27.
Susanne war noch im Institut für Rechtsmedizin, als Fabel sie aus seinem Auto anrief, während er erneut auf das Alte Land und Stade zusteuerte. Diesmal umfuhr er die Stadt und hielt sich an ein Straßenband, das parallel zum Ufer verlief, doch am Wasserrand rechts von Fabel durch einen gewellten Deich abgeschirmt war. Zu seiner Linken teilte sich das Land in lange, schmale Felder von hellem und dunklem Grün oder gedämpftem Gold; alle waren von den Knicks eingegrenzt, die Müller-Voigt erwähnt hatte. Die Landschaft erinnerte an eine Patchworkdecke, die, abgesehen von den Deicherhebungen an ihrem Saum, makellos glatt gebügelt war.
Fabel brauchte ungefähr eine weitere Stunde, um den Pharos zu erreichen. Vorher hielt er am Straßenrand an, um das Gebäude aus der Entfernung zu bewundern. Das Licht nahm ab, und die Wolkendecke trübte die Aussicht ebenfalls ein, doch Fabel sah trotzdem, dass Müller-Voigt recht gehabt hatte: Der Pharos war in der Tat ein herrliches Bauwerk. An der Flanke des neuen Gebäudes stand ein vier oder fünf Stockwerke hoher, traditioneller Nordsee-Leuchtturm: nicht schlank, sondern massiv, kräftig und quadratisch. Die große Leuchtfeuergalerie war von sich überkreuzenden Eisenverstrebungen umgeben. Der Turm, offenbar gründlich renoviert, glänzte, als wäre er gerade gebaut worden und hätte nicht schon mehr als anderthalb Jahrhunderte unbeugsam in der Landschaft gestanden.
Doch vor allem beeindruckte Fabel das an den ursprünglichen Leuchtturm angefügte Hauptgebäude. Es bestand aus drei Abschnitten oder Bauelementen. Der Abschnitt, an dessen Seite sich der Leuchtturm anschloss, war ein langer, zweistöckiger Block. Man hatte anscheinend beabsichtigt, den Blick auf den Leuchtturm aus keiner Richtung zu verstellen. Dieser Abschnitt erstreckte sich rund fünfzig Meter weiter bis zum Ufer; dann folgte ein fünfstöckiger Block in Form eines mächtigen Parallelogramms – eines Rhomboeders, wie Fabel sich plötzlich aus seiner Schulmathematik erinnerte –, das über das Wasser hinausragte. Dieser Teil war von schweren Stahlbetonträgern eingefasst, doch die Seiten des Gebäudes bestanden aus Glas. Der dritte Abschnitt war im Grunde eine Verlängerung der oberen Etage und schob sich, gestützt von zwei im Flussbett verankerten Pfahlreihen, noch weiter über die Elbe hinaus. Vom Dach der in der Luft schwebenden Etage aus durchbohrte eine hellblaue Lasernadel, nun im Zwielicht sichtbar, die Wolken über dem Bauwerk. Das Licht des Pharos.
Dies, dachte Fabel, ist mehr als ein Gebäude. Es ist ein Ausdruck der Macht und des Reichtums. Für eine angebliche Umweltschutzgruppe untypisch, wirkte es wie eine aggressive Bekräftigung der menschlichen Herrschaft über die Natur. Außerdem hatte es etwas Bedrohliches an sich.
Er fuhr weiter auf der schmalen Küstenstraße entlang, bis er den zum Pharos führenden Pfad erreichte. Aus der Nähe wirkte der Anblick sogar noch überwältigender. Das niedrigere Bauelement bestand aus Naturstoffen – hellem Holz, Glas und großen Steinblöcken. Nachdem Fabel von der Straße abgebogen war, fand er sich kurz darauf vor einem geschlossenen Tor wieder. Auf der anderen Seite des Zaunes stand ein kleines Blockhaus, und Fabel musste energisch auf die Hupe drücken, bevor jemand herauskam. Es überraschte ihn nicht, dass der junge Mann mit den kurzen blonden Haaren, der sich ihm vom Blockhaus her näherte, einen grauen Anzug, ein weißes Hemd und eine dunkelgraue Krawatte trug. Er blieb vor dem schweren Maschendrahtzaun stehen, betrachtete Fabel teilnahmslos und machte keine Anstalten, das Tor zu öffnen.
