührte die Frau an der Wange. Sie war kalt wie der Schnee. Voller Entsetzen drehte sich Hannah um und hastete die Straße hinunter. Sie kam durch Gassen, die voller Müll und Ungeziefer waren, und versuchte verzweifelt einen Orientierungspunkt zu finden.

Im dichten Nebel konnte sie die Straßenschilder nicht mehr erkennen. Ihr schwindelte vor Hunger und Kälte und sie wusste nicht, wie weit sie schon gelaufen war. Das spärliche Licht war nun ganz verblichen und der Nebel wurde immer undurchdringlicher. Hannah spähte hierhin und dorthin, konnte aber keine Häuser mehr ausfindig machen. Unter ihren Füßen knirschten Farn und gefrorenes Erdreich. Die Panik schnürte ihr die Kehle zu. Sie konnte nicht einmal mehr ihre eigene Hand vor Augen sehen. Wo war sie?

Ein gedämpfter Schrei drang durch den Nebel. Hannah rannte blindlings weiter. Endlich spürte sie wieder festen Boden unter den Füßen – keine gepflasterte Straße, aber ein befestigter Weg. Sie streckte tastend die Arme aus und berührte etwas Hartes, Raues. Holz. Ein Baum. Sie klammerte sich an ihn und holte Atem. Ihr Herz hämmerte so laut, dass sie meinte, die Luft müsste davon widerhallen. Hannah vergrub eine Hand in der Manteltasche. Sie spürte Thomas’ Taschentuch und beruhigte sich etwas. Wieder hörte sie den klagenden Schrei, aber diesmal war er weiter entfernt. Erleichtert lehnte sie sich an den Baum.

Ein Windstoß zerriss für einen Augenblick den Nebel und Hannah schaute sich suchend um. Sie lachte nervös auf. Sie war im Kreis gelaufen. Hinter ihr lag die lange Tyburn Road. Zu ihrer Linken befand sich der Hyde Park und zu ihrer Rechten waren Wiesen und Felder. Dies also war die seltsame Gegend, in die sie geraten war, es waren nur die Felder nördlich der Tyburn Road. Die unheimlichen Schreie, die sie gehört hatte, waren muhende Kühe gewesen. Hannah beruhigte sich etwas und schämte sich ihrer Angst.

Sie drehte sich um und betrachtete den Baum, an dem sie lehnte. Der Stamm war glatt und gerade. Es war gar kein Baum. Es war ein Galgen.

Sie musste an Thomas denken, der ihr gesagt hatte: Auf deinen Vater ist ein Kopfgeld ausgesetzt. Sobald er wiederkommt, wird er gehängt.

Sie begann am ganzen Leib zu zittern. Und wenn ihr Vater nie mehr zurückkam? Wenn er sie wirklich verlassen hatte? Bestimmt würde er schreiben oder Geld schicken. Was sollte sie tun? Sie hatte keine Tanten oder Onkel, bei denen sie wohnen konnte. Und sie war sich sicher, dass Mr Harris jetzt nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte. Ihr Atem kam in kurzen Schluchzern. Sie versuchte vernünftig zu sein und einen Plan zu machen. Aber in ihrem Kopf drehte sich alles in panischer Angst.

Sie schloss die Augen, dachte an ihr Schlafzimmer mit der Satindecke und dem munteren Feuer. Das war es, was sie jetzt brauchte. Behaglichkeit. Normalität. Sie wollte sich in ihr Himmelbett kuscheln und die Welt um sich herum vergessen.

Der Pfandleiher konnte bis morgen warten. Sie machte einen unsicheren Schritt vom Galgen weg. Dann noch einen. Und dann ging sie, immer noch zitternd, die Tyburn Road hinunter, bog rechts in die New Bond Street und dann in die Brook Street ein und kam schließlich an die vertraute Abbiegung zu ihrer eigenen Straße. Ein schwer beladenes Fuhrwerk rumpelte an ihr vorüber und bespritzte sie mit eisigem Schneematsch. Aber Hannah achtete nicht darauf. Sie war daheim. Sie rannte die Straße hinunter und blieb an der Treppe zum Hauseingang erschrocken stehen.

Die Tür war offen.

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Der Wärter schob die quietschende Zellentür mit einem Ruck auf. Hannah erhob sich rasch und einen Augenblick lang wurde ihr schwindelig. Sie streckte ihre Hände aus und stützte sich an der feuchten Wand ab. Dann las der Wärter zwölf Namen von einer Liste ab. Hannah und zehn weitere Insassen traten vor. Der zwölfte Name war der des verstorbenen Mannes.

