Lichthaus schaute missmutig aus dem Fenster und beobachtete einen Jugendlichen, der unmittelbar vor ihm zwischen Wohnwagen und Hauswand kotzte. Es war mittlerweile halb elf, und er glaubte nicht mehr, dass der Rote Ritter auftauchen würde. Auch wusste er nicht, ob er das noch wollte. Er wünschte sich nach Hause. Das Warten war zermürbend, es fiel schwer, die Aufmerksamkeit hoch zu halten. Bei den Besuchern hingegen schien die Stimmung auf dem Höhepunkt zu sein. Und hier, am Rand des Geschehens, zeigten sich die Folgen. In der vergangenen Stunde hatten drei Männer an dieselbe Stelle gepinkelt. Außerdem war sich ein Pärchen so nahe gekommen, dass ihr unterdrücktes Stöhnen deutlich zu vernehmen war.
Sie hatten den Wohnwagen außen als Büro gekennzeichnet. Er stand hinter dem großen Bierstand. Aus dem Rückfenster hatte man einen guten Blick auf die Bühne und das Gelände. Die Turnierwiese konnte man von hier aus nicht einsehen. Im hinteren Teil befand sich ein Techniker, der darauf achtete, dass der Funkkontakt nicht unterbrochen wurde, und der dauernd an seinen Armaturen drehte. Dabei erzeugte er ständig Rückkopplungen, die unangenehm in Lichthaus’ Ohren quietschten. Alle fünf Minuten mussten sich die Teams melden. Bislang war alles ruhig geblieben.
Er war genervt, nicht nur wegen des Technikers, sondern allgemein. Seit gestern lief alles schief. Das Wetter hätte für den Einsatz nicht schlechter sein können. Den Freitag über und am heutigen Vormittag hatte ein böiger Wind Schauer über die Eifel getrieben. Bei den warmen Temperaturen lag nun das ganze Gelände unter einer schweren Glocke aus Dunst, in der es zu kochen schien. Es war unangenehm schwül. Die mittlerweile zertrampelte Wiese war mit knöchelhohem Schlamm bedeckt, und er war froh, hier im Trockenen zu sitzen. Wie Wenk vorausgesehen hatte, tat das Wetter dem Fest keinen Abbruch. In einer fast undurchdringlichen Masse schoben sich Besucher jeden Alters über den Platz und erschwerten den Teams ihre Arbeit. Zudem nahm der Alkoholpegel kontinuierlich zu. Rempeleien und Pöbeleien wurden häufiger, bildeten Horte der Unruhe. In diesem brodelnden Getümmel erhöhten sich für den Gesuchten die Chancen, unerkannt zu entkommen. Für Lichthaus war das Schlimmste jedoch, dass der Rote Ritter wahrscheinlich überhaupt nicht ihr Täter war.
Gestern Abend gegen neun war die Erkenntnis, auf der falschen Fährte zu sein, über ihn hereingebrochen. Es hatte an der Tür geklingelt, und zu seinem großen Erstaunen stand Spleeth davor. Im ersten Augenblick hatte er an den Durchbruch geglaubt, hatte gehofft, der Film aus Wiesbaden hätte den entscheidenden Hinweis gebracht, doch ein Blick in Spleeths abgehärmtes Gesicht und auf den nervös auf und ab hüpfenden Adamsapfel belehrten ihn sofort eines Besseren. Müde war der Kollege seiner Aufforderung gefolgt und gebeugt ins Wohnzimmer geschlurft.
»Was ist denn los?«
»Der Knopf stammt aus einer Serie.«
Lichthaus hatte seinen Ohren nicht trauen wollen. »Was? Sie haben doch gesagt …« Spleeth hatte ihn händeringend unterbrochen.
»Es ist alles Handarbeit, wie ich gesagt habe. Nur hat der Hersteller etwa einhundert Stück verkauft.«
»Woher wissen Sie denn das auf einmal?«, er war unfreundlich gewesen, fast wütend über den sonst so peniblen Erbsenzähler.
