20.

 

Anna Wolff stand am Fenster von Fabels Büro, lehnte sich an die Wand und schaute über die dunklen Bäume im Winterhuder Stadtpark hinweg. Das Licht verblasste, doch der Himmel war nun wolkenlos und erinnerte an ein dunkelblaues Seidentuch.

»Das war aber eine lange Kaffeepause …«, sagte sie und drehte sich um, als Fabel das Büro betrat.

»Wie bitte? Bist du unsere neue Refafrau?« Er setzte sich an seinen Schreibtisch. »Ich habe gerade ein sehr interessantes Gespräch mit Fabian Menke vom BfV geführt. Über das Pharos-Projekt.«

»Genau darüber wollte ich mit dir reden. Und über das, was die Technische Abteilung aus den Computern herausgeholt hat, die wir heute Nachmittag beschlagnahmt haben.« Anna klopfte auf eine Akte auf Fabels Tisch. »Vorläufige Ergebnisse. In diesem Moment graben sich Geeks immer tiefer ins Silizium ein.« Sie imitierte ein kleines Kriechtier und rümpfte die Nase.

»Irgendwas Aussichtsreiches?«

»Absolut nichts.« Sie seufzte. »Diese Burschen sind anscheinend sauber. Seltsam, aber sauber. Allerdings fehlt uns ein Computer.«

»Ich konnte ihm das Gerät nicht wegnehmen, Anna. Wenn du dabei gewesen wärest …« Er verzog das Gesicht. »Oder nein, wenn du dabei gewesen wärest, hättest du den Computer mitgenommen. Wahrscheinlich auch seinen Rollstuhl.«

»Wir müssen ihn wirklich überprüfen. Selbst wenn er physisch nicht als Verdächtiger in Frage kommt, könnte seine Interaktion mit den Opfern uns etwas verraten.«

»Darüber bin ich mir im Klaren, Anna. Ich habe veranlasst, dass einer von Kroegers Leuten bei Reisch vorbeifährt und sich den Computer ansieht.« Fabel hob den Ordner auf und blätterte den abgehefteten Bericht durch. »Wir werden wohl weiterackern müssen; uns die nächste Gruppe von IP-Adressen ansehen.«

»Das kann ewig dauern«, sagte sie.

»Sonst haben wir keine Anhaltspunkte.« Er nickte in Richtung des Stuhles ihm gegenüber. »Setz dich, Anna.«

»Schon in Ordnung«, antwortete sie geistesabwesend. »Ich stehe lieber. Habe den ganzen Tag gesessen, und mein Bein wird ein bisschen steif.«

Für einen Sekundenbruchteil rang Fabel nach Worten, was Anna nicht entging.

»Jan, es geht mir gut. Ich wünschte, wir würden das Thema endlich abhaken. Es war nicht deine Schuld.«

Er musterte den vor ihm liegenden Bericht – eher, um den Blickkontakt mit Anna zu vermeiden, als um den Inhalt zu lesen.

»Doch, es war meine Schuld«, widersprach er. »Ich hatte das Kommando – genau wie in der Nacht, als Paul getötet wurde.«

»Wir haben einen gefährlichen Beruf, Jan. Das wusste ich und Paul auch. Man kann nicht jede denkbare Möglichkeit einplanen.«

»Ich träume dauernd von ihm«, sagte Fabel mit leiser, ruhiger Stimme. »Fast jede Woche oder jede zweite. Immer den gleichen Traum. Wir sind im Arbeitszimmer meines Vaters, im Haus meiner Eltern in Norddeich, und Paul sitzt da und spricht mit mir. Nicht über etwas Wichtiges oder Bedeutsames. Er sitzt einfach da und plaudert. Aber ich weiß, dass er tot ist. Er hat die Wunde am Kopf, und manchmal erklärt er, dass es ihm schwerfällt, sich eine Meinung zu bilden, weil er tot ist.«

»Ich dachte, die Träumerei hätte aufgehört.« Anna runzelte die Stirn.

