Hamburg-Neustadt, Dienstag, den 27. April, 14.10 Uhr
Weiss war höflich und hilfsbereit gewesen, als Fabel ihn zu Hause angerufen hatte, aber in seinem Tonfall hatte er eine winzige Spur überstrapazierter Geduld mitschwingen lassen. Am folgenden Tag sei er beschäftigt, da er Bücher signieren und Recherchen für ein neues Buch anstellen müsse. Er werde in Neustadt sein, teilte er Fabel mit und schlug ihm vor, sich gegen 11.30 Uhr dort mit ihm zu treffen. »Sofern es Ihnen nichts ausmacht, mich a fresco zu befragen.«
Fabel traf wie gewohnt zehn Minuten vorher ein und setzte sich auf eine Bank in der Peterstraße, die zur Fußgängerzone gemacht worden war. Die letzten Wolkenreste hatten sich verflüchtigt, und der Himmel zeigte sich in makellosem, hellem Blau. Fabel verwünschte sein warmes Jaeger-Jackett. Sich angemessen für das wechselhafte Wetter anzuziehen war ein Problem, das er mit der übrigen Hamburger Bevölkerung teilte. Er konnte sein Jackett nicht ablegen, weil er seine Dienstpistole am Gürtel trug. Also entschied er sich für eine Bank im Schatten einer Baumreihe, die das Kopfsteinpflaster unterbrach. Die Peterstraße war von fünf- und sechsstöckigen, barock wirkenden Stadthäusern flankiert, deren Fassaden zahlreiche Fenster und Giebel niederländischen Stils aufwiesen.
Kurz nach 11.30 Uhr kam Weiss’ mächtige Gestalt aus dem imposanten Eingang von Nummer 36 an der Ecke Peterstraße/Hütten hervor. Fabel kannte das Gebäude, denn er hatte es als Student häufig aufgesucht. Er stand auf, und die beiden Männer schüttelten einander die Hand. Weiss deutete mit einer Geste an, dass sie beide auf der Bank Platz nehmen sollten.
»Geht es in Ihrem neuen Buch um eine ähnlich traditionelle Thematik?«, fragte Fabel. Weiss hob seine schweren Augenbrauen, und Fabel zeigte auf die Nummer 36. »Die Niederdeutsche Bibliothek… Ich nehme an, Sie befassen sich gerade mit plattdeutscher Literatur. Früher habe ich dort auch viel Zeit verbracht.«
»Wie kann ich Ihnen helfen, Herr Kriminalhauptkommissar?« Weiss’ Tonfall enthielt immer noch eine Spur von Gereiztheit.
Es nagte an Fabel, aber er sah darüber hinweg. »In diesem Fall treffen mehr Umstände zusammen, als mir lieb ist, Herr Weiss. Vermutlich hat der Mörder Ihr Buch gelesen und wird dadurch beeinflusst.«
»Oder der Mörder und ich benutzen einfach das gleiche Quellenmaterial, wenn auch auf radikal unterschiedliche Art. Damit meine ich die ursprünglichen Grimm’schen Kinder- und Hausmärchen.«
»Das ist unzweifelhaft richtig, aber ich habe auch das Gefühl, dass…« Fabel rang nach den angemessenen Worten. »…hier noch ein zusätzliches Element mitspielt. Eine Form der Interpretation sozusagen.«
»Womit Sie meinen, dass er sich nicht strikt an das Buch hält?«
»Ja.« Fabel hielt inne. Eine alte Frau ging mit einem Hund an einer Leine vorbei. »Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass der Schnitzer Ihr Bruder war? Dass er die Wolfsskulptur in Ihrem Arbeitszimmer geschaffen hat?«
»Weil ich nicht fand, dass es Sie etwas angeht. Oder dass es irgendetwas mit Ihren Ermittlungen zu tun hat. Deshalb drängt sich die Frage auf, weshalb Sie es für Ihre Angelegenheit halten. Gehöre ich zu den Verdächtigen, Herr Fabel? Möchten Sie, dass ich Ihnen vollständig Rechenschaft über meine Aufenthaltsorte gebe?« Weiss’ Augen verengten sich, und die schweren Brauen überschatteten die ersten Funken eines dunklen Feuers. »Oh, ich verstehe Ihre Logik. Vielleicht liegt Wahnsinn in der Familie.« Er neigte seinen massiven Kopf zu Fabel vor. »Vielleicht bin ich auch mondsüchtig.«
