Hamburg-Heimfeld, Freitag, den 30. April, 16.20 Uhr
Das Haus stand am Rande des Staatsforstes, unweit der Gegend, wo der Wald von der A 7 durchschnitten wird. Es war groß und alt und sah deprimierend aus. Fabel nahm an, dass es in den Zwanzigerjahren gebaut worden war, aber das Haus wies keine typischen Züge auf. Es erhob sich in einem großen, verwilderten Garten und machte einen verwahrlosten Eindruck. Sein trister Anstrich war fleckig und schuppig wie eine kranke Haut.
Irgendetwas erinnerte Fabel an die Villa, in der Fendrich wohnte und die er sich, bis zu ihrem Tod, mit seiner Mutter geteilt hatte. Auch dieses Haus wirkte verloren und deplatziert, als befände es sich nun in einer Umgebung und in einer Zeit, die nichts mehr mit ihm gemein hatten. Sogar seine Lage, mit dem Waldstreifen im Hintergrund und der Autobahn dicht neben ihm, wirkte unangemessen.
Sie waren mit zwei Autos gekommen und hatten außerdem einen Streifenwagen angefordert. Fabel, Werner und Maria gingen sofort zur Haustür und klingelten. Nichts rührte sich. Anna und Henk Hermann standen hinter ihnen und winkten den Schutzpolizisten zu, die eine Türramme aus dem Kofferraum ihres grün-weißen Opels hervorholten. Die Kriminalbeamten traten zur Seite, sodass die Schutzpolizisten die Ramme knapp unterhalb des Schlosses gegen die Tür wuchten konnten. Die Tür war aus massivem Eichenholz, das sich im Laufe der Jahre fast schwarz verfärbt hatte. Die Männer schwangen die Ramme dreimal, bevor das Holz vom Schloss absplitterte und die Tür gegen die Wand der Eingangshalle knallte.
Fabel und die anderen wechselten einen Blick, bevor sie Biedermeyers Haus betraten. Alle wussten, dass sie mit einem außergewöhnlichen Wahnsinn konfrontiert werden würden, und sie rüsteten sich für das, was kommen mochte.
Sie begannen in der Eingangshalle.
Das Innere des Hauses war düster, und eine Glastür trennte die Halle vom Flur dahinter. Fabel schob die Tür behutsam auf, obwohl er mit keiner Gefahr rechnete. Biedermeyer war nun in seiner Zelle eingesperrt – oder auch nicht, denn seine mächtige Präsenz war hier immer noch zu spüren. Der Flur war groß und schmal; an der hohen Decke hing eine Lampe mit drei Glühbirnen. Fabel schaltete das Licht an, und der Flur füllte sich mit einem öden, gelblichen Schimmer.
Die Wände waren mit einer Art Patchwork aus Bildern sowie bedruckten und handschriftlichen Seiten bedeckt. Blätter des vertrauten gelben Papiers, voll mit den vertrauten winzigen roten Buchstaben, waren an eine Wand geklebt worden. Fabel musterte sie: Sämtliche Grimm’schen Märchen waren völlig fehlerfrei von derselben zwanghaften Person niedergeschrieben worden. Ein unglaublicher Wahnsinn. Zwischen den Blättern hingen Druckseiten aus verschiedenen Ausgaben der grimmschen Werke. Und Bilder – Hunderte von Märchenillustrationen. Viele erinnerten Fabel an die Originale, die der Schriftsteller Gerhard Weiss gesammelt hatte. Andere stammten aus der Nazizeit und ähnelten den von Weiss beschriebenen Bildern. Fabel bemerkte, dass Anna Wolff stehen geblieben war, um eines zu betrachten. Es stammte aus den Dreißigerjahren, und die alte Hexe hatte die Gesichtszüge einer jüdischen Karikatur. Mit krummem Rücken schürte sie das Feuer unter dem Ofen, den sie mit gierigem, kurzsichtigem Blick anschaute. Es war eine der ekelhaftesten Abbildungen, die Fabel je gesehen hatte. Darin verbarg sich eine Bedrohung, eine Ankündigung des Bösen. Er konnte nur ahnen, was Anna empfinden musste.
Sie schoben sich durch den Flur. Mehrere geräumige Zimmer gingen von ihm ab, und an einer Seite führte eine Treppe nach oben. Alle Zimmer waren unmöbliert, doch Biedermeyers irre Collagen hatten sich auch hier und an der Seite der Treppe ausgebreitet wie Schimmel oder Fäulnis. Ein Geruch, den Fabel nicht identifizieren konnte, lauerte in dem Haus, haftete an den Wänden und klammerte sich an die Kleidung der Polizisten.
Fabel nahm sich das erste Zimmer zur Linken vor und bedeutete Werner durch ein Zeichen, den gegenüberliegenden Raum zu untersuchen. Maria ging den Flur entlang, und Anna und Henk stiegen die Treppe hinauf. Fabel musterte seine Umgebung. Der dunkle Holzfußboden war staubig, und wie in den anderen Zimmern fehlten Möbel, als ob hier niemand wohnte.
»Chef«, rief Anna von oben. »Sieh dir das an.« Fabel, gefolgt von Werner, stieg hastig die Treppe hinauf. Anna stand an einer offenen Tür, die in ein Schlafzimmer führte. Hier musste sich, im Gegensatz zu den anderen Räumen, jemand aufgehalten haben. Die Wände waren, wie die im Flur, mit handgeschriebenen Seiten, Bildern und Abschnitten aus Büchern bedeckt. Mitten im Zimmer stand ein Klappbett mit einem kleinen Serviertisch daneben. Doch nichts davon weckte Fabels Aufmerksamkeit. An zwei Wänden waren Regale voller Bücher angebracht. Fabel trat näher. Nein, keine Bücher. Ein Buch.