»Der Mann aus dem Knopfmuseum hat mich angerufen und mir die Adresse gegeben. Ich habe gerade dort angerufen.«
»Haben Sie wenigstens eine Kundenliste?«
»Nein.«
»Verdammt noch mal. So eine Schlamperei«, er hatte geschrien und auf den Tisch geschlagen, aber das hatte auch nicht weitergeholfen. Spleeth war bei Lichthaus’ Ausbruch zusammengezuckt und saß wie ein ertappter Schüler auf der Sofakante. Nur langsam hatte er sich gefangen und zu fragen begonnen. Es war unfair, Spleeth dafür verantwortlich zu machen, dass seine Hoffnung auf den bevorstehenden Einsatz zerstob wie der Nebel im Wind.
Die Knöpfe waren überwiegend in Norddeutschland vertrieben worden. Nur zweimal hatte der Hersteller an einem Markt hier in der Nähe teilgenommen und vielleicht dreißig Stück verkauft. An Kunden erinnerte er sich nicht. Dreißig waren nicht viel, doch die Wahrscheinlichkeit, dass Roter Ritter und Täter identisch waren, reduzierten sich so weit, dass ihr Einsatz kaum zu rechtfertigen war. Einen Augenblick lang hatte er resigniert. Müller würde Recht behalten und es ihn auf seine widerliche Art spüren lassen. Er hatte letztendlich beschlossen, die Information zurückzuhalten und die Aktion wie geplant durchzuführen. Immerhin bestand ja nach wie vor die Möglichkeit, dass der Gesuchte der Täter war. Sollte er nicht auftauchen, würden sich die Probleme von allein lösen. Ein Knacken im Kopfhörer riss ihn aus seinen Gedanken.
»Ja?«
»Hier Steinrausch. Wir sind am Burggraben. Alles ruhig.«
Er bedankte sich. Der Regen setzte wieder ein. Eine neue Band spielte endlich gute Musik. So eine Mischung aus Country und irischer Volksmusik. Zuvor hatten mindestens fünfzehn Musiker, die aussahen wie aus dem Museum, mit bauchigen Streichinstrumenten, Trommeln und Rasseln einen entsetzlichen Sprechgesang vorgetragen, zu dem selbst die härtesten Mittelalterfans nicht mehr tanzten. Jetzt aber kochte die Stimmung wieder hoch. Die Zuschauer tobten in wildem Pogo durch den Schlamm und schienen sich herrlich zu amüsieren.
Sophie Erdmann meldete sich routinemäßig ohne besondere Nachrichten vom anderen Rand des Festplatzes. Die Teams waren bestimmten Strecken zugeteilt, die sie in einem festen Turnus abschritten. Im Augenblick waren sie an den äußersten Punkten ihrer Routen angelangt und kamen dann in einer Schleife zurück zum Wohnwagen, um wieder von vorn zu beginnen.
Er starrte nach draußen. Voller Zweifel und düsterer Gedanken. Der Knopf war die einzige heiße, eigentlich nur lauwarme Spur. Hätten sie heute keinen Erfolg, würde nur die Ochsentour bleiben, die allzu oft ins Leere führte.
»Hier Scherer. Alles ruhig. Ich habe eben deine Ragnhild gesehen.« Lichthaus konnte praktisch hören, wie er grinste.
»Du meinst Frau Andries.«
»Die sieht selbst in dem blöden Fummel top aus«, er machte eine kleine Pause. »Ob die einen Ritter hat?«
»Ich dachte du bist versorgt?«
»Ich? Nein. Seit vier Wochen nicht mehr. Gibt’s da also einen Kerl?«
»Ja. Auf Kreuzzug im Kosovo.«
»Hmh, ob die einen Keuschheitsgürtel trägt?«
Lichthaus lachte zum ersten Mal an diesem Abend. Scherer wieder einmal auf der Pirsch. »Du kannst sie ja mal fragen. Kauf dir doch eine Rüstung.«
»Ich denke eher an die Minne.«
»Oh je, ein Poet«, warf Sophie Erdmann ein, die mithörte.
»Konzentration, Leute, und jetzt raus aus der Leitung«, mahnte Lichthaus an und verfiel wieder in seine trüben Gedanken, als Scherer sich kurz darauf erneut meldete.