Fabel stieg aus. Der Zaun an beiden Seiten des Tores war etwa drei Meter hoch und kräftig genug, um alle außer den entschlossensten Eindringlingen fernzuhalten.
»Ich möchte mit Herrn Wiegand sprechen.« Fabel hielt seinen Polizeiausweis hoch. Der Mann am Tor blieb stumm und emotionslos. »Jetzt sofort«, betonte Fabel.
»Niemand wird ohne Termin eingelassen.« Die Stimme des Pförtners war so eintönig und finster, wie Fabel es erwartet hatte. »Wir geben niemandem Zutritt zum Pharos, wenn es nicht vorher vereinbart wurde.«
»Ich brauche keinen Termin. Ich bin Polizist.« Fabel bemerkte, dass der Mann eine Bluetooth-Muschel im Ohr hatte.
»Dann brauchen Sie einen Durchsuchungsbefehl.«
»Sie verstehen mich nicht«, sagte Fabel müde. »Ich habe eine persönliche Einladung von Herrn Wiegand, Ihrem Vizepräsidenten.«
Der Pförtner wandte den Blick nicht von Fabel ab. Wenn ihm etwas durch den Kopf ging, blieb es unter der Oberfläche verborgen.
Nach einer scheinbaren Ewigkeit brach der junge Mann sein Schweigen. »Warten Sie.«
Er entfernte sich ein paar Meter und drehte Fabel den Rücken zu, um vermutlich mit dem Hauptgebäude Verbindung aufzunehmen. Nach einer Weile kehrte er um und öffnete das Tor.
»Lassen Sie Ihren Wagen hier«, ordnete er an. »Wir gestatten im Innern keinen Fahrzeugverkehr.«
Fabel verriegelte sein Auto mit der Fernbedienung und betrat das Gelände. Der Pförtner führte ihn zum Haupteingang des Pharos, wo ein weiterer ernst blickender Mann, offenbar vom Sicherheitsdienst und ebenfalls mit einer Hörmuschel ausgestattet, wartete. Fabel betrachtete das Gebäude aus nächster Nähe. Es schien drohend in die Höhe zu ragen. Nicht zufällig benutzte das Pharos-Projekt die Symbolik und das Vokabular der internationalen Finanzwelt: Dieses Gebäude diente dem Zweck, alles Menschliche in den Schatten zu stellen. Wie die Zentrale jedes multinationalen Konzerns sollte der Pharos das Unternehmensganze verkörpern und verherrlichen und das Individuelle in den Hintergrund rücken. Es war die gleiche Methode, die schon die Architekten gotischer Kathedralen benutzt hatten: Die Größe sollte Gott versinnbildlichen, doch in Wirklichkeit stand sie für die Macht der Kirche, des großen multinationalen Konzerns des Mittelalters.
Man führte Fabel in ein geräumiges Atrium mit gedämpfter Beleuchtung. Der Grund, vermutete Fabel, war das Kernstück des Atriums: Ein Strahlenkreis, dessen Farbtöne sich dauernd änderten, richtete sich nach oben auf eine gigantische, in der Luft hängende Qualle, durchsichtig und schön, mit tiefrotem Kern und transparenten Fangarmen. Es war eine vortreffliche holografische Projektion, die der Qualle drei Dimensionen verlieh und sie pulsieren und die Farbe wechseln ließ. Fabel war überrascht über seine eigene Reaktion. Für einen Sekundenbruchteil hatte die Qualle übermächtig real gewirkt, obwohl er instinktiv gewusst hatte, dass es sich um einen Kunstgriff handelte.
Im Innern war das Gebäude genauso bemerkenswert. Während man ihn durch Säle und Korridore führte und mit einem Lift ins oberste Stockwerk brachte, verlor Fabel nie die ihn umgebende Landschaft aus den Augen. Überall, sogar im Aufzug, konnte er durch Glas hinausblicken.