»Das behaupte ich Susanne gegenüber. Der offizielle Kurs. Es ist anstrengend, mit einer Psychologin zusammenzuleben. Ich weiß nicht, ob sie mir glaubt, aber ich weiß, dass Paul, wenn ich anders gehandelt hätte, noch am Leben wäre, Maria Klee nicht in einer Nervenheilanstalt säße und du nicht angeschossen worden wärest.« Er stöhnte. »Entschuldige, können wir damit aufhören?«

»Du bist der Chef«, erwiderte Anna lächelnd. »Zum Pharos-Projekt. – Zeigst du mir dein Material, wenn ich dir meins zeige?«

»Ich bin ganz Ohr.« Fabel lehnte sich in seinem Sessel zurück.

»Ich weiß nicht, warum ich die Sache für dich untersuchen sollte, aber ich habe einige sehr verdächtige Dinge über Pharos gehört. Ich werde dich nicht fragen, wie du es erfahren hast, doch es gibt eine Verbindung zu den Morden.«

Fabel wirkte verblüfft.

»Du hast mich doch beauftragt, weil eine Verbindung besteht?«, fragte Anna.

»Nein … Nein, ganz und gar nicht. Wie gesagt, es geht um etwas anderes.«

»Dann ist das ein erstaunlicher Zufall«, sagte Anna.

»Man muss ein bisschen nachgraben, aber Dominik Korn, der das Pharos-Projekt leitet, ist auch Chef des Konsortiums, dem Virtual Dimension gehört und von dem es betrieben wird. Ich meine das Reality-Spiel, in das sich alle Opfer eingeloggt hatten. Aber warum warst du an Pharos interessiert?«

»Eine bloße Vermutung … Ich dachte, es könnte eine Verbindung zu der anderen Toten geben. Der Wasserleiche.« Fabel seufzte. »Eine Frau scheint verschollen zu sein, Meliha Yazar. Vielleicht besteht hier eine Verbindung zum Pharos-Projekt. Sie könnte Nachforschungen darüber angestellt haben.«

»Worauf hast du dich bloß eingelassen, Jan?« Anna stützte sich auf Fabels Schreibtisch. Ihre Miene ließ aufrichtige Besorgnis erkennen.

»Auf etwas, das ich mir lieber hätte ersparen sollen«, sagte er ernst. »Berthold Müller-Voigt hat mich dazu überredet. Das bleibt unter uns, Anna …«

Sie nickte.

»Müller-Voigt hatte etwas mit dieser Frau.«

»Und mit der halben weiblichen Bevölkerung von Hamburg, wie ich höre«, sagte Anna.

»Dies ist etwas anderes. Müller-Voigt ist vernarrt in sie. Und ihr Verschwinden beunruhigt ihn sehr.« Fabel fasste die Gespräche zwischen ihm und dem Umweltsenator kurz zusammen.

»Weißt du«, meinte Anna, »ich setze mich vielleicht doch lieber hin. Du kannst dir nicht vorstellen, was ich über Pharos herausgefunden habe. Wenn Müller-Voigts neueste Geliebte wirklich Nachforschungen über das Projekt angestellt hat, könnte sie sich übernommen haben. Wie gesagt, Pharos ist das geistige Produkt von Dominik Korn. Hast du schon von ihm gehört?«

»Nicht, bevor Müller-Voigt ihn erwähnt hat.«

»Das überrascht mich nicht. Dominik Korn ist einer der reichsten Männer der Welt – milliardenschwer, genau wie sein Stellvertreter Peter Wiegand –, aber kaum jemand ist so öffentlichkeitsscheu wie er. Seit Jahren hat niemand außer Wiegand und seinem Zirkel enger Berater Kontakt zu ihm. Ab und zu nimmt er an Videokonferenzen mit anderen wichtigen Leuten in seinem Geschäftsimperium teil. Er wohnt auf einer riesigen Jacht. Und ›riesig‹ ist kaum das richtige Wort. Sie könnte dem durchschnittlichen russischen Oligarchen Minderwertigkeitskomplexe einflößen.«

