34.

Hamburg-Pöseldorf, Sonntag, den 11. April, 2.45 Uhr

Fabel lag da und lauschte Susannes gleichmäßiger, tiefer Atmung. Ihre Gegenwart wurde immer beruhigender für ihn, und die Träume stellten sich nicht so häufig ein, wenn sie neben ihm war. Ihre Anwesenheit schien ihn zu trösten und ihm zu einem besseren, tieferen Schlaf zu verhelfen. Aber heute Nacht überschlugen sich seine Gedanken. Es gab unendlich viel zu tun. Dieser Fall breitete sich aus wie ein dunkler Tumor und verdrängte die wenigen Momente, die Fabel noch für ein Privatleben blieben. So viele Dinge auf seiner geistigen Checkliste waren noch nicht abgehakt. Seine Mutter wurde älter, und seine Tochter wuchs heran. Keine von beiden erhielt die Zeit, die sie verdiente – die Zeit, die Fabel ihnen widmen wollte. Seine Beziehung zu Susanne war gut, nahm aber nicht die klare Form an, die sie in diesem Stadium hätte bekommen sollen. Fabel wusste, dass er es auch hier an Aufmerksamkeit fehlen ließ. Er war überrascht über den scharfen Stich der Panik in seiner Brust, als er daran dachte, sie vielleicht zu verlieren.

Er hatte seine Mutter in den vergangenen Tagen mehrere Male angerufen, aber er musste die Zeit finden, sie wieder in Norddeich zu besuchen. Lex hatte dem geschäftlichen Druck nachgeben und nach Sylt zurückkehren müssen, um sein Restaurant zu führen. Seine Mutter beharrte darauf, dass sie durchaus fähig sei, für sich selbst zu sorgen, doch Fabel wollte sich persönlich davon überzeugen.

Er schwang die Beine über die Bettkante und blieb einen Augenblick lang sitzen. Wohin er sich auch wandte, es gab so vieles, was seine Aufmerksamkeit zu fordern schien. Zumindest hatte er die Lücke in seinem Team gefüllt. Doch sogar das verursachte Probleme. Anna wies Henk Hermann ein, aber Fabels unorthodoxe Rekrutierungsmethoden hatten die Bürokraten innerhalb der Hamburger Polizei verärgert. Rein formell hätte es Fabel keine Mühe bereiten sollen, Hermann aus der Schutzpolizei zu übernehmen, denn dieser hatte bereits die notwendige Ausbildung an der Landespolizeihochschule neben dem Präsidium durchlaufen. Aber dem uniformierten Dienst fehlte es immer an Beamten, und Fabel wusste, dass es schwierig werden würde, Hermann permanent zur Kriminalpolizei versetzen zu lassen. Vorläufig hatte er den Mann zur Mordkommission »abordnen lassen«, bis der Fall abgeschlossen war, und danach konnte Hermann den noch erforderlichen Kursus absolvieren.

Es herrschte stets Nervosität, wenn sich ein neues Team zusammenraufte, und Fabel machte sich Sorgen darüber, wie Anna Wolff auf einen neuen Partner reagieren würde. Sie war offensichtlich das unberechenbare Element im Team und hatte ihre Impulsivität an der rasanten Motorradjagd nach Olsen erkennen lassen. Andererseits wollte Fabel Anna nicht ganz entmutigen, denn ihr intuitives Herangehen eröffnete ihr oft eine Perspektive auf einen Fall, die den anderen entging. Aber sie benötigte ein Gegengewicht, und genau das hatte Paul Lindemann bis zu seinem Tod gebildet. Selbst diese Partnerschaft hatte jedoch nicht reibungslos begonnen. Fabel hoffte, dass die Übergangszeit mit Henk Hermann leichter werden würde, da Anna erfahrener und reifer war. Ihre mürrische Reaktion auf die Nachricht von Hermanns Rekrutierung hatte Fabel jedoch klar gemacht, dass er ein ernstes Gespräch mit ihr führen musste. Niemand war wichtiger als das Team.

Vieles an diesem Fall schien sich Fabels Kontrolle zu entziehen. Olsen war wie vom Erdboden verschluckt und der Verhaftung nun schon seit mehr als einer Woche entgangen. Die ersten drei Morde hatten das übliche Medieninteresse ausgelöst, vor allem der Doppelmord im Naturpark. Aber nachdem Laura von Klosterstadt getötet worden war, hatte sich die gesamte Situation geändert. Zu Lebzeiten hatte Laura einen hohen Gesellschaftsstatus, Ruhm und Schönheit besessen, und diese Elemente hatten sich nach ihrer Ermordung zu einer Art Sprengsatz miteinander verbunden und waren in einen unendlich scheinenden Strom von Medienberichten explodiert. Dann hatte jemand, fast unvermeidlich, die strikten Sicherheitsbestimmungen durchbrochen, mit denen Fabel die Ermittlungen zu diesem Fall hatte abschirmen wollen.

Vermutlich war seine Sorge, dass van Heiden zu viele Informationen an Senator Ganz weitergab, gerechtfertigt gewesen. Ganz hatte das Feuer der Publizität nicht schüren wollen, doch er erwies sich als unüberlegt in der Wahl seiner Vertrauten. Allerdings konnten die Einzelheiten aus hundert möglichen Quellen durchgesickert sein. Als Fabel vor ein paar Tagen die Fernsehnachrichten eingeschaltet hatte, musste er hören, dass die Polizei Hamburg nach einem »Märchenmörder« fahnde. Am folgenden Tag hatte er sich ein Interview mit Gerhard Weiss im Hamburg-Journal des NDR angesehen. Die Verkaufsziffern von Weiss’ Buch waren anscheinend über Nacht hochgeschnellt, und nun verkündete er der Öffentlichkeit, dass ihn die Polizei Hamburg bereits um seinen Rat zu diesen neuesten Morden gebeten habe.