»Ich sehe ihn. Etwa zehn Meter vor mir.«
Lichthaus sprang auf. »Wo bist du jetzt.«
»Er geht zwischen den Buden hindurch Richtung Steg.«
»Wo ist Marx?«
»Ah. Zur Toilette.«
»Halt Abstand«, er schaltete um. »Alle zum Steg. Der Gesuchte befindet sich auf dem Weg dorthin.«
»Er haut ab.« Scherers Stimme klang nervös. »Ich versuche, ihn aufzuhalten.«
»Nicht allein. Bleib dran und warte bis Marx oder die anderen zu dir stoßen.« Lichthaus wurde unruhig. Wenn der Mann nicht zum Kampfplatz ging, dann nur, weil er Wind von der Überwachung bekommen hatte. Er war also alarmiert. Aus dem freigeschalteten Kopfhörer waren nur leiser werdendes Stimmengewirr und Schritte zu hören.
»Thomas, wo bist du?«
»Er geht in Richtung Fluss. Ich spreche ihn jetzt an.«
Angst stieg in Lichthaus auf. Scherer handelte gegen alle Regeln. »Lass das und warte auf die anderen. Das ist ein Befehl.«
»Polizei. Hallo, Sie da, bleiben Sie mal stehen!« Scherers Stimme war laut zu vernehmen, dann sprach er leise ins Mikrofon. »Er reagiert.« Es entstand eine kleine Pause. »Könnten Sie sich bitte ausweisen.«
Lichthaus presste den Hörer an die Ohren. Ihm brach der Schweiß aus. Scherers Alleingang war unverantwortlich, doch er konnte nicht eingreifen. Außer dem schwachen Summen des Fests herrschte Stille.
»Bleiben Sie stehen oder ich …«
Ein Geräusch wie reißender Stoff schnitt scharf durch den Kopfhörer, und dann ein Stöhnen, das er nie vergessen würde. Es war nicht allein der qualvolle Ausdruck von Schmerz und Überraschung, sondern tief unten tönte darin der Tod. Lichthaus war wie erstarrt. Scherer zog schwer die Luft ein, wieder das reißende Geräusch, und dann entrang sich seiner Kehle, direkt ins Mikrofon, ein gurgelndes Krächzen wie von einem waidwunden Tier.
»Thomas, was ist los?« Er brüllte so laut, dass der Techniker zusammenzuckte und herumwirbelte. Atemlos lauschte er weiter, hörte aber nur ein leises Keuchen, das nicht von Scherer stammen konnte, da es zu weit vom Mikrofon entfernt kam. Doch da war noch etwas. Ein Rascheln, so als ob ein schwerer Gegenstand über die Wiese gezogen würde.
»Thomas! Thomas?« Nichts.
Er schaltete alle hinzu.
»Er hat Scherer erwischt. Beeilung. Runter zum Fluss.« Alle schrien gleichzeitig los, aber er ignorierte die wirren Fragen der Kollegen und riss sich den Kopfhörer von den Ohren. »Krankenwagen zum Steg!«, schrie er dem verdatterten Techniker zu und trat krachend die Wohnwagentür auf. Er landete im weichen Schlamm und stürmte los, geradewegs auf die Trauben feiernder Menschen zu, geradewegs zu seinem sterbenden Kollegen. Er nahm instinktiv den Weg links vorbei an der Musikbühne, vor der getanzt wurde, und versuchte, zwischen den Bierständen durchzuschlüpfen. Heike Andries hatte für alle einen Poncho mit mittelalterlichen Motiven organisiert, den sie über den Waffengurt ziehen konnten, aber jetzt war ihm jede Tarnung egal. In der Rechten die Pistole, in der Linken eine Maglite versuchte er, sich einen Weg zu bahnen. Die Menschen, viele angetrunken, standen eng beieinander, unbeweglich wie eine homogene Masse. Ein Pudding aus Leibern. Die zuvorderst standen, sahen ihn kommen und wollten ausweichen, doch steckten sie unfähig zu größeren Bewegungen fest. Er brach zwischen ihnen hindurch. Rücksichtslos. Gebrauchte seinen ganzen Körper wie einen Rammbock, schrie nicht einmal Polizei, sondern pflügte kaum etwas wahrnehmend hindurch. Er spürte, wie zwei Besucher schreiend in den Schlamm krachten, sah, wie sich Bierbecher über Kleidung ergossen, hörte die wildesten Flüche, doch in seinem Kopf brandete nur das Echo von Scherers Stöhnen, ließ ihn den Abgrund spüren, in den dieser geschaut hatte.