Draußen im Gang legte der Wärter den Gefangenen Fußfesseln an, die er mit einer langen Eisenkette verband. Hannah versuchte einen Fuß vorzusetzen und fiel beinahe hin. Die Eisen waren furchtbar schwer, jeder Schritt fühlte sich an, als würde sie durch ein Meer aus Sand waten. Schon nach wenigen Metern taten ihr die Beine weh. Also schlurfte sie mit klirrenden, kleinen Schritten weiter, an Zellen vorbei, aus denen ihr jämmerliche Gestalten mit leeren Augen entgegenstarrten. Dann führte eine Steintreppe steil nach unten. Der Wärter sagte mit Genugtuung, dass dies der Henkersweg sei.

Sie stolperten die Treppe hinab und kamen in einen spärlich beleuchteten, unterirdischen Gang. Nach der stinkenden Luft in der Zelle war der intensive Duft nach feuchter Erde und Stein das Schönste, was Hannah je gerochen zu haben meinte. Sie atmete tief ein und das Zittern ihrer Hände ließ etwas nach.

»Hohes Gericht«, flüsterte sie und rieb den Daumen an Thomas’ Taschentuch, »… habt Erbarmen.«

Dann gelangten sie zu der Treppe, die zum Gerichtshof Old Bailey hinaufführte. Der Wärter bedeutete ihnen stehen zu bleiben, band den ersten Gefangenen los und verschwand mit ihm nach oben.

Die anderen Gefangenen drängten sich in dem Gang zusammen. Hannah kam an dritter Stelle. An der Wand hing ein Leuchter, darunter waren eine Bibel und ein Gebetbuch angekettet.

Hannah ließ die Treppe nicht aus den Augen. Sie wartete auf die Rückkehr des Wärters und übte wieder und wieder ihre Rede.

Sie wollte über ihren Vater sprechen und erzählen, wie sich alles zugetragen hatte. Sie würden verständnisvoll nicken und sie in ein Hotel bringen. Dort würde man ihr eine heiße Suppe und frisches Brot und eine Tasse mit dampfender Schokolade servieren … und sie in ein Himmelbett mit weichen Daunenkissen stecken. Und dann würde ihr Vater aus Frankreich zurückkommen und alles wäre gut. Thomas würde sie besuchen und sie würden alle Peinlichkeiten und Auseinandersetzungen vergessen …

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Hatte Hannah wirklich die Haustür offen gelassen? Das konnte nicht sein.

Kurz flackerte in ihr die Hoffnung auf, ihr Vater sei nach Hause zurückgekehrt. Aber es war nur ein schwacher Hoffnungsschimmer, der in der kalten Abendluft schnell wieder verglühte.

Die Standuhr war fort. Die Hüte auf dem Hutständer waren fort. Der Schirmständer war fort. Der Teppich in der Diele war fort. Und auf den kahlen Dielenbrettern zeichneten sich schmutzige Fußabdrücke ab.

Hannah öffnete die Tür zum Salon. Er war leer. Auch der türkische Teppich, der ihr und Thomas Behr als Vorlage für ihre Geschichten gedient hatte, war verschwunden. Sie rannte zum Speisezimmer. Es war ebenfalls leer. Sie stolperte die Treppe hinauf und fand nur noch knarzende Dielenbretter mit hellen oder staubigen Rechtecken, wo Teppiche gelegen oder Möbel gestanden hatten.

Eine große Müdigkeit überkam sie. Zögernd ging sie in das Zimmer, das vor Kurzem noch ihr Schlafzimmer gewesen war. Sie meinte, das Herz bliebe ihr stehen. Kein Himmelbett. Keine Satindecke. Keine Daunenkissen. Die Kleider fort. Der Schmuck fort. Ihr schwindelte vor Hunger, Furcht und Kälte. Sie besaß nur noch das, was sie am Leib trug, ihre Saphirohrringe, die Topaskette im Pompadour und das Taschentuch von Thomas Behr. Sie sank auf die Holzdielen, wo einst ihr Bett gestanden hatte, legte die Wange auf den staubigen Boden und machte die Augen zu.

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»Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit, Frollein.«

Hannah zuckte zusammen. Der Wärter starrte verächtlich auf sie herab. Er hatte sie von den anderen losgebunden und wartete darauf, sie in den Gerichtssaal zu führen. Hannah blinzelte. War sie etwa eingeschlafen? Sie schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können, aber davon wurde ihr noch schwindeliger. Sie streckte eine Hand aus und stützte sich an der klammen, erdigen Wand ab. Langsam erklomm sie die Stufen, die Fußfesseln zerfetzten ihre Strümpfe und hinterließen rote Striemen auf der Haut.