»Warum lebt er so zurückgezogen?«

»Offenbar hatte er einen Tauchunfall, der durch eine schwere Dekompressionskrankheit und andere Komplikationen einen furchtbaren Schlaganfall bei ihm ausgelöst hat. Es ist ein Wunder, dass er noch am Leben ist, aber er ist in einem ähnlichen Zustand wie der Mann, den du heute vernommen hast. Seitdem muss er rund um die Uhr auf seiner Jacht versorgt werden.«

»Und er ist auch das Oberhaupt dieser Sekte?«

»Guru Nummer eins anscheinend. Er hört sich nach einem Spinner an, aber er soll genauso viel Grips wie Bargeld haben. Sein IQ gilt als gigantisch.« Anna schaute in ihr Notizbuch. »Er hat Ozeanografie, Hydrologie und Umweltwissenschaften in den Vereinigten Staaten studiert – übrigens besitzt er die deutsche und amerikanische Staatsbürgerschaft –, dann eine Doktorarbeit in Hydrologie geschrieben und wurde danach Hydrometeorologe.« Sie warf einen weiteren Blick auf ihre Notizen. »Er hat die Interaktion zwischen großen Gewässern und dem Klima untersucht. Und er wurde weltweit führender Experte für Ökohydrologie. Damit beschäftigte er sich, als er den Unfall erlitt. Er hatte ein einzigartiges Tauchboot für seine Forschungen entwickelt und war auf der Jungfernfahrt, als alles danebenging.«

»Sein Unfall?«

»Es war wohl auch seine Offenbarung.«

»Richtig …«, sagte Fabel. »Müller-Voigt hat irgendeine Erleuchtung auf dem Meeresboden erwähnt.«

»Bis zu seinem Unfall war das Pharos-Projekt eine ozeanographische Forschungsstudie. Korn hatte Millionen hineingesteckt mit dem Ziel, die ökologische Auswirkung verschiedener menschlicher Aktivitäten auf die tiefsten Ozeanschichten zu erkunden. Dann, nach dem Unfall und nach den Schäden, die Korn erlitten hatte, änderte er den Charakter des Projekts. Als Erstes wurde es zu einer Lobbygruppe, die gegen die Ölsuche in tieferen Gewässern kämpfte. Nach der BP-Katastrophe im Golf von Mexiko gewann sie sehr stark an Glaubwürdigkeit. Dann gestattete Korn Pharos-Angehörigen, an Protesten und direkten Aktionen teilzunehmen. Und etwa neun Monate nach dem Unfall fing Korn an, von seiner Epiphanie und deren Bedeutung zu reden.«

»Und die wäre?«

»Sein ganzes Erwachsenenleben hindurch hatte Dominik Korn als Jünger der Tiefenökologie agiert, also offenbar die Auffassung vertreten, dass sich die Menschen nicht als losgelöst vom Ökosystem sehen dürfen, sondern vielmehr darauf hinarbeiten müssen, die Umwelt einfühlend zu gestalten und die Artenvielfalt zu erhalten – all solche Dinge. Aber nach seinem Unfall wies er das Konzept der Tiefenökologie völlig zurück und verbreitete seine Theorien der Loslösung. Er behauptete, durch seine Erfahrung in fünftausend Meter Tiefe sei ihm eine universelle Wahrheit offenbart worden.«

»Das ist immer so«, sagte Fabel. »Nach der Zahl der Sekten zu schließen, muss es verdammt viele universelle Wahrheiten geben.«

»Korns spezielle Offenbarung lautete, er sei verletzt worden, weil er sich als Mensch in einer nicht für Menschen bestimmten Umgebung aufgehalten habe. Die Philosophie des Pharos-Projekts besagt, die Menschheit solle sich aus der Umwelt entfernen.« Anna zuckte die Achseln. »Das ist die Loslösung, von der er redet.«

