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Eine Woche später kehrte Amalfitano mit Castillo in die Straße zurück, wo er das Stöhnen gehört hatte. Er erkannte das Haus sofort wieder: Bei Tageslicht erschien es ihm nicht so schrecklich wie in jener Nacht. Im Hausflur hatte jemand versucht, eine Barrikade zu errichten. Jedoch befand sich das Innere in einem etwas besseren Zustand, auch wenn in den Fenstern die Scheiben fehlten, die Flure voller Gerümpel standen und der Boden mit Löchern übersät war.
Müssen wir da rein?, hatte Castillo angewidert gefragt. Amalfitano antwortete nicht und begann das Haus zu durchsuchen. In einem Zimmer im ersten Stock fand er eine Matratze und ein paar schmutzige Decken. Hier ist es, komm rauf, rief er Castillo zu. In einer Ecke gab es eine aus Ziegelsteinen improvisierte Herdstelle und oberhalb davon eine in die Wand gegrabene Nische, in der ein Topf, eine Pfanne, zwei Suppenlöffel und ein Plastikbecher Platz fanden. Am Fußende der Matratze lag, auf dem Boden zwar, aber in relativ gutem Zustand, ein Stapel Filmzeitschriften, kommerzielle ebenso wie künstlerische und filmtheoretische, letztere in englischer Sprache und mit vielen Fotos. Die Anordnung von Matratze, Nische und Zeitschriften verriet eine subtile, verzweifelte Ordnung, die sich gegen das Chaos und den Verfall des restlichen Hauses abgrenzte und schützte.
Amalfitano ging in die Knie, um die Gegenstände genauer zu untersuchen. Es ist, als würde man den Brief eines Sterbenden lesen, sagte er anschließend. Castillo, der am Türrahmen lehnte, zuckte mit den Schultern. Und was steht in dem Brief?, fragte er lustlos. Ich verstehe ihn nicht, er ist in einer fremden Sprache geschrieben, obwohl ich manchmal einzelne Wörter wiederzuerkennen glaube. Castillo lachte. Welche Wörter? Liebe, Einsamkeit, Verzweiflung, Wut, Traurigkeit, Ausgrenzung? Nein, sagte Amalfitano, nichts dergleichen. Das Wort, das ich gefunden habe, lässt mich schaudern, denn nie hätte ich gedacht, es ausgerechnet hier zu finden. Welches Wort denn, mach es nicht so spannend. Illusion, sagte Amalfitano, aber so langsam, dass Castillo ihn zunächst nicht hörte. Illusion, wiederholte Amalfitano. Na, ich weiß nicht, sagte Castillo, und fügte einen Moment später hinzu: Ich weiß beim besten Willen nicht, wo du das siehst, hier gibt es eher Schmutz als Illusion. Amalfitano sah Castillo in die Augen (Padilla hätte ihn verstanden) und lächelte. Castillo erwiderte das Lächeln, wenn du so bist, wenn du so lächelst, sagte er, siehst du aus wie Christopher Walken. Amalfitano sah ihn dankbar an (er wusste genau, dass er nicht die geringste Ähnlichkeit mit Christopher Walken besaß, aber es zu hören, war angenehm) und stöberte weiter im Zimmer herum. Plötzlich kam er auf die Idee, die Matratze anzuheben. Darunter lag, wie um es so zu bügeln, ein Hawaii-Hemd. Auf grünem Untergrund tummelten sich biegsame Palmen und blaue Wellen mit glitzernden Schaumkronen und rote Cabriolets und weiße und zartgelbe Hotels und Touristen in Hawaii-Hemden, die identisch waren mit dem Großen Hawaii-Hemd, mit biegsamen Palmen und blauen Wellen mit glitzernden Schaumkronen und roten Cabriolets, wie ein Spiel sich ins Unendliche reflektierender Spiegel. Nein, nicht bis ins Unendliche, dachte Amalfitano, in einer der Bildeinschlüsse lächelten die Touristen nicht und trugen schwarze Hemden. Die Motive des Hemds sprangen Amalfitano bis auf den Rücken seines erschütterten Gemüts. Der faulige Geruch, der ohne Vorwarnung das Zimmer erfüllte, veranlasste ihn, sich die Nase zuzuhalten. Das Hemd war vergammelt. Castillo im Türrahmen machte ein angewidertes Gesicht. Hier ist jemand gestorben, sagte Amalfitano. Wo ist der Leichnam, Sherlock Holmes?, fragte Castillo. Sicher im Leichenschauhaus. Ach, wie negativ du manchmal bist, seufzte Castillo.
Als sie auf die Straße traten, begann die Sonne hinter den antennengespickten Dächern zu versinken. Mit ihren Spitzen schienen sie sich in die Bäuche der niedrigen Wolken zu bohren. In der Calle Mina kündigte das Teatro Carlota das gleiche Schauspiel an. Amalfitano und Castillo blieben unter dem Baldachin stehen und lasen eine ganze Weile, während eine fette Wolke über sie hinwegzog. In diesem Moment öffnete die Kasse. Ich lade dich ein, sagte Amalfitano. Einen Kommunikativen Striptease anzuschauen?, fragte Castillo grinsend. Komm, begleite mich, ich will das sehen, sagte Amalfitano, ebenfalls lachend, wenn es uns nicht gefällt, gehen wir wieder. Einverstanden, sagte Castillo.