34.

 

Fabel schaute um sieben Uhr zum Morgenhimmel hinauf. Es war, als hätten sie auf ein überfälliges Päckchen gewartet, doch nun gab es endlich ein Anzeichen dafür, dass der Frühling begonnen hatte. Es war ein heller, warmer Morgen, und am Himmel stand keine einzige Wolke.

»Herrlich, nicht wahr?«, sagte Anna.

»Es wird langsam Zeit.« Fabel zog die Riemen seiner Kevlar-Panzerweste an den Seiten zu. »Sind wir so weit?«

Die Teammitglieder nickten, jedenfalls Anna, Werner, Henk, Dirk und Thomas. Nicola Brüggemann hingegen mühte sich noch mit der Weste ab.

»Bin ich die einzige Person bei der Polizei Hamburg mit Titten?« Sie rief das letzte Wort in Richtung des MEK-Leiters, der ihr die Panzerweste gereicht hatte. Dann, wieder an Fabel gewandt: »Dieser Mist ist offensichtlich von Männern entworfen worden.« Nach einigen weiteren Anstrengungen und mehreren Flüchen gelang es ihr schließlich, ihre Weste ebenfalls festzuzurren.

Außer Fabels Team waren acht MEK-Männer, Fabian Menke und zwei andere BfV-Vertreter anwesend. Ein großer Häftlingstransporter mit drei Schutzpolizisten parkte hinter den Autos. Sie waren hinter der Ecke des besetzten Hauses abgestellt, aber Fabel wusste, dass er nicht zögern durfte. Sogar zu dieser frühen Stunde würde sich die Nachricht vom Erscheinen der Polizei im Schanzenviertel schnell verbreiten.

»Irgendeine Bewegung?«, fragte Fabel den MEK-Leiter. Seit Niels Freese am Nachmittag zuvor von der Köhlbrandbrücke gesprungen war, stand ein einzelner ziviler Überwachungswagen vor dem besetzten Haus. Fabel war es gelungen, die Presse – trotz der starken Polizeipräsenz auf der Brücke und ihrer Schließung für den Verkehr – fernzuhalten. Es gab eine inoffizielle Absprache darüber, Selbstmorde auf der Köhlbrandbrücke herunterzuspielen, damit sie nicht noch beliebter für solche Aktionen wurde.

»Kaum. Eine Frau ist vor einer halben Stunde eingetroffen und hat die Tür geöffnet. Seltsamerweise war sie elegant gekleidet – nicht der Typ, den man mit einem Haufen wie diesem in Verbindung bringen würde.«

»Ist sie wieder herausgekommen?«, wollte Fabel wissen.

»Nein, sie ist noch da.«

»Weiß jeder von uns, was er zu tun hat?«, fragte Fabel. Wiederum nickten alle.

»Wir dürften keine großen Schwierigkeiten haben«, meinte Menke. »Bis jetzt sind von den Beschützern nur große Worte zu hören. Wir haben keinen Grund zu der Annahme, dass sie Waffen besitzen, aber da sie in letzter Zeit aggressiver werden, müssen wir trotzdem vorsichtig sein.«

Fabel nickte und wandte sich an das gesamte Team. »Also gut, wenn wir reingehen, verhaften wir alle, auf die wir stoßen. Auf den Boden, Handschellen an, durchsuchen und dann ab in den Transporter. Ihr alle habt die Fotos von Jens Markull gesehen. Er ist unser Hauptziel, denn er bildet das Bindeglied zwischen Niels Freese und dem Auftraggeber des Mordes an Daniel Föttinger. Nicola, ich möchte, dass du mit Thomas und Dirk und zwei MEK-Männern ums Haus herumgehst. Die Übrigen benutzen die Haustür. Anna, du bleibst bei den Wachposten.«

»Ist das ein Witz?«

»Ich mache keine Witze, Kommissarin Wolff. Du hast deine Aufgabe.«

»Nein, ich werde nicht wieder getroffen werden. Und hier schon gar nicht. Das Schlimmste, was diese Trottel tun können, ist, dass sie uns mit Linsen bewerfen.«

»Anna, tu mir den Gefallen.«

»Okay.« Sie verzog resigniert das Gesicht.

»Denkt daran, ich möchte, dass alle so schnell wie möglich draußen sind.« Fabel wiederholte das, was er bei der Einsatzbesprechung gesagt hatte. »Ich bin weniger an den Leuten interessiert als an Beweisstücken. Da Freese von der Brücke gesprungen ist, brauchen wir Belege, um eine Verbindung zwischen den Beschützern und dem Pharos-Projekt und Föttingers Ermordung herstellen zu können. Gebt niemandem eine Chance, Daten zu löschen oder Papiere zu vernichten. Und denkt daran, dass Jens Markull Vorrang hat.«

Laut Menke hielt normalerweise jemand im Haus Wache, weshalb Fabel beschlossen hatte, dass sie sich nicht zu Fuß nähern sollten. Stattdessen rasten die Autos auf sein Funksignal hin um die Ecke und hielten direkt vor dem Gebäude. Der Gefangenentransporter folgte Sekunden später, wonach die Beamten genug Zeit hatten, um aus den Autos zu springen und, angeführt von den MEK-Männern, zur Tür zu laufen. Zwei trugen eine Ramme, und die schwere Holztür gab überraschend leicht nach.