»Woher hast du all das Zeug?«

»Die Jungs vom BfV haben mir geholfen«, sagte Anna. »Ich habe dort einen Kontakt. Einen Ehemaligen von mir. Er war ganz schön vorsichtig, denn dies ist eine große Sache für den BfV. Auch die französischen Sicherheitsdienste und das amerikanische FBI scheinen dem Pharos-Projekt viel Aufmerksamkeit zu widmen. Er weiß nicht genau, was sie alle in die Gänge gebracht hat, aber jedenfalls steht das Pharos-Projekt auf etlichen heißen Listen.«

»Allerdings. Deine Schnüffelei ist nicht unbemerkt geblieben.«

»Menke?«

»Genau. Er wusste über deine Nachforschungen Bescheid. Dein Ehemaliger muss so vorsichtig gewesen sein, dass er sich unbedingt absichern wollte.«

»Und was hat Menke dir erzählt?«, fragte Anna.

»Weniger als du, aber genug, um begreifen zu können, dass Meliha Yazar in Gefahr gewesen sein dürfte, wenn es stimmt, dass sie versucht hat, Pharos auszuspionieren. Menke will mir später weitere Informationen schicken.«

»Aber?« Anna zog eine Augenbraue hoch.

»Aber ich glaube, dass unser Interesse nicht willkommen ist. Ehrlich gesagt, ich habe Menke nicht über Müller-Voigt und seine Sorgen um Meliha Yazar unterrichtet. Andererseits hat Menke bestätigt, dass das Pharos-Projekt alle Kriterien einer destruktiven Sekte erfüllt. Besonders, was die diktatorische Kontrolle über seine Mitglieder angeht. Menke hat sich nicht im Detail geäußert, aber es scheint die alte Sache zu sein: Bekehrung wird Indoktrination und dann Gehirnwäsche. Und Korn scheint seine eigenen kleinen Schnörkel hinzugefügt zu haben. Das andere, was Pharos auszeichnet, ist sein finanzieller Einfluss. Der innere Zirkel des Projekts besteht aus Vorstandsmitgliedern der verschiedenen Unternehmen von Korns Imperium. Und nach seinen Worten gehören dazu auch die Entwickler von Virtual Dimension.«

»Vielleicht sollten wir deine inoffiziellen Nachforschungen über Meliha Yazar zu einer offiziellen Ermittlung machen, wenn du glaubst, dass sie die Wasserleiche ist. Wir könnten uns ihre Familien-DNA beschaffen …«

Er schüttelte den Kopf. »So unkompliziert ist das nicht … Außerdem glaube ich, dass die Mühe vergeblich wäre.« Er schaute auf seine Uhr: 23.30 Uhr. »Es ist spät. Ich fahre nach Hause. Wir machen morgen früh weiter.«

 

Als Fabel den Lift verließ und die Kellergarage des Präsidiums durchquerte, versuchte er erneut, Susanne über ihr Handy zu erreichen. Er fluchte, denn wieder meldete sich ihre Voicebox. Er hinterließ die Nachricht, dass dies zeitweilig seine Handynummer sei, und bat sie um Rückruf.

Da er seit Mittag nichts mehr gegessen hatte, doch keine Lust verspürte, selbst zu kochen, beschloss er, unterwegs etwas zu sich zu nehmen. Während der Fahrt durch die nächtliche Stadt schweiften seine Gedanken zu all dem ab, was sich in den vergangenen achtundvierzig Stunden abgespielt hatte. Zwei Leichen im Wasser. Zwei verschiedene Vorgehensweisen. Vermutlich würde die Presse ihre Schlagzeilen am Morgen der zweiten Leiche widmen, und van Heiden würde ihn erneut anrufen, um das Offensichtliche zu unterstreichen. Doch seltsamerweise kehrten seine Gedanken immer wieder zu dem Gespräch vom Vorabend mit Müller-Voigt und zu all dem zurück, was er über das Pharos-Projekt herausgefunden hatte.

Erst als er seinen BMW anhielt, wurde ihm klar, was sich abgespielt hatte. Es war, als ob der Wagen – und er selbst – einen Autopiloten eingeschaltet hätte. Fabel fand sich im Hafen wieder. Er wusste, wie es geschehen war, und spürte eine bleierne Traurigkeit in der Brust. Er war, wie so viele Male zuvor, zum Hafen gefahren, um sich an Stellamanns’ Schnellimbiss ein Bier und etwas Heißes zu kaufen.