Viel zu viel Zeit benötigte er, um die Menschenmasse hinter sich zu lassen. Hinter den Bierständen wurde es leerer, und er sprintete, was sein Körper hergab, fiel hin, sprang wieder auf, bis er am Fluss ankam. Die Lieser war an dieser Stelle locker mit Auwäldern bewachsen. Kinder hatten mittags hier unten getobt, hatten Schiffchen fahren lassen und waren schreiend in die Lieser gefallen. Doch jetzt wirkten die Bäume wie abweisende Riesen, die Schlimmes zu verbergen hatten.
Er sprang zwischen ihnen hindurch, kam ins Stolpern und rutschte über Äste und fauliges Laub bis unmittelbar an das Ufer. Schnell wirbelte er herum und bewegte sich einige Meter schleichend weiter, um nicht Opfer eines Schusses zu werden. Dann ging er in die Hocke und zwang Puls und Atmung zur Ruhe. Es gelang nicht sofort, und er beobachtete keuchend den Fluss und das gegenüberliegende Ufer. Die Lieser gluckerte schwarz zu seinen Füßen vorbei. Nur hier und da ließ eine weiße Schaumkrone erkennen, wo die Wasserfläche war. Der Fluss war etwa fünf Meter breit und maß selbst an tiefen Stellen nur einen halben Meter, zwischendrin gab es aber auch Passagen, wo das Wasser gerade bis über die Knöchel reichte. Auf der anderen Seite stieg die mit Mischwald bewachsene Böschung steil an. Keine Wege führten hinauf. Außer dem fließenden Wasser war nichts weiter zu hören, als das entfernte Gemurmel der Besucher, die sich ein Stück weiter zu seiner Rechten geduldig über die Brücke und den Steg drückten. Schwaches Licht beleuchtete die Szenerie. Einen Ritter konnte er nicht ausmachen. Er ging in die Knie und spähte gegen den Lichtschein vom Festgelände den Fluss entlang, aber auch so war nichts zu erkennen. Wo blieben bloß die Kollegen?
Er wandte sich nach links und arbeitete sich flussaufwärts, wobei er immer wieder die Lampe aufblitzen ließ, um das Ufer abzusuchen. Das Letzte, was er aus Scherers Mikrofon gehört hatte, waren die Fließgeräusche des Wassers gewesen. Vermutlich hatte der Täter ihn hierher gezogen, um unbemerkt zu entkommen. Er hielt inne und lauschte. Nichts. Nur das Summen des Festes, gelegentlich von gedämpften Rufen durchbrochen. Er ging weiter, beklommen suchend. Das Unterholz wurde dichter, er kam nun langsamer voran. Teilweise reichten die Äste der Haselnusssträucher so weit herab, dass er in den Fluss ausweichen musste. Das Wasser lief ihm in die Schuhe und war trotz der Hitze der vergangenen Wochen eiskalt. Doch er beachtete es nicht, suchte weiter, fand Unrat, scheuchte zwei Mäuse und eine Amsel auf, die voller Angst protestierend in die Dunkelheit flüchteten.
Endlich hörte er die Kollegen. Steinrausch und Sophie Erdmann kamen geduckt am Rand des Auwaldes gelaufen. Er schaltete kurz die Lampe ein, um den beiden seine Position zu zeigen, als er die Schleifspuren sah, die unmittelbar am Ufer endeten, sich noch einige Zentimeter durch den weichen Schlamm zogen, bevor sie im Dunkeln verschwanden. Lichthaus’ Blick verlängerte im Geist die Linie über das Wasser hinweg und fand, was er suchte. Scherer lag mitten im Fluss, den Kopf über Wasser, das Gesicht nach oben. Hoffnung brandete in ihm auf. Noch schien nicht alles verloren.