Fabel stand auf und ging aus dem Schlafzimmer ins Wohnzimmer. Das Panoramafenster ermöglichte ihm einen Blick auf die nächtlich glitzernde Außenalster und auf die Lichter von Uhlenhorst und Hohenfelde dahinter. Sogar um diese Stunde konnte er den Scheinwerfern eines kleinen Bootes folgen, das die Alster überquerte. Diese Aussicht erfüllte ihn stets mit Ruhe. Er dachte daran, wie Laura von Klosterstadt auf ihr eigenes Panoramafenster zugeschwommen war. Aber während Fabel seinen Blick aus dem Fenster liebte, weil er ihm ein Gefühl der Verbundenheit mit der Stadt vermittelte, hatte Laura ein Vermögen für eine Architektur der Abschirmung aufgewandt. Sie hatte sich ein Himmelspanorama geschaffen und sich von der Landschaft, von den Menschen distanziert. Was hatte eine so schöne, intelligente junge Frau veranlasst, sich derart abzusondern?

Fabel stellte sich vor, wie Laura in den Nachthimmel schwamm, der von ihren riesigen Fenstern umrahmt war. Aber er sah nur sie. Sie war allein. Alles an ihrem Haus deutete auf Isolation hin, auf einen Rückzug aus einem Leben vor den Kameras und vor der Öffentlichkeit. Eine einsame, schöne Frau ließ ruhige kleine Wellen im seidenen Wasser entstehen, während sie der Unendlichkeit entgegenschwamm. Nur sie. Aber es musste noch jemand anders mit ihr im Wasser gewesen sein. Die Autopsie hatte ergeben, dass sie in ihrem Swimmingpool ertränkt worden war. Die unmittelbar vor ihrem Tod am Hals erzeugten Quetschungen ließen vermuten, dass jemand sie unter Wasser gedrückt hatte. Möller, der Gerichtsmediziner, meinte, dass die Quetschungen von einer einzigen Hand – einem ausgestreckten Daumen auf der einen und dem Griff der übrigen Finger an der anderen Seite – herrührten. Die Spannweite der Hand sei enorm gewesen.

Große Hände. Wie die von Olsen oder auch von Gerhard Weiss.

Wer war es, Laura? Wer war mit dir im Pool? Warum hast du deine sorgfältig aufgebaute Isolation mit jemandem geteilt? Fabel starrte auf das Panorama und stellte einer toten Frau Fragen, die ihre Familie nicht hatte beantworten können. Fabel hatte Lauras Eltern auf ihrem großen Anwesen im Alten Land besucht. Es war eine erschütternde Erfahrung gewesen. Lauras Bruder Hubert hatte Fabel seinen Eltern vorgestellt. Peter von Klosterstadt und seine Frau Margarethe waren die Verkörperung aristokratischer Gelassenheit, doch Peter hatte angespannt gewirkt. Die Kombination aus Jetlag und Kummer ließ sich an seinen Augen und der Mattheit seiner Reaktionen ablesen. Margarethe von Klosterstadt hingegen wirkte eiskalt und gefasst. Ihr Mangel an Emotionen hatte Fabel an seine ersten Eindrücke von Hubert erinnert. Laura hatte ihre Schönheit offenkundig von ihrer Mutter geerbt, aber in Margarethes Fall war es eine harsche, unerbittliche Schönheit. Sie musste Anfang fünfzig sein, doch ihre Figur und die Straffheit ihrer Haut hätten den Neid einer um die Hälfte jüngeren Frau erwecken können.

Zuerst hatte Fabel gedacht, sie betrachte Maria und ihn mit einer eingeübten Arroganz, bis er feststellte, dass ihre Züge stets den gleichen maskenhaften Ausdruck trugen. Fabel hatte sie vom ersten Moment ihrer Begegnung an nicht leiden können. Außerdem war er verstört darüber gewesen, welche sexuelle Anziehungskraft sie auf ihn ausübte.

Das Gespräch hatte wenig erbracht, abgesehen davon, dass Fabels Aufmerksamkeit auf Heinz Schnauber, Lauras Agenten, gelenkt worden war. Schnauber, der wohl engste Vertraute des Opfers, war außer sich über Lauras Tod. »Wie nicht anders zu erwarten«, hatte Margarethe von Klosterstadt kommentiert.

Fabel merkte, dass Susanne hinter ihm stand. Sie legte die Arme um seine Taille und ließ ihr Kinn auf seiner Schulter ruhen, während sie gemeinsam auf die Alster blickten. Er spürte die Wärme ihres Körpers an seinem Rücken.

»Entschuldige«, sagte er mit einer Drei-Uhr-morgens-Stimme. »Ich wollte dich nicht wecken.«

»Das macht nichts. Was ist los? Wieder ein Albtraum?«

Er wandte den Kopf und küsste sie. »Nein. Nur Dinge, die mir durch den Kopf gehen.«

»Was denn?«

Er drehte sich um, nahm sie in die Arme und küsste sie lange auf die Lippen. Dann sagte er: »Ich möchte, dass du mit mir nach Norddeich kommst. Es wäre schön, wenn du meine Mutter kennen lernst.«