Dirk Stellamanns hatte den Imbissstand am Hafen seit seinem Ausscheiden aus der Polizei Hamburg betrieben. Wie Fabel war Dirk von Geburt Friese, und als erfahrener Beamter hatte er den Jüngeren in dessen ersten Dienstmonaten eingearbeitet. Er hatte Fabel unter seine Fittiche genommen, und die beiden verständigten sich seither ausnahmslos in ostfriesischem Platt. In all den Jahren – und trotz Fabels Aufstieg – waren die beiden Männer in enger Verbindung geblieben. Dann, nach seiner Pensionierung, hatte Dirk seinen makellosen Schnellimbiss – einen Wohnwagen mit Servierfenster und Überdachung, umringt von hüfthohen Tischen mit Sonnenschirmen – mitten in seinem alten Revier eingerichtet, im Schatten der hochragenden Hafenkräne.

Fabel kam regelmäßig auf ein Bier und eine Mahlzeit vorbei, besonders wenn ihn etwas beunruhigte. Mit Dirk zu sprechen und seinen Dialekt zu hören, der so breit und flach wie ihre gemeinsame Heimat war, hatte Fabel stets aufgemuntert. Stellamanns war ein Typ gewesen, der immer fröhlich und gefasst blieb, egal womit das Leben ihn bedrängte.

Er stieg aus seinem Wagen, blieb in einem Lichtkegel auf der Pflasterstraße stehen und schaute hinüber zu einer leeren, mit Sträuchern umwachsenen Fläche neben der Straße.

Im Vorsommer, an besonders heißen Tagen, hatte Dirk das beste Geschäft der Saison gemacht. Er hatte sich eine umfangreiche Kundschaft aus Truckern aufgebaut, die auf der Fahrt zu den Docks oder auf dem Rückweg bei ihm haltmachten. Als es passierte, arbeitete er gerade am Herd: ein schwerer Herzinfarkt, an dem er starb, bevor sein Körper auf dem Fußboden aufschlug.

In Fabels Unterbewusstsein war Dirk noch am Leben gewesen; sein Imbissstand hatte wie früher auf Kunden gewartet. Die Welt veränderte sich um Fabel herum. Und wie jeder andere, verlor er manchmal den Überblick über den Wandel. Menschen, die er für feste Größen gehalten hatte, waren plötzlich nicht mehr da. Es deprimierte und erzürnte ihn, dass er Dirks Tod einen Moment lang vergessen hatte. Das Gleiche geschah häufig, wenn er an sein Elternhaus in Norddeich dachte. Dann schien ihm sein seit Langem verstorbener Vater noch am Leben zu sein: in seinem Arbeitszimmer über eine alte Küstenkarte gebeugt, seine wackelige Brille auf der Nasenspitze. Jeder hatte ein ganzes Universum, mit dem er aufgewachsen war, im Kopf, und dort blieb es unverändert bestehen.

»Er ist nicht mehr hier.«

Fabel drehte sich verblüfft um. Eine junge Frau war aus dem Nichts erschienen und in den Lichtkegel getreten. Er blickte die Fahrbahn hinauf und hinunter, konnte jedoch kein anderes geparktes Auto entdecken.

»Bitte?«

»Er ist nicht mehr hier«, wiederholte die junge Frau. »Der Imbissstand.«

»Oh … Ja. Ich weiß.«

»Ich habe ihn auch gesucht«, sagte sie. Eine Sekunde lang überlegte Fabel, ob sie eine Prostituierte war. Aber sie war elegant mit einem dunkelgrauen Kostüm und Pumps bekleidet, als arbeitete sie in einer Bank oder bei einer Versicherungsgesellschaft. Sie hatte gepflegte, recht kurze blonde Haare und ebenmäßige Züge: attraktiv, doch nicht sehr einprägsam.

»Er ist schon seit einer Weile nicht mehr hier«, sagte Fabel.

