15.

Hamburg-Pöseldorf, Sonntag, den 21. März, 21 Uhr

Als Fabel seine Wohnungstür öffnete, hörte er die Klänge einer Klassik-CD, und aus der Küchennische drangen Geräusche. Seltsam gemischte Gefühle stiegen in ihm hoch. Einerseits beruhigte und ermutigte es ihn, dass er nicht in eine leere Wohnung zurückkehrte – dass jemand auf ihn wartete. Aber andererseits hatte er unwillkürlich das Gefühl, dass seine Privatsphäre verletzt wurde. Er war froh darüber, dass Susanne und er noch nicht beschlossen hatten zusammenzuziehen. Oder wenigstens glaubte er, froh darüber zu sein. Vielleicht würde der richtige Zeitpunkt bald kommen, aber noch war es nicht so weit. Er vermutete, dass sie genauso dachte. Gleichzeitig jedoch quälte es Fabel, dass die Entscheidung hinausgezögert wurde. Beruflich musste er entschlossen auftreten, doch in seinem Privatleben schien er keine Entscheidungen treffen zu können – jedenfalls keine guten, weshalb er stets zögerte. Dabei wusste er genau, dass seine Unentschlossenheit zumindest teilweise zum Scheitern seiner Ehe mit Renate beigetragen hatte.

Er zog seine Jaeger-Sportjacke aus, löste sein Halfter mit der Pistole und legte beide auf das Ledersofa. Dann ging er zur Küchennische. Susanne briet gerade ein Omelette und hatte bereits einen Salat zubereitet. Ein gekühlter Pinot Grigio ließ zwei Weingläser beschlagen.

»Ich dachte, du würdest hungrig sein«, sagte sie, als er hinter sie trat und die Arme um ihre Taille legte. Sie hatte ihr langes dunkles Haar hochgesteckt, und er küsste ihren entblößten Hals. Ihr sinnlicher Geruch füllte seine Nüstern. Es war der Geruch des Lebens. Der Energie. Nach einem Tag mit den Toten glich schon dieser Geruch einem guten Wein.

»Ich habe Hunger«, bestätigte er. »Aber zuerst möchte ich duschen.«

»Gabi hat angerufen«, rief Susanne, als er vorsichtig unter die Dusche trat. »Nichts Wichtiges. Nur um zu plaudern. Sie hat mit deiner Mutter gesprochen: Es geht ihr gut.«

»Morgen rufe ich beide an.« Fabel lächelte. Er hatte befürchtet, dass seine Tochter Gabi Susannes Auftauchen übelnehmen würde, aber die beiden hatten sich sofort gut verstanden. Susanne war von Gabis Intelligenz und Witz angetan gewesen, und Gabi hatte sich von Susannes Schönheit, Stil und »supercoolem Job« beeindruckt gezeigt.

Nach der Mahlzeit unterhielten sich Fabel und Susanne über alle möglichen Themen, nur nicht über ihre Arbeit. Der einzige Hinweis, den Fabel auf die Ereignisse des Tages machte, bestand darin, dass er Susanne bat, an seiner Fallkonferenz am folgenden Nachmittag teilzunehmen. Sie gingen ins Bett und liebten sich langsam und schläfrig, bevor sie einschlummerten.

Er saß kerzengerade im Bett, als er aufwachte. Sein Rücken war schweißbedeckt.

»Alles in Ordnung?« Susanne klang besorgt. Er musste sie geweckt haben. »Wieder ein Traum?«

»Ja… Ich weiß nicht…« Er verzog das Gesicht in der Dunkelheit und spähte, als wolle er einen Blick auf seinen entschwindenden Albtraum erhaschen, durch die Schlafzimmertür und das Panoramafenster hinaus auf die glänzenden Lichter, die sich im Wasser der Außenalster widerspiegelten. »Wahrscheinlich.«

»Das passiert zu oft, Jan«, sagte sie und legte die Hand auf seinen Arm. »Diese Träume sind ein Zeichen dafür, dass du nicht mit den Dingen fertig wirst, mit denen du dich beschäftigen musst.«

»Mir geht’s bestens.« Seine Stimme war zu kühl und hart. Er drehte sich zu ihr um und milderte seinen Tonfall. »Es geht mir gut. Wirklich. Wahrscheinlich liegt es nur an deinem Käseomelette.« Er lachte und legte sich wieder hin.

Sie hatte Recht: Die Träume wurden schlimmer. Jeder Fall schien sich nun in seinen Schlaf einzuschleichen. »Ich weiß nicht einmal mehr, worum es ging«, log er. Zwei gesichtslose Kinder, ein Junge und ein Mädchen, hatten auf einer Lichtung im Wald gesessen und sich ein karges Picknick munden lassen. Vera Schillers Villa zeichnete sich durch die Bäume ab. In dem Traum war weiter nichts geschehen, doch Fabel hatte eine überwältigende Atmosphäre des Bösen verspürt.

Er lag in der Dunkelheit und dachte über die sich draußen ausdehnende Stadt nach. Seine Gedanken schweiften zu dem einsamen Waldpark im Süden. Hänsel und Gretel. In der Finsternis des Waldes verirrte Kinder. An der dunklen Elbe entlang zum helleren Strand von Blankenese. Ein am Elbufer liegendes Mädchen. Das war der Anfang, die Noten der Ouvertüre. Und Fabel hatte ihre Bedeutung übersehen.

Sein ermüdeter Geist versagte und verband unzusammenhängende Dinge miteinander. Er dachte an Paul Lindemann, den jungen Polizisten, den er bei seinem letzten großen Fall verloren hatte, und dann an Henk Hermann, den Schutzpolizeikommissar, der den Tatort im Naturpark gesichert hatte, und schließlich an Klatt, den Kripokommissar aus Norderstedt. Zwei Außenseiter in der Mordkommission, doch einer würde zu ihrem ständigen Mitglied werden. Aber Fabel wusste noch nicht, welcher. Draußen war Gelächter zu hören. Irgendwo in der Milchstraße kamen Gäste aus einem Restaurant. Ein anderes Leben.

Fabel schloss die Augen. Hänsel und Gretel. Ein Märchen. Er entsann sich an das Radiointerview, das er während der Rückfahrt von Norddeich gehört hatte, doch sein erschöpftes Hirn enthielt ihm den Namen des Autors vor. Er würde seinen Freund Otto fragen, der ein Buchgeschäft in den Alsterarkaden besaß.

Ein Märchen.

Fabel schlief ein.