Fabel folgte den schwarz uniformierten MEK-Beamten mit dem Ruf »Polizei Hamburg« ins Haus. Er hörte ein Splittern von der Rückseite des Gebäudes und wusste, dass auch das andere Team eingedrungen war. Im Erdgeschoss befanden sich vier schmuddelige Zimmer. Niemand hatte Wache gestanden. Drei Männer und eine Frau, die auf verstreuten Matratzen geschlafen hatten, wurden grob geweckt, auf die Füße gezerrt und mit Handschellen gefesselt. Sie waren ungewaschen, unterernährt und durch die plötzliche Gewalt der Razzia überwältigt. Fabel musterte rasch ihre Gesichter: sämtlich zu jung für Jens Markull. »Wo ist Markull?«, schrie er ein Mädchen an, doch sie reagierte nur, indem sie ihn anspuckte.

Von oben erklang ein Geräusch.

»Henk, komm mit. Sie auch«, rief er einem der MEK-Männer zu. Sie rannten die Treppe hinauf und nahmen jeweils drei Stufen auf einmal. Vier weitere Zimmer. Fabel nickte Henk zu, der die Tür, die dem Absatz am nächsten war, zusammen mit dem MEK-Kämpfer eintrat. Nichts. Noch ein Geräusch.

»Hier!«, rief Fabel und öffnete die zweite Tür mit einem Tritt.

Er brauchte weniger als eine Sekunde, um das Zimmer zu überschauen, doch in jenem winzigen Zeitraum konnte sein Gehirn den Anblick nicht sofort verarbeiten. Dieser Raum schien nicht zum übrigen Haus zu gehören. Er war makellos sauber und enthielt Reihen von Computern, die ein leises Summen von sich gaben. Man hatte die Fenster völlig zugenagelt, doch das Zimmer war dennoch hell erleuchtet.

Fabel erkannte Jens Markull sofort. Der Kommandeur saß an einem großen Schreibtisch und starrte Fabel an, doch er konnte niemanden sehen. Eine Seite seines Schädels war zertrümmert, und in seinen dunklen Locken klebten dunkelrotes Blut und Hirnmasse. Er schien ermordet und dann in seinem Sessel aufgerichtet worden zu sein.

In der Mitte des Zimmers stand eine Frau. Fabel erkannte auch sie sofort. Sie trug das gleiche graue Geschäftskostüm wie an jenem Abend, an dem sie im Hafen auf ihn zugekommen war und sich als eine bereits tote Frau ausgegeben hatte.

»Rühren Sie sich nicht von der Stelle!« Fabel zielte mit seiner SIG-Sauer auf die Frau, deren Miene keine Spur von Unruhe oder Aggression oder Furcht aufwies. Sie blieb einfach mitten im Raum stehen und betrachtete Fabel mit Augen, die fast so tot wie die Markulls waren. Sie hatte etwas in der Hand. Keine Waffe. Etwas Kleineres. Wie eine TV-Fernbedienung.

Plötzlich packte der MEK-Beamte neben Fabel den Kragen seiner Kevlar-Weste und riss ihn aus dem Türrahmen und zurück auf den Treppenabsatz. Fabel wollte protestieren, doch dann hörte er, wie der MEK-Beamte Hermann und allen anderen, die ihn hören konnten, zurief: »Bombe!«

Die drei Polizisten hatten erst die Hälfte der Treppe hinter sich, als die Bombe explodierte. Fabel schien es, als hätte ihm etwas Heißes und Scharfes ins linke Ohr gestochen und als wäre die Welt unter seinen Füßen verschwunden.

Fabel, Henk und der MEK-Mann stürzten mit der zerborstenen Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Plötzlich merkte er, dass Werner und dann Anna sich über ihn beugten. Es war, als hätte ihm jemand mit einer schrillen Pfeife ins Ohr geblasen und als stockte ihm der Atem. Davon abgesehen schienen die beiden anderen und er unverletzt zu sein.

»Besten Dank«, sagte er zu dem jungen MEK-Beamten, nachdem man ihnen auf die Beine geholfen hatte.

»Wir müssen hier raus«, erwiderte der junge Mann. »Es könnte noch andere Vorrichtungen geben, und wir brauchen das Entschärfungskommando. Alle müssen das Gebäude verlassen.«

»Natürlich«, stimmte Fabel zu, obwohl er sich sicher war, dass keine weiteren Bomben in dem besetzten Haus sein würden. Das Gerät im ersten Stock war gerade groß genug gewesen, um seine Aufgabe zu erfüllen: die gesamte Computeranlage und alle darauf gespeicherten Daten zu zerstören.

Auf dem Weg nach draußen sah Fabel das Gesicht der jungen Frau, die die Bombe ausgelöst hatte, vor sich. Sie war nicht hierhergekommen, um zu sterben.

»Ich nehme den Linsenwitz zurück«, sagte Anna, als sie in sicherer Entfernung von dem Gebäude waren. Schwarzer Rauch quoll aus der ersten Etage. Wahrscheinlich hatte die Bombe einen zusätzlichen Brandsatz enthalten. »Ist wirklich alles in Ordnung?«

»Ich werde mich untersuchen lassen.«

»Mein Gott, Jan. Eine Selbstmordattentäterin. Diese Leute sind genauso schlimm wie radikale Islamisten.«

»Es war nicht als Selbstmordanschlag gedacht, Anna. Derselben Frau bin ich schon im Hafen begegnet, und sie sollte nicht sterben, sondern Markull zum Schweigen bringen … und Beweismaterial vernichten. Danach hätte sie verschwinden und die Bombe aus der Entfernung hochgehen lassen sollen.« Fabel drückte vorsichtig die Finger ans Ohr und musterte dann seine Fingerspitzen. Kein Blut. Sein Ohr war unversehrt.