Ihm fiel auf, dass alle Angestellten die gleiche graue Kleidung trugen, wobei sich eine Minderheit, darunter auch sein Begleiter, durch eine etwas dunklere Tönung abhob. Sie gingen an einer Vielzahl von Räumen mit gläsernen Wänden vorbei, die Fabel wie normale Büros erschienen. Und obwohl sein Begleiter das Tempo bewusst erhöht hatte, nahm der Hauptkommissar so viel wie möglich zur Kenntnis. In sämtlichen Räumen standen Dutzende von Schreibtischen mit Computern, deren Design er noch nie gesehen hatte: Die Bildschirme waren unglaublich flach, und die Tastaturen waren nicht zu erkennen. Als sie dann an einem kleineren Büro mit einem Arbeitsplatz vorbeigingen, der dichter an der Glaswand stand, begriff Fabel, warum. Die Finger der dort sitzenden, grau kostümierten Frau glitten über ein virtuelles Keyboard – in Form von Licht, das auf die Tischplatte projiziert war – hinweg.
Fabel erinnerte sich, gelesen zu haben, wie giftig die Schwermetalle von elektronischer Hardware für die Umgebung waren. Doch für eine Umweltschutzgruppe besaß das Pharos-Projekt eine auffällig große Zahl an technischen Geräten. Außerdem überraschte es ihn, wie sehr der Pharos einem Büroturm glich und wie wenig die Männer und Frauen, die sich darin bewegten, an Sektenmitglieder oder Mystikjünger erinnerten; vielmehr ähnelten sie den Mitarbeitern einer internationalen Bank.
Peter Wiegand erwartete ihn in seinem Büro. Allerdings hatte Fabel Mühe, das Wort »Büro« mit einer derart riesigen Fläche in Verbindung zu bringen. Wiegand arbeitete in dem letzten Raum in dem auf das Wasser hinausragenden Obergeschoss. Sein Büro erstreckte sich über die ganze Breite des Gebäudes, war jedoch länger als breit. Alle drei Außenwände bestanden aus Glas und boten eine Aussicht in alle Richtungen. Hier verbreiterte sich die Elbe, bevor sie ins Meer einmündete, und Wasser war das dominierende Element der Szenerie. Sogar der Fußboden enthielt ein großes Glasrechteck, durch das man das sich unten kräuselnde dunkle Wasser sehen konnte. Fabel achtete darauf, um die Glasplatte herumzugehen.
»Bitte, Herr Fabel«, sagte Wiegand und trat hinter einem Schreibtisch hervor, der den van Heidens winzig wirken ließ. »Nur keine Angst. Das faserverstärkte Glas ist stabiler als Beton. Sie können unbesorgt darauftreten.« Er schüttelte Fabel die Hand, führte ihn zu einem Sessel und bat ihn, Platz zu nehmen.
»Das ist ein sehr interessantes …«, rang Fabel nach Passenden Worten, »… Stück, das Sie in Ihrer Rezeption haben. Das Hologramm, meine ich. Wunderschön, aber eine seltsame Motivwahl. Liegt es an Dominik Korns Unterseegeschichte, dass Sie eine Qualle gewählt haben?«
»Ich habe das Motiv nicht gewählt. Die Idee stammt von Dominik Korn. Es symbolisiert fast alles, was das Pharos-Projekt ausmacht.«
»Wirklich?«
»Das Medium ist die Botschaft, Herr Fabel. Dominik entschied sich für ein Hologramm als Medium, um den holografischen Charakter des Universums widerzuspiegeln, das aus Datenbits besteht. Dominiks großartige Philosophie besagt, dass fast alles in Daten verwandelt und übertragen – gespeichert – werden kann.«
»Mir war nicht klar, dass das Universum holografisch ist.« Fabel gelang es nicht, den Spott aus seiner Stimme zu verbannen.
»Dann sind Sie nicht mit den neuesten Erkenntnissen der Quantenphysik vertraut. Ich gebe hier keine New-Age-Mystik von mir, falls Sie das glauben. Ich rede von der Stringtheorie.«
»Und das ist Ihr einzigartiges Verkaufsargument, nicht wahr? Digitale Unsterblichkeit?«
Wiegand lächelte unverändert weiter. »Darf ich Sie etwas fragen: Glauben Sie an die Unsterblichkeit?«
»Nein. Alles stirbt. Es ist ein einfaches Gesetz der Natur, des Universums. Ich weiß, Sie glauben, dass wir alle ewig in einem Zentralcomputer leben können, aber das ist kein Leben. Nicht einmal eine Existenz, denn es wäre nicht real. Man würde es nicht selbst erfahren. Unsterblichkeit ist unmöglich. Alles stirbt.«
»Wieder ist es Ihnen nur gelungen, Ihre Unwissenheit zu offenbaren, Herr Fabel. Unsterblichkeit existiert tatsächlich. Hier und jetzt in Ihrer realen Welt. Das holografische Bild im Atrium stellt die Turritopsis nutricula dar. Es ist schön, doch die Projektion ist mehrere Tausend Mal größer als das wirkliche Geschöpf, das nur eine Länge von vier oder fünf Millimetern hat. Aber wissen Sie, warum Mister Korn Turritopsis nutricula als Symbol gewählt hat?«
»Sie werden es mir sicher gleich sagen.«
»Sie ist wirklich und wahrhaftig unsterblich. Das einzige Lebewesen auf dem Planeten, das unsterblich ist.«
»Wie ist das möglich?« Fabel war gegen seinen Willen neugierig geworden.