Fabel widerstand der Versuchung zurückzuweichen und hielt Weiss’ Blick stand. »Na schön, sagen wir, es gibt Verdachtsmomente. Ihr Buch kommt heraus, und plötzlich ereignet sich eine Serie von Morden, die sich genau an den Themen Ihres Romans orientieren. Außerdem erhöhen die Morde das öffentliche Interesse an Ihrem Buch – und die Verkaufszahlen. Das legitimiert meine Fragen an Sie.«
»Aha… Ich stehe also nicht nur im Licht der Öffentlichkeit, sondern auch im Scheinwerferlicht der Polizei.« Weiss verzog die Lippen zu einem kalten Lächeln. »Wenn Sie mir eine Liste der Daten und Uhrzeiten geben, für die ich ein Alibi brauche, werde ich Ihnen die Informationen liefern.«
»Das habe ich schon vorbereitet.« Fabel zog ein gefaltetes Stück Papier aus seiner Innentasche. »Hier stehen sämtliche Zeiten und Daten. Und es wäre nützlich, wenn Sie zusätzlich die Personen benennen könnten, die in der Lage sind, Ihre Angaben zu bestätigen.«
Weiss nahm das Blatt und steckte es in seine Jackentasche, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen. »Ich kümmere mich darum. Ist das alles?«
Fabel beobachtete die Frau und ihren Hund, die nach Hütten einbogen. »Hören Sie, Herr Weiss, Sie sind ein sehr intelligenter Mann. Die Übereinstimmungen zwischen Ihrem Buch und den Morden sind nicht der Hauptgrund für mein Kommen. Sie sind wahrscheinlich mein, wenn ich mich so ausdrücken darf, einziger Experte für das, was den Mörder antreibt. Ich muss ihn verstehen. Ich muss verstehen, was er in diesen Märchen sieht.«
Weiss lehnte sich auf der Bank zurück und spreizte seine großen Hände auf den Knien. Er betrachtete die Kopfsteine einen Augenblick lang, als denke er über Fabels Worte nach. »Meinetwegen. Aber ich weiß nicht, wie ich Ihnen helfen soll. Ich kenne seine Motive nicht. Es ist seine Realität, nicht meine. Meiner Ansicht nach hat das Ganze nichts mit den Grimm’schen Märchen zu tun. Es geht ihm um seine eigene Erfindung. Schließlich hat auch mein Buch, Die Märchenstraße, in Wirklichkeit nichts mit Jacob Grimm oder den Grimm’schen Märchen zu tun. Sie dienen nur als Hintergrund für das, was ich mir ausgedacht habe.« Weiss deutete auf die barock wirkenden Bürgerhäuser vor ihnen. »Schauen Sie dorthin. Wir sind hier von Geschichte umgeben. In der Hochsaison drängen sich Touristen, hauptsächlich Amerikaner, auf der Peterstraße – genau wie in Hütten und auf der Neanderstraße um die Ecke. Die Leute wollen den historischen Glanz der Gebäude genießen. Aber Sie wissen bestimmt sehr gut, dass alles eine Illusion ist. Die prächtigen barocken Stadthäuser wurden in den späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahren errichtet. Früher gab es hier keine derartigen Gebäude. Sie sind nicht einmal Rekonstruktionen, sondern schlicht Fälschungen. Gewiss, sie wurden historischen Plänen nachempfunden, aber sie gehören nicht hierher, an diesen Ort, in diese Zeit. In überhaupt keine Zeit.«
»Worauf wollen Sie hinaus, Herr Weiss?«
»Nur darauf, dass Sie und ich Bescheid wissen, wie jeder, der die Hamburger Geschichte kennt. Aber die meisten Menschen haben keine Ahnung. Sie kommen hierher, setzen sich auf diese Bänke, genau wie wir jetzt, und saugen etwas in sich auf, das sie für deutsche Geschichte halten und das ein entsprechendes Gefühl in ihnen erzeugt. Das hier ist ihre Erfahrung und ihre Realität, weil sie daran glauben. Sie sehen keinen Betrug, weil er nicht zu erkennen ist.«