»Du hättest die Hardware in dem Zimmer sehen sollen«, sagte er. »Ein mickriger Verein wie die Beschützer Gaias hätte sich so etwas niemals leisten können. Markull hatte einen Hintermann, der die Partnerschaft auflösen wollte. Vermutlich hat sie ihm den Schädel zertrümmert und ihn danach wieder aufgerichtet, damit es so aussah, als stammten seine Verletzungen von der Bombenexplosion. Man wollte den Eindruck erwecken, dass die zunehmend aggressiven Beschützer Gaias beschlossen hatten, Bomben herzustellen, und dass Markull eine unbeabsichtigt hatte hochgehen lassen.«

Fabel musterte das brennende Gebäude einen Moment lang.

»Ruf das Team wieder zusammen.« Seine Stimme war hart. Entschlossen. »Wir können uns dadurch nicht zurückhalten lassen.«

»Wir gehen vor wie geplant?«, fragte Werner.

»Ja. Jetzt ist der Pharos dran.«

 

Fabel wusste, dass sie lange im Voraus entdeckt werden würden. Es gab nur zwei Möglichkeiten, sich dem Pharos zu nähern: über den Fluss und über die Uferstraße. Beide boten keine Deckung, und man würde die Polizisten bereits aus einem halben Kilometer Entfernung erspähen. Dies war eine Razzia, bei der es in erster Linie auf Geschwindigkeit ankam; mit jeder Sekunde würden mehr Daten verloren gehen, was bedeutete, dass man dem Gericht weniger Beweise vorlegen konnte.

Er hatte die Teams detailliert vorbereitet, aber seit der verpfuschten Erstürmung des Hauses der Beschützer war viel Zeit verstrichen, und Fabel fürchtete, dass man im Pharos nun mit einer Razzia rechnete. Seine eigenen Mitarbeiter wurden von MEK-Beamten sowohl der Polizei Hamburg als auch der Polizei Niedersachsen unterstützt. Die Hafenpolizei führte den Ansturm vom Wasser her. Fabel hatte keinen Grund zu der Annahme, dass sie auf Widerstand stoßen würden, und nichts deutete darauf hin, dass die sogenannten Konsolidierer, die für die Sicherheit zuständig waren, bewaffnet sein würden. Trotzdem hatte er auf den Einsatzbesprechungen darauf hingewiesen, dass die jüngere Geschichte voll von Sekten war, die auf Mord in Form von Selbstmord zurückgriffen. Er wollte auf keinen Fall, dass diese Aktion zu einem deutschen Waco wurde.

Menke war mit seinem gesamten auf das Pharos-Projekt angesetzten Ermittlerteam erschienen, und Fabel hatte sogar Kroeger und andere Mitglieder des IT-Teams herangezogen. Sie hatten die Aufgabe, so rasch wie möglich alle verfügbaren Daten zu sichern. Fabel wusste, dass das Pharos-Projekt irgendeine Selbstzerstörungs-Software für genau solch eine Situation besitzen würde.

Fabel, Werner und Brüggemann gingen an Bord des ersten Bootes der Hafenpolizei. Es war ein Festrumpf-Schlauchboot, das, den Bug aus dem Wasser hebend, durch den Fluss jagte und über jedes Kräuseln einer Welle hinweghüpfte. Die Flottille blieb dicht am Ufer, um den Augenblick der Entdeckung so lange wie möglich hinauszuzögern.

»Alles klar, Jan?«, rief Werner über das Heulen des Motors hinweg. Fabel, die Kiefer starr zusammengebissen, saß geduckt da und hielt sich an den Seiten seines Sitzes fest.

»Natürlich. Nur mit dem Wasser habe ich Schwierigkeiten.«

Der Pharos war von der Flussseite her noch beeindruckender. Das Boot schob sich in einem kleinen Bogen in den Fluss vor und jagte zwischen zwei der zwölf Stützpfeiler und unter der auf das Wasser hinausragenden Etage hindurch, auf der Peter Wiegand sein Büro hatte.

In der Mitte, im Schutz des Gebäudes, befand sich eine Anlegestelle. Zwei Konsolidierer in grauen Anzügen beobachteten die sich nähernden Polizeiboote. Einer der beiden führte ein Gespräch, aber nicht mit seinem Gefährten, und Fabel vermutete, dass ihre Ankunft im Hauptgebäude gemeldet wurde.

An der Anlegestelle erhielt Fabel eine Funknachricht von Anna: Ihr Team hatte das Haupttor passiert und war zum Vordereingang unterwegs.

Die MEK-Beamten sicherten die Anlegestelle. Sie zwangen die Konsolidierer, sich umzudrehen und sich an die Wand zu stützen, um sie nach Waffen zu durchsuchen. Nichts.

»Das bedeutet nicht, dass die anderen unbewaffnet sind«, sagte Fabel. »Geht kein Risiko ein.«

Polizeirazzien sind durch eine gezügelte Gewalt gekennzeichnet, die Dominanz und Kontrolle herstellen soll. Für unbeteiligte Zuschauer, die darin verwickelt werden, ist es eine traumatische Erfahrung. Doch während Fabel und seine Leute durch das Gebäude rannten und jeden Konsolidierer, dem sie begegneten, überwältigten, sahen die Sektenmitglieder völlig passiv zu, wie die Polizisten von Raum zu Raum vordrangen. Es kam zu keiner Panik. Am meisten beunruhigte Fabel, dass niemand über einen Bildschirm gebeugt dasaß und sich verzweifelt bemühte, Daten zu löschen.