»Sämtliche Quallen werden geboren, reifen heran und paaren sich. Normalerweise sterben sie unmittelbar nach der Paarung. Die unsterbliche Qualle, wie man Turritopsis nutricula auch nennt, stirbt jedoch nicht. Sie durchlebt einen Prozess der Transdifferenzierung, durch den die Zellen in ihren jugendlichen Zustand zurückverwandelt werden. Sie umgeht das Altern und überlistet den Tod, indem sie wieder zum Polypen wird. Dann reift sie heran, paart sich, durchlebt die Transdifferenzierung und wird erneut zum Polypen. Das kann sie ewig fortsetzen. Also existiert Unsterblichkeit tatsächlich, Herr Fabel. Das Hologramm im Atrium steht für die Kombination von Digitalisierung und Unsterblichkeit. Daneben enthält es eine Umweltbotschaft: Turritopsis nutricula war früher einmal nur in der Karibik zu finden, aber sie ist in den Ballasttanks von Schiffen in alle Gegenden der Welt transportiert worden. Unsere Aktivitäten haben eine Bevölkerungsexplosion dieses Lebewesens ausgelöst. Eines Lebewesens, das sich fortpflanzt und vervielfältigt, aber nie stirbt.«
»Also, Herr Wiegand, ich weiß, dass Sie der zweitmächtigste Mann in dieser Organisation sind, und ich bin sicher, dass die meisten Ihrer Mitglieder diesen Unsinn vom ewigen Cyberleben glauben, hauptsächlich weil sie einer Gehirnwäsche unterzogen werden. Aber Sie? Ich bezweifle sehr, dass Sie auch nur ein Wort davon glauben. All das dient lediglich dazu, Menschen unter Kontrolle zu halten und Gewinne zu erzielen. Mich interessiert vor allem, was Sie sonst noch machen. Sie verbergen etwas.«
Wiegand lächelte sein Milliardärslächeln – leutselig, doch ein wenig herablassend. »Sie haben gesehen, dass wir überall im Gebäude ausgiebig Glas einsetzen, und dafür gibt es zwei Gründe: Erstens verringert dies unsere Abhängigkeit von künstlichem Licht und künstlicher Wärme. Für sämtliche Fenster benutzen wir energiespeicherndes Glas, und das Dach ist ein riesiger Solarkollektor. Zweitens wird unseren Mitgliedern und Besuchern wie Ihnen vermittelt, dass das Pharos-Projekt im Wortsinne durchsichtig ist. Wir haben nichts zu verbergen, Herr Fabel. Nichts.«
»Das mag die Ansicht derjenigen sein, die von hier hinausblicken«, sagte Fabel. »Aber ich bin mir nicht sicher, dass große Fenster diejenigen außerhalb des Gebäudes überzeugen, die Sie für geheimnistuerisch und manipulativ halten; die der Meinung sind, dass Sie Ihre Mitglieder ausbeuten und alle einschüchtern, die es wagen, Sie zu kritisieren.«
»Ich freue mich, dass Sie meine Einladung angenommen haben, Herr Hauptkommissar«, überging Wiegand Fabels Worte. »Vielleicht wird die Erfahrung aufschlussreich für Sie sein, und Sie werden feststellen, dass das Pharos-Projekt nichts Heimtückisches oder Sektenhaftes an sich hat. Trotzdem wäre es mir lieber gewesen, wenn Sie vorher angerufen hätten, worum ich Sie gebeten hatte. Ich bin ein vielbeschäftigter Mann, und infolge meiner Pflichten als Vizepräsident des Korn-Pharos-Konzerns, meiner Besuche beim Americas Pharos in Maine und meiner Mitwirkung an verschiedenen Umweltprogrammen überall auf der Welt halte ich mich selten hier auf.«
»Aber Sie haben in den letzten Monaten den größten Teil Ihrer Zeit in diesem Land verbracht, Herr Wiegand. Also müssen Sie hier im Moment ein besonderes Anliegen haben.«
»Ein besonderes Anliegen? Nein, das würde ich nicht sagen. Oh … Sie meinen den GlobalConcern-Hamburg-Gipfel? Der beansprucht mich natürlich sehr.«
»Nein, den meinte ich nicht. Ich frage mich, ob es vielleicht etwas mit Meliha Yazar zu tun hat.«