Biedermeyer musste Jahre damit verbracht und fast sein gesamtes Geld dafür aufgewandt haben, sich diese Ausgaben der Grimm’schen Märchen zu kaufen. Antiquarische Exemplare standen neben nagelneuen Paperbacks; goldgeprägte Buchrücken neben billigen Taschenbucheinbänden. Französische, englische und italienische Editionen befanden sich neben ungezählten deutschen Ausgaben aus einer fast zweihundertjährigen Publikationsgeschichte. Kyrillische, griechische, chinesische und japanische Titel lösten sich mit Werken in lateinischer Schrift ab.
Fabel, Werner, Anna und Henk waren ein paar Sekunden lang sprachlos, bevor Fabel sagte: »Ich glaube, wir sollten in den Keller gehen.«
»Mir scheint, ich habe ihn gefunden oder wenigstens den Eingang.« Maria war hinter ihnen in der Tür erschienen. Sie führte ihre Kollegen die Treppe hinunter und den Flur entlang. Der Raum am hinteren Ende war die Küche des Hauses oder hatte früher als Küche gedient. Sie war ausladend, und an der Wand stand ein Herd. Seine relative Sauberkeit und das schwache Summen des großen, neu wirkenden Kühlschranks ließen vermuten, dass dies neben der Schlafzimmer-Bücherei im ersten Stock die einzige bewohnte Fläche im Haus war. Zwei Türen waren nebeneinander in die Wand eingelassen. Die eine stand offen und führte in eine Speisekammer, die andere war mit einem Schloss abgesperrt.
»Die hier führt wahrscheinlich in den Keller«, sagte Maria.
»Und zu Paula…« Anna starrte die Tür an.
Werner verließ die Küche und eilte zur Haustür, wo die beiden Schutzpolizisten Wache standen. Kurz darauf kam er mit einem Brecheisen zurück.
»Dann man los.« Fabel nickte zu dem Schloss hinüber.
Sobald das Schloss aufgebrochen und die Tür geöffnet war, merkte Fabel, dass der Geruch, den er vorher bemerkt hatte, deutlich intensiver wurde. Die Stufen verschwanden unten in der Dunkelheit. Werner ertastete einen Lichtschalter, und als er darauf drückte, erwachten Neonröhren flackernd zum Leben. Fabel führte sein Team in den Keller.
Es war eine Bäckerei. Eine richtige, funktionsfähige Bäckerei. Wie Biedermeyer gesagt hatte, war hier ein riesiger italienischer Backofen eingebaut worden. Auf dem Tablettwagen davor hätte man ein Dutzend Brotlaibe unterbringen können. Anders als im übrigen Haus wirkte im Keller alles makellos sauber. Ein Vorbereitungstisch aus rostfreiem Stahl glänzte unter den Neonröhren. An einer Seite stand eine Gebäckformmaschine. Fabel sah hinab auf den Betonfußboden. Darunter lag Paula.
Der Geruch. Brandgeruch. Fabel erinnerte sich daran, dass Biedermeyer ihn und seine Kollegen aufgefordert hatte, den Ofen abzuschalten, der seit dem Morgen angestellt war. Fabel hatte das für einen Witz gehalten, aber offensichtlich hatte Biedermeyer begonnen, etwas zu backen, bevor er zur Arbeit gefahren war, und er hatte erwartet, am Nachmittag zurück zu sein.
Die Zeit schien für Fabel stehen zu bleiben. Das in ihm aufschießende Adrenalin verlängerte jede Sekunde, und in jenem Moment legte er eine größere Entfernung zurück als während der gesamten Ermittlung. Er drehte sich zu seinen Kollegen um. Die standen da und musterten den Betonfußboden, als könnten sie Paula darunter erspähen. Nicht Paula, sondern Gretel. Fabel warf einen Blick zurück auf den Tablettwagen, der innerhalb des Ofens hätte sein müssen. Und nichts wird einen ganzen Tag lang gebacken.
»O mein Gott«, rief er und griff nach dem Tuch auf dem Vorbereitungstisch. »O nein…«
Er wickelte das Tuch um den Ofengriff und drehte ihn um. Dann schwenkte er die Tür auf.
Eine Welle aus Hitze und ekelhaftem Gestank rollte über Fabel hinweg in die Kellerbäckerei. Es war der klebrige, erstickende Gestank von bratendem Fleisch. Fabel wich zurück und presste das Tuch auf seine Nase und seinen Mund. Sein Universum faltete sich tausendmal zusammen, bis es nichts mehr als ihn selbst und das sich ihm darbietende Grauen enthielt. Er hörte nicht, wie Henk Hermann würgte, Maria einen Aufschrei unterdrückte und Anna Wolff schluchzte. Das Einzige, was in sein Bewusstsein drang, war der Anblick dessen, was im Inneren des Ofens lag.
Ein großes Metalltablett ruhte auf dem Boden des Backofens. Darauf lag, in Embryohaltung gefesselt, der nackte und halb gekochte Körper einer alten Frau. Ihr Haar war fast verschwunden, nur ein paar klumpige Fetzen hafteten noch an der gerösteten Kopfhaut. Die Haut war geschwärzt und aufgeplatzt. Die Hitze hatte die Sehnen ausgetrocknet und gestrafft, sodass der Körper noch krummer geworden war.
Fabel betrachtete die Leiche. Dies war Biedermeyers Meisterstück – Bruder Grimms letztes Märchen, durch das der Kreis geschlossen wurde. Das Ende von »Hänsel und Gretel«: Die böse Hexe wird in ihren eigenen Backofen gestoßen.