Peter Wiegand wartete wie bei ihrem letzten Gespräch in seinem Büro auf sie. Er saß mit bemühtem Gleichmut an seinem riesigen Schreibtisch. Sein Sicherheitschef, Frank Bädorf, stand mit verschränkten Armen neben ihm wie ein Butler, der auf Anweisungen wartete.

»Ich nehme an, Sie möchten die Unterredung führen, die Sie bei Ihrem letzten Besuch erwähnt haben, Herr Fabel«, sagte Wiegand mit einem schwachen, höflichen Lächeln; es deutete an, dass er Fabel für ein wenig ermüdend hielt. »Die in Ihrem Büro …«

 

Obwohl er sich nun in einem Vernehmungszimmer im Präsidium der Polizei Hamburg befand, gelang es Peter Wiegand irgendwie, Autorität auszustrahlen und als Beherrscher seiner Umgebung zu erscheinen. Er saß gefasst und gepflegt wie immer auf seinem Stuhl. Wiegands Gepflegtheit ging weit über seine maßgeschneiderte Kleidung hinaus. Sein Bart war makellos gestutzt, sein geschorener Kopf glänzte. Er war ein recht kleiner, untersetzter Mann, doch er wirkte kompakt und bewegte sich mit körperlicher Gewandtheit.

Neben Wiegand saß eine attraktive Frau von Anfang vierzig. Sie hatte dunkelblonde, zu einer Hochsteckfrisur gebändigte Haare und trug ein Geschäftskostüm, das bestimmt keine einzige synthetische Faser enthielt und wahrscheinlich mehr gekostet hatte, als Fabel in einem Monat verdiente. Er erkannte Amelie Harmsen auf den ersten Blick, obwohl sie keine Anwältin war, der er häufig begegnete. Sie gehörte zur Anwaltsprominenz der Hansestadt und war bekannter für die Höhe des Schadenersatzes, den sie für ihre berühmten Mandanten erstritt, als für ihr Auftreten in Strafprozessen. Harmsen war unzweifelhaft kein indoktriniertes Mitglied des Pharos-Projekts und vertrat Wiegand den Milliardär, nicht Wiegand den Sektenführer.

»Ich möchte wissen, wie lange Sie meinen Mandanten festhalten wollen, Leitender Hauptkommissar«, begann Harmsen. »Und wenn Sie etwas haben, das Sie Herrn Wiegand anlasten wollen, dann möchte ich es hören. Auf der Stelle.«

»Genau wie ich, Herr Fabel«, setzte Wiegand mit derselben Andeutung gelangweilten Desinteresses hinzu.

Fabel lächelte höflich. Werner reichte ihm eine Akte, die er gerade vor sich auf den Tisch legte und durchzublättern begann.

»Das ist eine sehr interessante Lektüre«, sagte er im Plauderton. »Wussten Sie, dass Daniel Föttinger an der Hamburger Universität Philosophie studiert hat?«

»Nein, Herr Fabel.«

»Wirklich nicht? Ich dachte, dass Sie und er über solche Dinge gesprochen hätten. Schließlich befasst sich das Pharos-Projekt stark mit der Philosophie des Geistes, oder nicht?«

Wiegand schwieg, ohne seine kalten, verachtungsvollen Augen von Fabel abzuwenden.

»Er hat sich im Studium nicht ausgezeichnet«, fuhr Fabel fort. »Nach meinen Informationen hatte er eine Neigung, sich zu sehr auf einen bestimmten Aspekt der Philosophie zu fixieren. Fast zwanghaft. Anscheinend mangelte es ihm an geistiger Disziplin. Nicht genug Präzision. Seine Seminararbeiten galten als flüchtig und zu schlecht recherchiert. Zum Beispiel folgende: Geplant war eine allgemeine Untersuchung von Platos Theorie der Formen, doch was herauskam, war ein sehr abschweifendes Referat über die platonische Nachahmung.« Fabel blätterte weiter. »Wirklich interessant wird es, als er die Qualia erörtert. Ich bin kein Philosoph, aber die Qualia scheinen mir unsere Sinneserfahrungen der Welt zu sein, die Wahrnehmung unserer Umwelt.«

»Fällt auch Überdruss unter diese Beschreibung, Herr Fabel?«, fragte Wiegand matt. »Ich hoffe sehr, dass Sie irgendwann zur Sache kommen werden.«

»Nun, ich glaube, dass Daniel Föttingers Persönlichkeit durch diese Aufzeichnungen offenbar wird. Schließlich geht es in der Philosophie darum, welche Erkenntnisse sich aus den Welterfahrungen eines Individuums ableiten lassen. Föttinger war an einer sehr spezifischen Idee interessiert, die mit den Qualia zusammenhängt: dem Konzept des ›philosophischen Zombies‹. Es ist die in manchen Bereichen der Philosophie vertretene Vorstellung, dass nur eine Minderheit aller Menschen auf der Welt real seien. Einige Menschen – die meisten sogar – würden im wahrsten Sinne des Wortes überhaupt nicht existieren. Sie reagieren wie erwartet auf Stimuli, indem sie Gefühle wie Sorge, Schmerz, Zorn oder Liebe zum Ausdruck bringen, aber in Wahrheit fühlen sie diese Dinge nicht wirklich, weil sie keine reale Empfindung besitzen.«

»Soll heißen?«, fragte Wiegands Anwältin.