»Mit wem? Ach ja, Sie hatten sie erwähnt. Eine Frau, mit der der arme Berthold befreundet gewesen sein soll. Nein, leider kenne ich keine Meliha Yazar.«
»Erlauben Sie mir, Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Sie war die Frau, die Ihre Sicherheitsmaßnahmen durchbrochen und eine erstaunliche Entdeckung über das Pharos-Projekt gemacht hat. So erstaunlich, dass eine Veröffentlichung der Information extrem schädlich für Sie wäre. Vielleicht sogar auf persönlicher Ebene.«
Wiegand lehnte sich in seinem Sessel zurück und sah Fabel lächelnd an. Es war nicht mehr sein bisheriges freundliches Verkäuferlächeln. Es war viel dunkler. Boshaft. »Ich muss zugeben, Herr Fabel, dass Sie einen guten Ort für einen Angelausflug gewählt haben.« Er deutete vage auf den Fluss jenseits der Fenster.
»Sie bestreiten doch nicht, dass Sie geradezu paranoid sind, was Ihre Sicherheit betrifft? Ich würde behaupten, dass die meisten Pförtner der Hamburger Gefängnisse entspannter sind als der Knabe, der Ihren Empfangsservice erledigt. Dadurch wird die Vermutung geweckt, dass Sie der Außenwelt etwas verheimlichen wollen. Jede Person, die Sie für das Projekt anwerben, wird nicht nur einer Gehirnwäsche unterzogen, sondern auch im Voraus überprüft. Aber irgendwie hat Meliha Yazar Ihre Sicherheitsmaßnahmen umgangen. Sie hat den Kern Ihres großen Geheimnisses entdeckt, stimmt’s?«
»Ich habe bereits gesagt, dass ich nicht weiß, von wem Sie reden. Und es gibt hier kein ›großes Geheimnis‹. Natürlich müssen wir auf unsere Sicherheit achten, denn viele Einzelpersonen und Organisationen haben uns gegenüber starke Vorurteile. Leider ist der BfV eine dieser Organisationen. Hören Sie, Sie können uns vorwerfen, Sonderlinge und Freaks und eine böswillige Sekte zu sein, aber die Tatsache bleibt bestehen, dass die Welt auf eine Katastrophe zusteuert. Das Pharos-Projekt ist allen möglichen Gerüchten, Verdächtigungen und Ermittlungen ausgesetzt, während niemand die Firmen, die weiterhin nach neuen Ölvorkommen bohren, um andere zu verpesten und zu vergiften, während sie sich selbst bereichern, einer vergleichbaren Kontrolle unterzieht. Ich glaube kaum, dass das BfV genauso viel Zeit und Mühe aufbringt, um gegen multinationale Konzerne zu ermitteln, die dafür verantwortlich sind, dass Hektar um Hektar Regenwald für Weideflächen brandgerodet wird, damit sich dicke Teenager in Minnesota oder sonstwo mit billigen Burgern vollstopfen können.«
»Arbeiten Sie deshalb mit den Beschützern Gaias zusammen?«, fragte Fabel. »Oder arbeiten die Beschützer Gaias vielleicht für das Pharos-Projekt? Mir scheint, dass Sie sich fast wie ein Staat organisiert haben. Und alle Staaten haben einen militärischen Flügel. Eine Armee. Ist das die Aufgabe der Beschützer?«
Ein weiteres Lächeln, noch kälter als das letzte. »Herr Fabel, ich brauche Sie nicht auf das hinzuweisen, was heutzutage auf der Welt geschieht. Die leidenschaftlich vertretenen politischen Überzeugungen der Vergangenheit sind nicht mehr relevant. Unser Leben wird nicht mehr von politischen, sondern von wirtschaftlichen Kräften gesteuert. Nationalstaaten haben nicht mehr den gleichen Einfluss wie früher. Es sind die multinationalen Unternehmen, die Wirtschaftsstaaten, die das Leben jedes Mannes, jeder Frau und jedes Kindes auf dem Planeten bestimmen. Das Pharos-Projekt wurde von Dominik Korn geschaffen, der in erster Linie ein weitblickender, genialer Geschäftsmann ist. Wir haben die gleiche Gestalt