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Amalfitano wurde 1942 in Temuco, Chile, geboren, an dem Tag, als die Nazis ihre Kaukasus-Offensive starteten.

Er erlangte die Hochschulreife im philosophisch-sprachlichen Zweig eines irgendwo in den Schlammwüsten und im Dunst des Südens verlorenen Gymnasiums. Er lernte tanzen, Rock ’n’ Roll und Twist, Bolero und Tango, nicht aber die Cueca, obwohl er sich öfters mit gehisstem Taschentuch mitten auf die Tanzfläche stürzte, angefeuert nur von seiner Seele, denn Freunde hatte er zu diesem patriotischen Zeitpunkt keine, eher Feinde, puristische, über seine fußstampfende Cueca, diese eigenmächtige, selbstmörderische Heterodoxie entsetzte Bauern. Seine ersten Räusche schlief er unter einem Baum aus und lernte die schutzlosen Augen von Carmencita Martínez kennen, und eines Nachmittags badete er bei Gewitter in Las Ventanas. Er fühlte sich unverstanden und einsam. Eine Weile lang hörte er, als wäre er verrückt geworden oder als wenn ihn die Natur, indem sie sein Gehör schärfte, auf etwas Unsichtbares und Schreckliches hinweisen wollte, im Bus und in den Restaurants Sphärenmusik. Er trat der Kommunistischen Partei und dem Bund Fortschrittlicher Studenten bei, schrieb Pamphlete und las Das Kapital. Er verliebte sich und heiratete Edith Lieberman, das schönste Mädchen seiner Generation.

Irgendwann in seinem Leben wurde ihm klar, dass Edith Lieberman alles verdiente, und ahnte, dass er es ihr nicht würde geben können. Er ging mit Jorge Teillier einen trinken und diskutierte mit Enrique Lihn über Psychoanalyse. Er wurde aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen und glaubte weiterhin an Klassenkampf und Revolution in Lateinamerika. Er war Philosophieprofessor an der Universidad de Chile und veröffentlichte in Zeitschriften Aufsätze über Gramsci, Walter Benjamin und Marcuse. Er unterschrieb Aufrufe und Briefe linker Gruppen. Er prophezeite den Sturz Allendes und unternahm trotzdem nichts in dieser Hinsicht.

Nach dem Putsch wurde er verhaftet und einem Verhör mit verbundenen Augen unterzogen. Man folterte ihn lustlos, er aber glaubte, er hätte die härteste Behandlung überstanden und staunte über sein Durchhaltevermögen. Er blieb mehrere Monate in Haft, und als er freikam, traf er in Buenos Aires mit Edith Lieberman zusammen. Anfangs verdiente er sich seinen Lebensunterhalt als Übersetzer. Er übersetzte John Donne, Spenser, Ben Jonson und Henry Howard für eine Reihe englischer Klassiker. Er fand Arbeit als Philosophielehrer an einer privaten Realschule, und dann mussten sie Argentinien verlassen, weil die politische Situation unerträglich wurde.

Eine Zeitlang lebten sie in Rio de Janeiro, dann zogen sie nach México D.F., wo ihre Tochter geboren wurde, der sie den Namen Rosa gaben, und er aus dem Französischen Die grenzenlose Rose von J.M.G. Arcimboldi für einen Verlag in Buenos Aires übersetzte, während er hörte, wie seine angebetete Edith sagte, dass der Name Rosa wohl doch eine Hommage an den Titel dieses Romans sei und nicht, wie er versicherte, eine Art Verbeugung vor Rosa Luxemburg. Danach lebten sie eine Weile in Kanada und zogen von dort nach Nicaragua, weil beide wollten, dass ihre Tochter in einem revolutionären Land aufwüchse.

In Managua unterrichtete er für einen Hungerlohn Hegel, Feuerbach, Marx, Engels, Lenin, gab aber auch Seminare zu Platon, Aristoteles, Boethius, Abaelard und begriff, was er im Grunde immer gewusst hatte: dass die Totalität unmöglich ist, dass die Erkenntnis eine Methode ist, Bruchstücke zu klassifizieren. Danach gab er ein Seminar über Mario Bunge, an dem nur ein Student teilnahm.