»Einfach nur, dass diese Aufzeichnungen erkennen lassen, wie besessen Daniel Föttinger von dem Konzept war. Inzwischen habe ich mit etlichen Leuten über Herrn Föttinger gesprochen und einen gewissen Einblick in seine Persönlichkeit gewonnen. Und ich muss sagen, dass es keine sehr erfreuliche Persönlichkeit ist. Meiner Meinung nach war er schon als Student von solchen Ideen besessen, weil sie recht gut zu seiner Welterfahrung passten.«

»Welcher denn?«, fragte Wiegand.

»Der Erfahrung, dass es im Grunde auf andere Menschen nicht ankam. Daniel Föttinger fehlte jegliches Mitgefühl. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass andere ein ähnliches Bewusstsein wie er hatten.« Fabel schloss die Akte. »Daniel Föttinger war unzweifelhaft ein Soziopath.«

»Und was hat das mit meinem Mandanten zu tun?«, erkundigte sich Harmsen.

»Darauf komme ich gleich. Soziopathie als Persönlichkeitsstörung ist viel häufiger, als man denken sollte. Eine leicht soziopathische Persönlichkeit kann in der Unternehmenswelt sogar ein Vorteil sein; der ›rücksichtslose Geschäftsmann‹ ist sehr häufig jemand, der sich äußerst egozentrisch verhält und die Gefühle anderer missachtet. Daniel Föttinger war mit Sicherheit ein solcher Geschäftsmann, wie anscheinend auch sein Vater vor ihm. Daniel muss Ihnen als idealer Kandidat für das Pharos-Projekt erschienen sein. Sie hatten schon seine vermögende Frau rekrutiert, und es war erforderlich, in einem nächsten Schritt Föttingers Firma mit dem Korn-Pharos-Konzern in Einklang zu bringen. Wahrscheinlich hatten sie geplant, ihn zunächst einer gründlichen Gehirnwäsche zu unterziehen, bevor Föttinger Environmental Technologies vom Korn-Konzern übernommen wurde.«

»Ich begreife immer noch nicht …«, begann Wiegands Anwältin.

»Ihre Gehirnwäsche-Methoden fingen an, bei Föttinger zu wirken, hauptsächlich weil das Konzept einer virtuellen, mit ichbewussten Programmen bevölkerten Welt zu seinen verdrehten Ideen passte. Aber er störte Sie auch, nicht wahr, Herr Wiegand? Wahrscheinlich wurde sein Verhalten zunehmend unberechenbar. Außerdem stießen Sie vielleicht auf Probleme wegen seines Umgangs mit den weiblichen Mitgliedern Ihrer kleinen Gruppe.« Fabel unterbrach sich. »Was also hat das mit Ihnen zu tun, Herr Wiegand? Ich werde es Ihnen sagen. Eine junge Umweltschützerin und Webjournalistin, die sich Meliha Yazar nannte, drang in Ihre Organisation ein. Irgendwie verschaffte sie sich Zugang zu den tiefsten Ebenen des Projekts und entdeckte etwas Folgenreiches. So folgenreich, dass es zum Zusammenbruch des Projekts führen konnte. Und weil sie dieses Wissen erworben hatte, ließen Sie Meliha Yazar umbringen. Dann ließen Sie auch Berthold Müller-Voigt, ihren Liebhaber, ermorden, weil Sie dachten, sie habe die Information an ihn weitergegeben. Sie haben sogar angeordnet, dass ich von einem Pier in die Elbe gestoßen wurde, weil Sie dachten, dass ich der Wahrheit nahekäme, was zutraf.«

»Sie werden uns doch sicher noch darüber aufklären?«, fragte Wiegand. Offensichtlich fühlte sich der Milliardär nicht bedroht. Er wusste, dass es die eine Sache war, einen Verdacht zu äußern, und eine ganz andere, ihn dann auch gerichtstauglich zu belegen. Seine Anwältin schwieg.

»Lassen Sie uns als Erstes über den Tod von Daniel Föttinger reden. Auch den haben Sie arrangiert. In Wirklichkeit steuern Ihre Konsolidierer die Beschützer Gaias, und Sie haben den armen, verwirrten Niels Freese benutzt, um Föttinger ermorden zu lassen.«

»Und warum sollte mein Mandant so etwas tun?«, erkundigte sich Harmsen.

»Wegen des großen Geheimnisses, das Meliha Yazar entdeckte und dessen Veröffentlichung Herr Wiegand mit allen Kräften verhindern wollte.«

»Und worin besteht dieses ›große Geheimnis‹?«

»In der Tatsache, dass Daniel Föttinger der Network-Killer war.«

Es kam zu einer Pause. An Wiegands Gesicht ließ sich nichts ablesen, doch die Anwältin schien an Selbstsicherheit verloren zu haben.

Fabel wandte sich wieder an Wiegand. »Während Föttinger immer stärker von Ihren verrückten Ideen angezogen wurde – Ideen, die seine Erfahrung, genau wie die von Niels Freese, plausibel machten –, geriet er völlig außer Kontrolle. Er verbrachte bis zu sechs Stunden pro Nacht damit, Virtual Dimension zu besuchen und ein Ersatzleben zu führen, das zunehmend auf die reale Welt übergriff. Er verabredete sich online mit Frauen, vergewaltigte und erwürgte sie, um dann ihre Leichen in die Wasserstraßen der Stadt zu werfen. Sie wussten Bescheid, konnten ihn aber nicht bremsen. Wahrscheinlich fanden Sie es erst heraus, nachdem Sie Meliha Yazar gefangen hatten. Habe ich recht?«

Wiegand blieb teilnahmslos und stumm.