angenommen wie unsere Feinde, die globalen Konzerne. Unsere Kämpfe vollziehen sich in Sitzungsräumen und Komitees, nicht auf irgendwelchen anderen Schlachtfeldern. Dominik Korn ist außerdem Pazifist, genau wie ich und jeder andere Mitarbeiter des Projekts. Wenn die Beschützer Gaias Gewalttaten begehen sollten, verurteilen wir solche Akte, wie viel Verständnis wir auch für die Provokation haben würden. Bei uns ist kein Platz für Gewalt. Uns geht es darum, Gewalt zu verhindern – die Gewalt, die unserem Ökosystem angetan wird.«
»Wenn all das zutrifft, werden Sie nichts dagegen haben, mir einen kleinen Gefallen zu tun. Könnten Sie den Herrn, der mich hierher begleitet hat, für einen Moment zurückholen?«
Wiegand seufzte, als lasse er sich auf die Wünsche eines Kindes ein. »Wie Sie wollen …« Er drückte auf einen Knopf und sagte ein paar Worte auf Englisch. Der junge Mann, der Fabel vom Haupteingang zu Wiegands Büro gebracht hatte, trat ein.
»Ich nehme an, Sie haben einen Lagerraum, der mit solchen Anzügen gefüllt ist?«, fragte Fabel. »Denn offensichtlich statten Sie Ihre Mitglieder damit aus …«
»Das stimmt. Wir kümmern uns um alle materiellen Bedürfnisse unserer Mitglieder.«
»Also könnten Sie die Jacke dieses Herrn ersetzen, wenn ich ihn darum bitte, sie mir zu geben?«
»Was wollen Sie denn bloß mit seiner Jacke? Ich kann Ihnen eine unbenutzte aus unseren Vorräten überlassen.«
»Tun Sie mir den Gefallen, Herr Wiegand. Ich möchte sicher sein, dass die Jacke, die ich mitnehme, zu der Sorte gehört, die dieser Herr tatsächlich trägt.« Er wandte sich dem Mann an der Tür zu. »Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie für das Konsolidierungs- und Vollstreckungsbüro arbeiten?«
Der Konsolidierer antwortete nicht, sondern blickte Wiegand ratsuchend an.
»Bitte, geben Sie dem Hauptkommissar Ihre Jacke. Wozu benötigen Sie das gute Stück, Herr Fabel?«
»Ich möchte den Stoff mit einer Faser vergleichen, die wir am Ort von Müller-Voigts Ermordung gefunden haben.«
»Ach so.« Er hob eine Hand, um den Konsolidierer zu stoppen, der gerade seine Jacke ausgezogen hatte und sie Fabel reichen wollte. »Wenn es hier um irgendeine Anschuldigung geht, sollten Sie sich erst einmal einen Durchsuchungsbefehl besorgen.«
»Brauche ich einen Durchsuchungsbefehl? Heißt das, Sie wollen nicht mit uns kooperieren?«
Wiegand schwieg ein paar Sekunden und nickte schließlich dem Konsolidierer zu, der Fabel die Jacke übergab.
»Aus alledem schließe ich, dass Sie jemanden vom Pharos-Projekt verdächtigen, an der Ermordung von Berthold Müller-Voigt beteiligt gewesen zu sein«, sagte Wiegand, als der Konsolidierer den Raum verlassen hatte. »Das ist zweifellos eine lächerliche Vermutung, aber Sie hätten mich früher darüber ins Bild setzen sollen. Ich kann Ihnen versichern, dass wir vom Projekt bei jeder Ermittlung von ganzem Herzen mit der Polizei zusammenarbeiten werden. Allerdings ist es unmöglich, dass eines unserer Mitglieder in eine solche Angelegenheit verwickelt ist. Wir haben Berater und Mentoren in unserer Gemeinschaft, die sofort merken würden, wenn jemand einen Hang zur Gewalt oder zu gesellschaftsfeindlichen Tendenzen aufweisen würde.«
»Also stimmt es, dass die Projektmitglieder als Egregor handeln, im Sinne eines Gruppenbewusstseins.«
»Soll das heißen, dass der Verdacht besteht, das Pharos-Projekt habe kollektiv geplant, Berthold Müller-Voigt etwas anzutun? Und warum?« Wiegand blieb gefasst. Wenn Fabel ihn beunruhigte, würde er es sich nicht anmerken lassen.