Kurz darauf erkrankte Edith, und sie gingen nach Brasilien, weil er dort mehr verdiente und die medizinische Behandlung bezahlen konnte, die seine Frau benötigte. Mit seiner Tochter auf den Schultern badete er an den schönsten Stränden der Welt, während Edith Lieberman, die schöner war als diese Strände, barfuß im Sand saß und sie vom Ufer aus betrachtete, als wüsste sie Dinge, die er niemals wissen und sie ihm niemals sagen würde. Er engagierte sich in einer trotzkistischen Partei in Rio de Janeiro. Er übersetzte Osman Lins und war mit Osman Lins befreundet, obwohl sich seine Übersetzungen nie verkauften. Er gab Seminare zur philosophischen Bewegung des Neukantianismus der Marburger oder Logischen Schule: Natorp, Cohen, Cassirer, Lieber, und zur Philosophie von Sir William Hamilton (Glasgow 1788 – Edinburgh 1856). Er wich seiner Frau nicht von der Seite, bis sie um 3:45 morgens starb, während im Nachbarbett eine Brasilianerin mittleren Alters laut von einem Krokodil träumte, einem mechanischen Krokodil, das ein Mädchen über einen Berg aus Asche verfolgte.

Von da an war er seiner Tochter Vater und Mutter, wusste aber nicht, wie das ging, und engagierte schließlich zum ersten Mal in seinem Leben ein Hausmädchen, Rosinha, einundzwanzig, aus dem Norden stammend und Mutter zweier kleiner Geschöpfe, welche sie in ihrem Dorf zurückließ, die für seine Tochter wie eine gute Fee war. Eines Nachts jedoch ging er mit Rosinha ins Bett, und während er mit ihr schlief, glaubte er, den Verstand zu verlieren. Danach geriet er wieder in die altbekannten Schwierigkeiten und musste Brasilien Hals über Kopf verlassen, mit gerade so viel Gepäck, wie sie tragen konnten. Am Flughafen weinten seine Tochter und Rosinha, und sein Freund Luiz Lima fragte, was mit den Frauen los sei, warum sie weinten.

Von da an lebte er mit wenigen Ersparnissen in Paris, klebte zudem nachts Plakate und putzte Büroböden, während seine Tochter in einer Chambre de Bonne in der Avenida Marcel Proust schlief. Aber er gab sich nicht geschlagen und rackerte sich ab, bis er Arbeit in einer Schule fand und später an einer deutschen Universität. In jener Zeit schrieb er einen langen Essay, in dem er nicht die literarischen Trouvaillen von Macedonio Fernández und Felisberto Hernández analysierte, sondern ihre Bedeutung als lateinamerikanische Denker. Und in den ersten Ferien, die er sich erlauben konnte, flog er mit seiner Tochter nach Ägypten, wo sie den Nil entlangfuhren.

Seine Situation verbesserte sich beträchtlich. Den nächsten Urlaub verbrachten sie in Griechenland und in der Türkei. Er schrieb über Rodolfo Wilcock und das Phänomen des Exils in Lateinamerika. Er nahm an einem Kolloquium in den Niederlanden teil und kaufte sich ein Notebook. Schließlich landete er an der Universität von Barcelona, wo er eine Vorlesung über Idiotie und Selbstwahrnehmung hielt, die so großen Anklang fand, dass man seinen Vertrag für das nächste Jahr verlängerte. In jenen Tagen erhielt er einen Brief von seiner mexikanischen Freundin, der Professorin Isabel Aguilar. Sie hatte in D.F. bei ihm studiert und war eine Weile in ihn verliebt gewesen. Jetzt war Isabel Aguilar Professorin am Philosophischen Institut der Universität von Santa Teresa und bot ihm eine Stelle an. Sie sagte, sie sei mit dem Institutsleiter, Horacio Guerra, befreundet, seit einem Monat gäbe es am Institut eine vakante Stelle, und wenn er wolle, könne er sie haben. Amalfitano beriet sich mit seiner Tochter, schrieb dann an Isabel Aguilar, dankte ihr und bat sie, ihm schnellstmöglich den Vertrag zu schicken.

Die Noete des wahren Polizisten
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