»Also führten Ihre Konsolidierer eine Säuberungsaktion durch«, fuhr Fabel fort, »indem sie alle Spuren der Onlinekontakte von Föttinger mit Julia Henning und den anderen Opfern löschten. Sie ließen die Leiche von Frau Henning sogar bis nach Föttingers Tod kalt lagern, damit er nicht mit den Morden in Verbindung gebracht wurde.«

Nach einem weiteren kurzen Schweigen brach Wiegand in Gelächter aus. Seine Anwältin verzog jedoch keine Miene.

»Wissen Sie was, Herr Fabel?« Wiegand beugte sich vor; sein glatt rasierter Schädel glänzte im künstlichen Licht des Vernehmungszimmers, und seine Augen funkelten kalt. »Sie sind derjenige, der mit der Realität nicht fertig wird. All das ist absurd. Pure Fantasie.«

»Wirklich? Jedenfalls war die Sache sehr peinlich für Sie, denn Sie hatten Föttingers Bewusstsein ein bisschen zu gründlich und zu schnell manipuliert. Er besaß soziopathische Tendenzen, die aber nicht sofort ins Auge sprangen und die eine nicht unerwünschte Rücksichtslosigkeit im Geschäftsleben bewirkten. Allerdings wussten Sie nicht, dass er mehrere Male sexuellen Missbrauch begangen hatte, die sein Papa durch Einwirkung auf die Opfer vertuschte. Ihre verrückten Theorien bestärkten ihn in seinem Überlegenheitsgefühl und seinem Glauben, dass manche Mitbürger keine realen Menschen seien; dass dies hier vielleicht gar keine Realität, sondern eine Art Simulation, ein Spiel sei. Er könnte sich eingeredet haben, dass die Frauen, die er vergewaltigte und erwürgte, gar nicht spürten, was er ihnen antat. Weil sie philosophische Zombies waren, die man lediglich darauf programmiert hatte, Angst und Schmerz vorzutäuschen.«

»Haben Sie konkrete Beweise für Ihre Behauptungen?«, fragte Harmsen.

»Das war der Zweck der Razzien von heute Morgen. Die erste brachte wenig. Im Hauptquartier der Beschützer Gaias war eine junge Frau – dieselbe junge Frau, die versucht hatte, mich zu belasten, indem sie sich als Julia Henning ausgab, bevor die Leiche entdeckt wurde. Wie auch immer, sie war wie eine Ihrer Konsolidiererinnen gekleidet, und sie ließ eine Bombe explodieren, durch die sämtliche Daten vernichtet wurden. Sich selbst vernichtete sie dabei auch. Aber wir haben Material vom Pharos, und die Technische Abteilung analysiert es im Moment gerade. Ich fürchte, Sie werden bei uns zu Gast bleiben müssen, bis die Techniker fertig sind.«

»Dann man viel Glück«, entgegnete Wiegand. »Denn wenn Sie nichts finden, womit Sie Ihre unerhörten Behauptungen untermauern können, werde ich ein sehr langes Gespräch mit Frau Harmsen über unsere Möglichkeiten führen.«

 

Fabel unterbrach die Vernehmung und kehrte in sein Büro zurück. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und starrte geistesabwesend auf die drei Bücher, die Anna für ihn hingelegt hatte. Es waren die drei Romane von Meliha Kebirs Nachttisch: 1984, Der stumme Frühling, Der Richter und sein Henker.

Werner kam herein und ließ sich auf den Sessel Fabel gegenüber sacken.

»Wir sind am Arsch, oder?«

»Insgesamt scheint das die Situation ganz gut zusammenzufassen. Wir werden ihn über Nacht hier festhalten und hoffen, dass die Techniker etwas aufspüren. Was haben Anna und Henk bei Bädorf erreicht?«

»Überhaupt nichts. Bädorf hat den Mund nur aufgemacht, um zu verlangen, dass jemand Beweise gegen ihn vorlegt. Die sind ganz schön selbstbewusst, Jan. Übrigens, im zweiten Stock des Pharos gibt es eine vollständige ›Klinik‹. Die Kollegen, die die Durchsuchung gemacht haben, berichten, dass die Pharos-Mitglieder, nach der Größe der Klinik zu urteilen, entweder sehr unfallgefährdet oder ziemlich krank sein müssen.«

»Auch einen Operationssaal?«

»Es sieht so aus, als hätten sie einen gehabt, aber als sei der demontiert worden. Wiederum kein Material, das wir vor Gericht verwenden können. – Willst du deine Literaturkenntnisse auffrischen?« Er nickte zu den Büchern auf dem Schreibtisch hinüber.

»Meinst du, dass man auf Träume hören sollte?«, fragte Fabel.