»Vielleicht weil vermutet wurde, dass Meliha Yazar ihre Informationen über das Projekt an ihn weitergegeben hat. Vielleicht ist es etwas so Wichtiges, dass sich jeder, der davon erfährt, in Gefahr befindet.«
»Das ist reine Fantasterei und leider typisch für die Erfindungen der deutschen Behörden über uns. Aber ich verspreche Ihnen, Herr Fabel, wenn Sie solche Vorwürfe außerhalb dieses Büros erheben, sollten Sie bereit sein, vor Gericht dazu Stellung zu beziehen.«
»Genau das ist meine Absicht, Herr Wiegand.«
Der Milliardär stand auf, um anzudeuten, dass das Gespräch für ihn beendet war. Fabel blieb sitzen.
»Es gibt noch ein anderes Thema, über das ich mit Ihnen sprechen möchte.« Fabel faltete die Jacke sorgfältig auf seinem Schoß zusammen und ließ die Finger über den Stoff gleiten. Das Gewebe entsprach Astrid Bremers Beschreibung: Es gab nicht nach und fühlte sich wie Nylon an. »Wie Sie bestimmt wissen, untersuchen wir im Moment die Ermordung von vier jungen Frauen durch jemanden, den sie im Internet kennengelernt hatten.«
»Der Network-Killer-Fall. Ja, davon weiß ich.«
»Schön. Vor ein paar Nächten kam eine Frau auf mich zu, die in einem ähnlichen Stil wie diesem hier gekleidet war.« Er deutete auf die Jacke. »Sie gab mir eine falsche Identität an. Und zwar die des nächsten Opfers des Network-Killers, bevor wir es gefunden hatten. Besonders interessant daran ist, dass die Leiche einige Zeit kühl gelagert worden zu sein scheint.«
»Und …?«
»Nichts – abgesehen davon, dass man die Leiche anscheinend lange genug auf Eis gehalten hat, um mir vor ihrem Fund den Namen des Opfers mitzuteilen und um den Todeszeitpunkt zu verfälschen. Es hat den Anschein, als sollten wir unbedingt glauben, dass die Frau später starb, als es tatsächlich der Fall war.«
»Und was hat das mit mir zu tun?«, fragte Wiegand matt.
»Ich habe gründlich darüber nachgedacht und glaube nun, den Zweck des Ganzen zu verstehen. Dadurch ahne ich, was Meliha Yazar herausgefunden hat.«
»Nämlich?«
»Ein andermal.« Fabel stand auf. »Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, Herr Wiegand. Ich freue mich auf unser nächstes Gespräch.« Er schaute sich in dem Büro mit den Glaswänden und dem gedämpften Ausblick auf das Wasser um. »Beim nächsten Mal sollten wir uns vielleicht in meinem Büro treffen.«
Es war bereits völlig dunkel, als Fabel auf der schmalen Straße in Richtung Stade zurückfuhr. Er sah keine Autos vor sich, und auch im Rückspiegel waren keine Scheinwerfer zu erkennen. Aber Wiegand wusste ganz genau, welche Route er einschlagen würde. Deshalb war es unnötig, ihm jemanden auf die Spur zu setzen, bevor er das Hauptverkehrsnetz erreicht hatte.