»Ich war auch lange nicht in der Gegend.«

»Wo parken Sie?«, fragte er. »Ich habe Ihr Auto nicht …«

»Oh, dort drüben …« Sie machte eine vage Geste und zeigte dann die Straße entlang auf die Docks. »Sind Sie Polizist?«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Weil ›Wo parken Sie?‹ eine für einen Polizisten typische Frage ist. Und der Besitzer des Standes war ein ehemaliger Polizist. Viele seiner früheren Kollegen wurden zu seinen Kunden. Und Sie sehen nicht wie ein Trucker aus.«

»Wahrscheinlich nicht. Was führt Sie hierher?«

»Wie gesagt, ich habe den Schnellimbiss gesucht. Hatte Hunger.«

»Diese Stelle liegt ein bisschen abseits.«

»Keine Stelle liegt wirklich abseits. Kannten Sie ihn gut? Den Besitzer, meine ich?«

»Sehr gut.«

»Er war ein netter Mann«, sagte sie. »Sehr …«, sie rang nach dem richtigen Wort, »… leutselig.«

Fabel fühlte sich immer unbehaglicher. Etwas an der Frau beunruhigte ihn. Fast hatte es den Anschein, als wolle sie mit ihm flirten, doch das Fehlen von Emotionen in ihrem Gesicht ließ ihn an Reisch denken, den Mann im Rollstuhl, der einen erschreckend klaren Ausblick auf seine unmittelbare Zukunft hatte.

»Ich verstehe immer noch nicht so recht, was Sie hier tun.« Er zückte seinen Polizeiausweis und klappte ihn auf. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gern Ihren Personalausweis sehen.«

»Und wenn es mir etwas ausmacht?«

»Möchte ich ihn mir trotzdem gern ansehen.«

»Ich verstehe nicht, warum meine Anwesenheit Sie stört. Schließlich bin ich nicht jemand, der in der Vergangenheit lebt und vergessen hat, dass sein Freund tot ist.«

Fabel erstarrte. »Okay, Ihren Personalausweis!«

»Wie Sie wollen.« Die Frau lächelte, aber ihre Freundlichkeit war gekünstelt. Sie griff in ihre Schultertasche und reichte ihm ihren Ausweis. Fabel erfuhr, dass sie Julia Helling hieß und in Eppendorf wohnte. »Ich habe nur Konversation gemacht. Oder habe ich mir etwas zuschulden kommen lassen?«

»Nein, Frau Helling. Aber Sie sollten vorsichtiger sein. Dies ist nachts ein einsamer Ort, und Sie sollten nicht allein hierherkommen.«

»Aber ich bin doch nicht allein, oder? Ich habe Polizeischutz. Oder befürchten Sie etwa, dass ich mich mit dem Network-Killer verabredet habe?«

»Das ist eine sehr seltsame Bemerkung.«

»Wirklich? Schließlich machen Sie sich Sorgen um meine Sicherheit, und er ist im Moment überall in den Medien präsent.« Sie seufzte. »Egal, ich werde Sie nicht weiter stören. Gute Nacht, Herr Hauptkommissar.«

»Woher kennen Sie meinen Dienstgrad?«

Sie hob die Schultern. »Ihr Ausweis. Gute Nacht. Ich hoffe, Sie finden noch einen Imbiss.«

Fabel sah zu, wie sie in der Dunkelheit verschwand. Er stieg in seinen BMW, rief das Polizeipräsidium an und gab den Namen und die Adresse in Eppendorf durch, die im Ausweis der Frau standen. Aus der Einsatzzentrale wurde ihm mitgeteilt, dass die Angaben zutrafen und dass sie keine Vorstrafen hatte. Fabel wartete einen Moment und fuhr dann langsam in Richtung der Docks, um sich zu überzeugen, dass sie sicher zu ihrem Auto gelangt war. Nach nur drei oder vier Minuten erreichte er die geschlossenen Hafentore und damit eine Sackgasse.

Kein Zeichen von ihr. Und ihm war kein Auto entgegengekommen.