»Hier, ich habe ihn gefunden«, brüllte er mit sich überschlagender Stimme so laut er konnte und stürmte ins Wasser. Er schaltete die Lampe auf Dauerbetrieb, pfiff auf alle Vorsicht. Scherer lag, den Oberkörper von Wellen umspült, auf einer kleinen Sandbank und konnte so nicht abgetrieben werden. Im Schein des Lichtstrahls konnte er keine äußeren Verletzungen erkennen, doch das täuschte vielleicht. Eile war geboten. Gerade als er sich nach unten beugte, um Scherer anzuheben, kamen Sophie Erdmann und Steinrausch herbei und sprangen ohne zu zögern in den Fluss. Gemeinsam hoben sie den Kollegen an. Im fahlen Licht konnte Lichthaus erkennen, wie panikgleiche Angst ihre Gesichter verzerrte. Lichthaus wusste, dass er ebenso aussah. Sie stöhnten vor Anstrengung. Der Poncho und die restliche Kleidung zogen vom Wasser vollgesogen schwer nach unten, während sie über die glitschigen Steine zum Ufer taumelten. Lichthaus bemühte sich, Scherers Kopf waagerecht zu halten, und spürte eine Kälte von ihm ausgehen, die seinen Mut sinken ließ. Endlich auf dem Trockenen legten sie ihn keuchend auf dem engen Flussrand ab und richteten sich auf. Eine hilflose Pause entstand, in der sich alle nur anstarrten, dann ließ sich Lichthaus halb im Fluss kauernd nieder. Der Puls war nicht mehr tastbar, die Haut eiskalt.
»Kein Puls, holt den Krankenwagen her. Und eine Ringfahndung, Wenk soll eine Ringfahndung nach dem Schwein anleiern«, seine Stimme überschlug sich wieder, war schrill vor Angst und Schmerz. Steinrausch sprintete los. Sophie Erdmann, zitternd vor Kälte, hatte bereits begonnen, Scherers Brust zu bearbeiten. Lichthaus beugte sich nach unten. Die Augen des Kollegen waren geschlossen und sein Gesicht schimmerte wie eine weiße Scheibe im Dunklen, als er den Kopf vorsichtig überdehnte, seinen Mund auf die kalte Nase presste und warme Luft in den Körper blies. Er atmete ein und machte weiter, um ihm neues Leben, neue Wärme einzuhauchen. Immer weiter. Verzweifelt.
»Er ist tot.« Sophie Erdmann ließ sich zurücksinken und legte ihm die Hand auf die Schulter. Die Stimme tonlos. »Hör auf, es hat keinen Zweck mehr.«
Er nickte und blieb einfach sitzen, spürte nicht die Kälte, sondern nur die unendliche Leere. Dann hörten sie ihn oben vom Gipfel des steilen Prallhangs der Lieser brüllen.
»Gral, Gral, ich bin dir näher.« Immer wieder.
»Du verdammtes Schwein.« Sophie Erdmann kreischte. »Du verdammtes Schwein.«
Wutentbrannt sprang Lichthaus auf und starrte hinauf. Da stand er, kaum wahrnehmbar gegen den dunklen Himmel, das Schwert hoch in die Luft gereckt. Er reagierte instinktiv, riss die Walther aus dem Halfter, ging mitten im Wasser stehend leicht in die Knie. Doch dann zögerte er.
»Knall ihn ab. Los, knall ihn ab. Worauf wartest du denn!«
Lichthaus drückte ab. Schnell hintereinander jagte er das ganze Magazin in die Dunkelheit, bis die Waffe aufsprang. Die Silhouette war verschwunden. Lichthaus ließ die Pistole sinken. Beißender Qualm hing in der Luft, seine Ohren dröhnten, und er fühlte sich einen kurzen Moment orientierungslos wie in einem bösen Traum.
Unschlüssig watete er zurück, setzte sich neben die haltlos weinende Sophie Erdmann und starrte auf Scherers Leichnam. Ein ums andere Mal spulte er den ganzen Abend wieder und wieder ab. Er hatte Recht behalten und war trotzdem gescheitert. Dann riss er sich zusammen, drückte die Emotionen weg und verbannte sie in eine Ecke seines Hirns. Sie würden wiederkommen und ihn hart treffen, das wusste er, doch wenn er noch etwas retten wollte, die Aktion, sich und das Team, musste er handeln.