Werner legte die Stirn in Falten. »Ist alles okay mit dir, Jan?«

»Ich habe wieder von Paul Lindemann geträumt. Er hat mir geraten, an diese Bücher zu denken.«

»Nein, Jan«, sagte Werner. »Du hast dich selbst aufgefordert, an die Bücher zu denken. So funktionieren Träume. Die Menschen in ihnen sind nämlich nicht real. Sie erscheinen nur, um uns etwas mitzuteilen, das wir schon wissen; etwas, das irgendwo in unserem Unterbewusstsein – oder was weiß ich, wo – verborgen ist.«

»Das ist mir klar, Werner. Aber es ist merkwürdig. Als wäre es wirklich Paul gewesen.«

Jemand klopfte. Kroeger steckte den Kopf zur Tür herein und fragte, ob er sich zu ihnen setzen dürfe.

»Also?«, fragte Fabel, nachdem der Beamte von der Arbeitsgruppe Cyberverbrechen neben Werner Platz genommen hatte.

»Bis jetzt nichts. Ein halbes Dutzend meiner besten Leute sind draußen im Pharos und gehen sämtliche Dateien durch. Außerdem habe ich etliche Computer hierher bringen lassen. Wir haben uns, wie Sie wollten, auf Wiegands und Bädorfs Computer konzentriert, dazu auf die des Konsolidierungs- und Vollstreckungsbüros, aber wir sind nicht fündig geworden. Tut mir leid.«

»Das heißt, sie haben jegliches Belastungsmaterial gelöscht, als sie uns kommen sahen?«

»Ehrlich gesagt, das weiß ich nicht.« Kroegers langes Gesicht sah noch grimmiger und grauer aus als sonst. »Leider. Normalerweise können wir feststellen, ob Daten gelöscht worden sind, und in den meisten Fällen – es sei denn, die Festplatte ist beschädigt, also physisch zerstört worden –, können wir die Dateien wiederherstellen. Aber es wirkt nicht so, als hätten sie die Dinge, die wir suchen, beseitigt. Eher hat es den Anschein, dass diese Dinge von Anfang an gar nicht da waren.«

»Ich kann nicht glauben, dass absolut nichts auf ihrem Hauptcomputer – oder wie immer man ihn nennt – zu finden ist.« Fabels Frustration schlug in Ärger um. »Ich dachte, Sie und Ihre Geeks seien die Besten auf Ihrem Gebiet. Aber nun scheinen Sie auf einen überlegenen Gegner gestoßen zu sein. Die Leute vom Pharos-Projekt sind Ihnen einfach über und haben Sie ausgetrickst.«

Kroeger schien über Fabels Worte nachzudenken. Nichts deutete darauf hin, dass er sich gekränkt fühlte.

»Nein …«, sagte er sinnend. »Nein, ich glaube nicht, dass sie uns über sind. Wir hätten etwas finden müssen, denn man kann nicht alle Spuren früherer Daten auf einem Computer beseitigen. Das einzig Ungewöhnliche besteht darin, dass viele Daten in den letzten Stunden aktualisiert worden sind. Neue Dateien. Und bei manchen hat man den Zeitpunkt des Updates verfälscht. Es ist ähnlich wie die Sache mit Ihrem Handy.«

»Was meinen Sie damit?«, fragte Werner.

»Wir suchen noch nach einer Erklärung.« Kroegers hohe Stirn legte sich in Falten. »Aber vielleicht ist die Sache viel einfacher. Vielleicht hat das Pharos-Projekt seine Datenträger beseitigt. Mehrere der von uns untersuchten Computer sind wahrscheinlich von anderswo herbeigeschafft worden, oder man hat die Festplatten ausgetauscht. Die ursprünglichen Festplatten liegen auf dem Boden der Elbe oder sind geschreddert worden. Das würde erklären, warum so viele neue Dateien auf einigen der zentralen Rechner zu finden sind, besonders im Konsolidierungs- und Vollstreckungsbüro. Der dortige Server scheint nagelneu zu sein. Vermutlich hat man Computer von anderen Standorten herkommen lassen, harmlose Daten draufgeladen und dann einige Pharos-Details hinzugefügt, um den Eindruck zu erwecken, dass sie schon seit Monaten dort stehen.«

»Was hat das mit meinem Handy zu tun?«

»Wahrscheinlich sind sie dabei genauso vorgegangen. Das Telefon, das wir untersucht haben, ist gar nicht Ihres, sondern ein Ersatz. Ein Klon. Und Ihr Netzwerk ist nicht Ihr Netwerk. Die Leute haben alles fingiert, und Sie waren mit ihrem Netz verbunden, so dass sie Sie unablässig überwachen konnten.«

Fabel überlegte sich Kroegers Worte. »Soll das heißen, dass Sie nichts in deren System aufspüren werden? Wiegand kommt ungeschoren davon, wenn Sie nichts finden, Herr Kroeger. Ist Ihnen das klar?«

»Ich kann nur finden, was vorhanden ist«, erwiderte Kroeger. »Außerdem glaube ich, dass wir zur falschen Zeit am falschen Ort suchen. Hätten wir nur Zugang zu dem Netz bekommen können, bevor sie die Festplatten ausgetauscht hatten … Wenn Sie recht haben und Meliha Yazar tatsächlich etwas über das Pharos-Projekt herausgefunden hat, dann müssen Sie es selbst finden, wenn es noch existiert.«

Nach einem hastigen Klopfen trat Anna ein.