Jan Fabel war ein Mann, der in jeder Situation gern das Richtige tat und sich an die Regeln hielt. Es machte ihm schwer zu schaffen, dass er sich gerade etwas geleistet hatte, das er keinem seiner Untergebenen gestattet hätte: sich bewusst einer Gefahr auszusetzen. Ihm war klar, dass er keine stichhaltigen Beweise gegen eine so komplexe, einfallsreiche und geschickte Organisation wie das Pharos-Projekt finden würde. Er musste die Beteiligten aus der Reserve locken. Vor allem Wiegand. Dieser hatte gesagt, Fabel mache einen Angelausflug, und das traf auch zu. Allerdings war Fabel selbst der Köder. Er hatte angedeutet, die Informationen zu besitzen, derentwegen Meliha Yazar entführt und höchstwahrscheinlich ermordet worden war. Müller-Voigt hatte man den Schädel eingeschlagen, weil er vielleicht die gleichen Informationen besaß. Und nun würde man vermuten, dass auch Fabel sie hatte. Da er unendlich größeren Schaden anrichten konnte als Yazar oder Müller-Voigt, würde man ihn unzweifelhaft aufs Korn nehmen.
Tatsächlich glaubte er allmählich selbst zu wissen, was Meliha herausgefunden hatte. Ob er es je beweisen konnte, war eine andere Sache.
Gerade als er sich Stade näherte, klingelte sein Handy.
»Hauptkommissar Fabel?« Es war eine Männerstimme. Tief, zu tief und ein wenig roboterhaft; unterbrochen von rasselnden Atemzügen. Offenbar wurde die Stimme elektronisch verändert.
»Wer sind Sie?«
»Nennen Sie mich Klabautermann. Das scheint angemessen zu sein.«
»Sie machen Witze, oder?« Fabel lachte. »Ich soll Sie Klabautermann nennen? Wahrscheinlich lesen Sie zu viele Comics. Oder wie heißen die heutzutage? Ach ja, Graphic Novels. Aber Sie wissen, dass Sie mit einem Polizeibeamten sprechen. Hören Sie also auf, meine Zeit zu verschwenden …«
»Einen Moment …« Die Drohung in der elektronisch veränderten Stimme löste sich auf, da der Mann die Fassung verloren zu haben schien. »Sie müssen mich anhören …«
»Lassen Sie den Darth-Vader-Blödsinn sein, dann können wir miteinander reden.«
Eine Pause, bevor etwas klickte.
»Wer sind Sie?«, wiederholte Fabel.
»Das kann ich Ihnen nicht sagen.« Die Stimme klang nun natürlich. Männlich, doch schrill. Immer noch von schnaufenden Atemzügen unterbrochen. Jemand, der Übergewicht hat, dachte Fabel.
»Dann kann ich nicht mit Ihnen sprechen.«
»Sie werden mich umbringen.« Sein Tonfall verriet Fabel, dass der andere es ernst meinte.
»Wer denn?«
»Dieselben Leute, die Meliha Yazar ermordet haben. Ich weiß Bescheid über Meliha Yazar und Müller-Voigt und Daniel Föttinger.«
Fabel hielt am Straßenrand an, schaltete die Warnblinkanlage an und riss das Handy aus der Halteschale.
»Was wissen Sie?«
»Das kann ich Ihnen noch nicht sagen. Wahrscheinlich hören sie im Moment zu. Dadurch, dass ich den Stimmverzerrer abschalten musste, werden sie mich leichter finden, aber sie hätten ihn sowieso irgendwann entschlüsselt. Sie können alles, wenn es um Technologie geht. Denken Sie daran, Herr Fabel. Benutzen Sie keine Technologie.
»Wo ist Meliha Yazar?«, fragte Fabel mit entschlossener Stimme. »Was ist ihr zugestoßen?«
»Das wissen Sie doch schon. Sie sollten sich lieber Sorgen darum machen, warum es ihr zugestoßen ist. Ich habe etwas, das diese Leute suchen. Etwas, das Meliha für mich zurückgelassen hat, und ich werde sterben, weil ich es mitgenommen habe. Nun werden sie mich finden, Herr Fabel. Sie werden mich finden und mich töten. Diese Leute werden auch Sie töten und jeden anderen, der ihrer Meinung nach Bescheid weiß.«
»Bescheid weiß? Worüber? Hören Sie, wenn Sie wirklich glauben, dass Ihr Leben in Gefahr ist, dann sagen Sie mir, wo Sie sind. Wir werden Sie schützen.«
Ein Schnauben am anderen Ende der Leitung. »Machen Sie keine Versprechen, die Sie nicht halten können.« Er zögerte. »Ich melde mich später. Ich muss eine Methode finden, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen, ohne von ihnen abgehört zu werden. Verstehen Sie?«
Fabel runzelte die Stirn und erwiderte nach ein paar Sekunden: »Ja, ich verstehe.«
Die Verbindung brach ab.