»Komm, wir müssen was unternehmen.« Er zog sie hinter sich her zum Rand der Wiese. Dann ließ er sich ihr Handy geben. Wenk war sofort am Apparat.
»Hier Lichthaus. Scherer ist tot«, er sprach mit rauer Stimme und schluckte schwer. »Der Täter ist flüchtig. Was ist mit der Ringfahndung?«
»Steinrausch war da. Ich habe Schüsse gehört. Was ist denn los da unten?« Wenk war verwirrt. Lichthaus spürte, dass er an seine Grenzen stieß.
»Ich habe auf den Tatverdächtigen geschossen. Was ist mit der Ringfahndung?«
»Wieso geschossen?«
Lichthaus wurde deutlich. »Wenk, reißen Sie sich zusammen. Mir geht es auch zum Kotzen, aber ich will das Schwein haben. Was ist mit der Ringfahndung?«
»Wittlich ist informiert. Von uns kontrollieren zwei Streifenwagen den unmittelbaren Bereich.«
»Gut. Wo ist Steinrausch?«
»Zurück zu Ihnen. Machen Sie sich keine große Hoffnung. Wenn er hinter Papenburg ist, sehen wir den nicht wieder. Da kann er in alle Richtungen weg.«
»Ich weiß, trotzdem danke. Bitte informieren Sie die Spurensicherung und die Staatsanwaltschaft.«
Dann rief er Müller an. Erfolglos. Er hinterließ eine Nachricht, als plötzlich Marx neben ihm auftauchte und an ihm vorbei runter zum Fluss ging. Er bewegte sich steif, fast hölzern, so als wollte ein Teil von ihm weglaufen, während der andere ihn unbarmherzig weitertrieb. Unten blieb er stehen, hielt Abstand und starrte auf die Leiche. Er roch nach Bier und rieb sich dauernd über den Mund.
Lichthaus lief hinter ihm her. »Das ist Ihr Toter, Marx.« Seine Stimme zitterte leise.
»Ich konnte ihn nicht mehr finden. Hab ihn gesucht. Das Mikro war auch tot.«
»Wo waren Sie denn?«
»Ah, auf der Toilette.«
»Blödsinn!« Er schrie jetzt. »Saufen. Ich kann es doch bis hierhin riechen. Sie haben Ihren Partner kläglich im Stich gelassen. Er hat sich auf Sie verlassen.«
»Ich konnte nicht ahnen …«, Marx sprach erstickt und rang die Hände. Lichthaus unterbrach ihn leise mit unterdrückter Wut. »Wissen Sie was? Hauen Sie ab! Verschwinden Sie, bevor ich mich vergesse!«
Der Blick, den Marx ihm einen Sekundenbruchteil lang zuwarf, brachte ihn wieder zur Vernunft. Ein Schrei nach Hilfe. Verzweiflung und Schuld. Dann rannte er weg.
»Stop, bleiben Sie hier, ich habe es nicht so gemeint.«
Doch Marx war verschwunden. Lichthaus fluchte auf sich selbst. Sie brachen auseinander. Mühsam richtete er sich auf. Das durfte er nicht zulassen. Er fror. Oben wartete Sophie Erdmann auf ihn, doch er wich ihren Blicken aus.
Den Rest des Abends funktionierte er automatisch wie ein Roboter. Das Fest wurde abgebrochen und der Platz gegen wilde Proteste geräumt. Die Spurensicherung rückte an und nahm die wenigen Spuren auf. Tauchte alles in gleißendes Licht. Die Staatsanwaltschaft, Gott sei Dank kam Cornelia Otten, verhörte ihn und die anderen und nahm die Tonbänder mit. Endlos lange kamen ihm die Fragen vor. Wie alles geplant war. Wo er war. Im Wohnwagen. Wieso Scherer allein war. Marx war auf Toilette. Wo Marx jetzt war. Unendliche Litaneien. Routine, doch irgendwie tröstlich. Es ging weiter, und man war abgelenkt.