»Entschuldige die Störung, Chef, aber ich habe etwas, das dich bestimmt interessieren wird.«

»Was denn?«

»Einen augenscheinlichen Selbstmord in Wilhelmsburg.«

»Und was macht ihn interessant?«

»Zwei Dinge. Erstens scheint der Selbstmörder einen Exit-Bag benutzt zu haben, genau wie der Mann im Rollstuhl, Johann Reisch. Zweitens besteht der Nachbar des Toten darauf, mit dir zu sprechen. Er hat deinen Namen genannt …«

 

»Das ist nicht die gleiche Situation«, sagte Fabel, sobald er die Wohnung betrat. »Wir müssen ein Spurensicherungsteam kommen lassen.«

Er ging hinüber zu der massigen Leiche, deren Oberkörper schlaff auf dem Computertisch lag. Aus der Entfernung hatte Fabel die Gestalt kaum als menschlich identifizieren können; sie war ihm nur als große, formlose dunkle Masse erschienen. Im Unterschied zu Reischs Exit-Bag, der mit Helium gefüllt gewesen war, lag dieser Plastikbeutel eng an dem Gesicht dieses Mannes, als wäre er angesaugt worden.

»Du glaubst nicht, dass dies ebenfalls Selbstmord war?«, fragte Anna, die Fabel begleitet hatte.

»Er hat einen Plastikbeutel über dem Kopf, aber der Heliumkanister – oder ein Behälter mit einem anderen Edelgas – fehlt. Dieser Mann hat im Sterben verzweifelt nach Atem gerungen. Es hätte kolossale Willenskraft gekostet, mit ungefesselten Händen dazusitzen und sich die Plastiktüte nicht abzureißen.«

»Er scheint mir nicht besonders willensstark gewesen zu sein«, meinte Anna ernst. »Schon gar nicht, wenn er Gebäck vor sich hatte. Jedenfalls ist er nicht an Magersucht gestorben …«

»Du hast ein Herz aus Gold, Kommissarin Wolff.«

»Wenn jemand hier ein Problem mit seinem Herzen hat, dann nicht ich. Wie viel könnte dieser Knabe gewogen haben?«

»Wer weiß. An die zweihundert Kilo.« Er zog die Augenbrauen hoch.

»Was ist los?«, fragte Anna.

»Siehst du diese riesige Computeranlage? Sie muss Tausende von Euros wert sein.«

»Ich vermute, dass er selten aus dem Haus ging«, sagte Anna.

»Nein, das genügt nicht als Erklärung. Diese ganze Ausstattung wirkt professionell. Irgendwie habe ich das dunkle Gefühl, dass auch dieser Fall etwas mit dem Pharos-Projekt zu tun hat.«

»Vielleicht ist es ein Zufall. Übrigens, glaubst du wirklich, dass Daniel Föttinger der Network-Killer war?«

»Davon bin ich überzeugt. Kroeger und seine Experten haben Föttingers Computer beschlagnahmt. Nicht, dass sie dort etwas finden werden, aber sie haben auch einen richterlichen Befehl, um auf die Unterlagen von seinem Internetanbieter und auf seine Handykonten zurückgreifen zu können. Mir fehlen zwar die Beweise, ich würde aber ein Jahresgehalt darauf wetten, dass kein neues Opfer mehr auftauchen wird.« Fabel wies auf den zusammengesackten Körper. »Was sagt der Gerichtsmediziner?«

»Dass er schon eine Weile tot ist und, nach den Geräten im Schlafzimmer und einigen der Medikamente zu schließen, offenbar unter Atembeschwerden litt. Es muss mit dem Plastikbeutel schnell und mühelos vonstatten gegangen sein. Vielleicht hatte er deshalb kein Helium.«

»Wo ist dieser Nachbar, der mich unbedingt sprechen wollte?«, fragte Fabel.

»Eine Etage tiefer.«

Jetmir Dallaku war aufgeregt und ungeduldig. Offenbar wartete er schon seit einiger Zeit auf Fabel.

»Sind Sie Leitender Hauptkommissar Jan Fabel von Polizei Hamburg?« Der kleine, drahtige Albaner sprach mit so ernster und formeller Stimme, dass Fabel ein Grinsen unterdrücken musste.

»Ja. Sie haben nach mir gefragt?«

»Sie haben Abzeichen? Ausweis? Mit Name drauf?«

Fabel warf der schmunzelnden Anna einen Blick zu, griff dann in seine Jacketttasche und hielt dem Mann seinen Polizeiausweis hin. Dallaku prüfte ihn aufmerksam.

»Herr Kraxner, von oben. Hat gewusst, dass jemand kommt und Böses tut.«

»Das hat er Ihnen mitgeteilt?«

»Ja. Hat gesagt, wenn Böses geschieht, ich soll sprechen mit Ihnen. Nur mit Ihnen. Und hat das hier gegeben …« Er zog einen sorgfältig gefalteten Umschlag aus der Tasche. »Herr Kraxner … er war trauriger Mann. Einsamer Mann. Warum ihm einer wehtut?«

Fabel betrachtete den Umschlag, auf dem sein eigener Name stand, und schaute dann zur Decke hinauf, als könne er in die Wohnung des Toten hineinblicken.

»Klabautermann …«

»Bitte?«, sagte Anna.

Fabel fuhr aus seinen Gedanken auf. »Sprich mit Kroeger. Ich habe mehr Arbeit für ihn. Er soll die gesamte Computeranlage oben aus der Wohnung holen und sie genauso gründlich überprüfen wie die Geräte vom Pharos-Projekt.«

»Er war der Anrufer? Der Mann, der dir etwas mitteilen wollte?«

Fabel senkte die Augen erneut auf den Umschlag in seiner Hand. »Ich glaube, er will es immer noch.«