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Wie nah ging Amalfitanos Abreise den Carreras?
Anfangs waren beide zu sehr mit ihrer jeweiligen Arbeit beschäftigt, und in gewisser Weise bot Amalfitanos Fortgang, vor allem für Antoni, letztlich auch eine Atempause, aber nach ein paar Monaten, bei einer besonders öden Tischgesellschaft, begannen sie ihn zu vermissen. Langsam wurde ihnen bewusst, dass Amalfitano und seine skurrilen Geschichten gleichsam ein Abbild ihrer eigenen verlorenen Jugend waren. Dachten sie an ihn, dachten sie an sich selbst: junge, mittellose, entschlossene, mutige, großzügige und auf eine vielleicht lächerliche, ohnmächtige Weise würdevolle und vornehme Menschen. Und in dem Maße, wie sie sich über abgelebte Bilder ihrer selbst an Amalfitano erinnerten, hörten sie schließlich auf, an ihn zu denken. In der besten aller möglichen Welten zu Hause, kehrten ihre Gedanken nur selten, etwa wenn ein Brief von Rosa kam, zu dem schwulen Pilger zurück, und dann lachten sie, zufrieden plötzlich, und erinnerten sich seiner mit kurz, aber ehrlich empfundener Zärtlichkeit.
Wie nah ging Jordi Carrera die Abreise von Rosa Amalfitano?
Viel näher als seinen Eltern. Bislang hatte Jordi geglaubt, er lebe am Nordpol. Er und seine Freunde und einige Leute, die nicht seine Freunde waren, und andere, die er nicht einmal kannte, aber in Jugendzeitschriften gesehen hatte, lebten harmonisch, wenn auch nicht glücklich, denn das Glück war eine Falle, am Nordpol. Dort spielte er Basketball, lernte Englisch, beherrschte seinen Computer immer besser, kaufte Holzfällerklamotten und ging eifrig ins Kino und auf Konzerte. Seine Eltern zerbrachen sich gemeinsam den Kopf darüber, warum der Junge so wenig emotional war, aber diese fehlende Emotionalität war sein wahres Gesicht. Rosas Abwesenheit änderte alles. Von einem Tag auf den anderen sah sich Jordi mit Höchstgeschwindigkeit auf einer Eisscholle in wärmere Breiten treiben. Der Nordpol geriet in immer weitere Ferne, er wurde immer unwichtiger und seine Eisscholle immer kleiner. Bald litt er unter Schlaflosigkeit und Albträumen.
Wie nah ging Padilla Amalfitanos Abreise?
So gut wie gar nicht. Padilla lebte in ständiger Liebesverausgabung und konnte unendlich sentimental sein, aber nie länger als für einen Tag. Auf seine Weise war Padilla ein Wissenschaftler, der Gott nicht die kleinste Gelegenheit gab, einen Fuß in sein Labor zu setzen. Mit Burroughs glaubte er, Liebe sei lediglich eine Mischung aus Sentimentalität und Sex, und er fand sie überall, weshalb er nicht imstande war, sich länger als vierundzwanzig Stunden über einen Verlust zu grämen. Im Grunde war er stark und akzeptierte das Kommen und Gehen des Liebesobjekts mit einem stoischen Gleichmut, den er, so unterschiedlich sie sonst waren, mit seinem Vater teilte. Der Dichter Pere Girau fragte ihn einmal, wie man es hinbekäme, weniger schöne Exemplare zu lieben und zu vögeln, nachdem man einen Adonis geliebt und gevögelt hat, sprich, die potthässlichen Tunten und immer gleichen Gruselstricher. Padilla erwiderte, es sei reine Bequemlichkeit, wenn die Leute schöne Menschen liebten, nicht anders, als würde man von anderen vorgekautes Brot essen, entscheidend seien Geist und Witz einer Person, und er sei imstande, Schönheit noch im Trotten eines Esels zu entdecken. Er und viele andere. Denk nur an die apollinischen Dichter im Frankreich des neunzehnten Jahrhunderts, die nicht genug bekommen konnten von den maghrebinischen Hinterladern, jungen Burschen, für die im Kanon klassischer Schönheit sicher kein Platz wäre. Hinterlader?, na gut, räumte der Dichter Pere Girau ein, aber ich bin schließlich auch apollinisch und würde gern wieder einen lieben, der mindestens so schön ist wie der Hurensohn, der mich sitzengelassen hat. Girau, sagte Padilla, ich liebe die Leute, und es zerreißt mich innerlich, und du liebst nur die Poesie.
Wie nah ging Amalfitanos Abreise dem Dichter Pere Girau?
Überhaupt nicht, obwohl er hin und wieder daran denken musste, wie gut jener sich in elisabethanischer Dichtung auskannte, wie gut im Werk von Marcel Schwob, wie liebenswürdig und angenehm er war, wenn sie sich über italienische Gegenwartslyrik unterhielten (Girau hatte fünfundzwanzig Gedichte von Dino Campana ins Katalanische übertragen), wie gut er zuhören konnte und wie zutreffend seine Ansichten im allgemeinen waren. Im Bett war er anders, eine spätberufene, unbeholfene Schwuchtel, extrem unbeholfen. Obwohl er sich im Grunde, dachte der Dichter Pere Girau bitter, viel besser zu helfen weiß als wir, denn er wird immer ein Literaturprofessor sein, was ihm zumindest ökonomische Sicherheit gibt, während wir auf ein vulgäres und wildes Jahrhundertende zusteuern.