Weiss rieb seine Knie frustriert mit den Handballen, als falle es ihm schwer, seine Gedanken zu formulieren. »Sie haben nach meinem Bruder gefragt. Ich habe nicht erwähnt, dass er die Figur in meinem Arbeitszimmer geschaffen hat, weil alles noch zu real für mich ist. Zu schmerzhaft. Ich war froh, als Daniel sich umgebracht hatte, aber es fällt mir immer noch schwer, damit fertig zu werden. Er hatte sich am Ende so sehr gequält, dass ich erleichtert war, als er Schluss machte. Ich habe Ihnen bereits erzählt, dass sich Daniel für einen Lykanthropen, einen Werwolf, hielt. Tatsache ist, dass er wirklich daran glaubte. Für ihn war es eine unbestreitbare, grässliche Realität. Er war mein älterer Bruder, und ich habe ihn innig geliebt. Er hat alles verkörpert, was ich werden wollte. Dann, als ich ungefähr zwölf und er siebzehn Jahre alt war, begannen die psychotischen Schübe. Ich habe sie miterlebt, Herr Hauptkommissar. Ich war Zeuge, wie mein Bruder von einer unsichtbaren Kraft zerrissen wurde. Es war nicht bloß eine psychische Qual, die ihn brüllen und heulen ließ, sondern zugleich ein intensiver physischer Schmerz. Wir sahen einen Teenager, der einen Anfall hatte, aber Daniel empfand wirklich, wie sich jede Sehne verdrehte und streckte, wie sich seine Knochen bogen, wie sein Körper eine unglaubliche Folter durchmachte, während er seine Gestalt veränderte. Ich will darauf hinaus, dass er all das spürte. Für ihn war es real, wenn auch nicht für uns.« Weiss wandte den intensiven Blick ab, mit dem er Fabel bisher angesehen hatte. »Dadurch erhielt ich die Idee für meine ›Wahlwelten‹-Romane. Im ersten schrieb ich über Daniel. Ich machte ihn zu einem Wolf, nicht zu einem Werwolf, sondern zu einem Wolfskönig, der über sämtliche Rudel der Welt herrscht. In meiner Geschichte war er glücklich und frei – frei von Schmerz. Und das wurde meine Realität für ihn.« Fabel bemerkte die Trauer in den dunklen Augen. »Deshalb irren Sie sich, wenn Sie meinen, dass sich der Mörder nicht an das Buch, an die authentischen Märchen, hält. Das tut er, denn es ist sein Buch. Es ist seine Realität.«
»Aber er wird durch die Grimm’schen Märchen und vielleicht sogar durch Ihr Buch inspiriert?«
»Offensichtlich. Nur können wir nicht vorhersagen, wie er sie interpretiert… Erinnern Sie sich noch an meine Illustrationssammlung?« Fabel nickte. »Gut. Dann machen Sie sich bewusst, wie viele äußerst individuelle, künstlerische Interpretationen der Grimm’schen Märchen die Bilder wiedergeben. Und das ist nur ein Bruchteil der Gemälde, Zeichnungen, Buchillustrationen und Skulpturen, die von den Märchen inspiriert worden sind. Nehmen Sie Humperdincks Oper… Das Sandmännchen kommt und streut Hänsel und Gretel Zaubersand in die Augen, um sie einschlafen zu lassen. Das hat nicht das Geringste mit dem ursprünglichen Märchen zu tun. Die Interpretation des Mörders – und er hält sich offensichtlich für einen Künstler – ist so subjektiv und persönlich wie alle übrigen. Solche Interpretationen können verzerrt sein. Die Nazis verleibten sich die Grimm’schen Märchen genauso ein wie alles andere von unserer Kultur, das sie für ihre Zwecke verdrehen und korrumpieren konnten. Es gibt eine besonders scheußliche, berüchtigte Buchillustration, auf der eine sehr ›arische‹ Gretel die alte Hexe in den Ofen stößt. Die alte Hexe hat stereotyp-jüdische Züge. Es ist eine abstoßende Arbeit und, wenn man darüber nachdenkt, ein ziemlich gruseliges Omen der kommenden Gräuel.«
»Sie meinen also, dass es bei diesem Fall nicht um einen Plan, sondern um ein Thema geht?
Weiss zuckte die Achseln. »Ich meine, wir können nicht ahnen, was er unternehmen wird oder wie sich sein Werk entfaltet. Aber das Material, mit dem er arbeitet, gibt ihm einen schrecklichen Spielraum und eine Auswahl an Geschichten, die er seinen Zielen anpassen kann.«
»Dann möge Gott uns helfen«, sagte Fabel.