Als der Notarzt und die Spurensicherung fertig waren, bargen sie den Körper. Lichthaus, Sophie Erdmann und Steinrausch standen dicht beieinander. Schutz suchend. Es war zwischen den Büschen zu eng, um den Toten direkt am Fluss in den Zinksarg zu legen. Daher trugen zwei Streifenbeamte und die Männer, die den Sarg gebracht hatten, den Leichnam hinauf ins grelle Licht der Scheinwerfer. Sie hatten ihn an Armen und Beinen gepackt und ächzten unter dem Gewicht. Als sie zwischen den Büschen hervorkamen, trieb es Lichthaus die Tränen in die Augen. Scherers Kopf war nach hinten gefallen und baumelte willenlos hin und her. Sein Mund war aufgesprungen, und die Zunge hing obszön heraus. Sophie Erdmann begann wieder zu weinen, und Steinrausch nahm sie in den Arm, drehte sie von dem makabren Schauspiel weg. Lichthaus schaute schnell in den dunklen Himmel hinauf, um die Tränen nicht laufen zu lassen, als sich eine Hand auf seine Schulter legte.
»Das ist immer hart.« Cornelia Otten war neben ihn getreten. Sie rauchte eine Zigarette und inhalierte den Rauch. Im Licht der Scheinwerfer sah sie alt aus. Tiefe Furchen zogen sich über ihr Gesicht und gaben ihm den Ausdruck, den ein solcher Augenblick brauchte. Lichthaus blinzelte und schaute sie an, vermied einen Blick auf den sich schließenden Sargdeckel.
Sie lächelte bitter. »Jetzt, wo wir allein sind. Wie konnte das passieren? Scherer hat einen Fehler gemacht, okay, aber eigentlich finde ich den ganzen Einsatz, sagen wir es mal nett, laienhaft. Sie sind doch sonst so gründlich. Keine Ringfahndung vorbereitet, noch nicht mal das ganze Gelände überwacht.«
»Fragen Sie Müller. Ich wollte mehr Teams und einen zweiten Ring, um den Verdächtigen zu ergreifen, wenn er uns hier durch die Lappen geht, doch der Chef hat das abgelehnt.«
»Wieso?«
»Die Spuren waren ihm zu dünn. Alles zu teuer.«
»Es wird eine Untersuchung geben.«
»Er hat mir den Einsatz schriftlich in dieser Form angeordnet. Er hat mir unterschrieben, dass er keine weiteren Teams stellt.«
Er schaute zum öden Festplatz. Zwischen den Buden räumten einige Leute auf, sonst lag die zerfurchte Wiese leer und einsam da. Weiter hinten packte die Spurensicherung ihr Gerät zusammen und fuhr los. Der Kampf hatte also begonnen. Keiner wollte schuld sein. Cornelia Otten bestätigte seine Befürchtungen, als ob sie seine Gedanken gelesen hätte.
»Müller wird es auf Sie schieben. Er hat Freunde.«
Er schaute sie an und Wut kochte in ihm hoch. »Der ist ein hinterhältiges Arschloch. Er spart an allen Enden, bis einer von uns im Gras liegt, und dann sind es die Einsatzleiter gewesen. Wenn er mir blöde kommt, halte ich ihm seine Anweisung unter die Nase.«
»Vielleicht geben Sie mir eine Kopie rein. Es kann ja sein, dass Ihr Protokoll plötzlich in den Akten fehlt. Ich halte es unter Verschluss.«
Lichthaus war überrascht über Cornelia Ottens offenes Misstrauen. Er nickte sie dankbar an.
»Okay!«
»Am besten Sie gehen nach Hause und schlafen sich aus. Morgen kommt es knüppeldick.«
»Und wie soll ich heute Nacht schlafen?«
Cornelia Otten zuckte nur mit den Schultern und winkte noch im Davongehen. Lichthaus folgte ihr steifbeinig bis zu Steinrausch und Sophie Erdmann, den Trümmern seines Teams. Sie unterhielten sich noch eine Weile gedämpft, tranken ein Bier und versuchten, sich neu zu sortieren. Doch das wollte nicht gelingen.
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